Raúl Aguayo-Krauthausen's Blog, page 10
July 22, 2019
Newsletter: Nachruf auf Carrie Ann Lucas; Es gibt keine Barrierefreiheit, die Menschen ohne Behinderung je geschadet hat; Inklusion braucht Infrastruktur!
Auch heute gibt es wieder von mir handgepflückte Links aus aller Welt zu den Themen Inklusion und Innovation in meinem Newsletter.
Behindert zu sein ist auch Arbeit!
Wisst ihr, ich finde behindert zu sein ist auch Arbeit. Was ich alltäglich für mein Leben mit Behinderung alles tun muss, bezahlt mir niemand und Anerkennung gibt es wenig.
Es interessiert unseren Behördenstaat gar nicht, wie viel Aufwand es ist, dass ich immer wieder meine Behinderung nachweisen muss, als würde eine Spastik über Nacht verschwinden. Und so muss ich immer wieder Anträge stellen wegen der Assistenz, den Hilfeplan und Wochenplan schreiben, zum Beispiel wann ich aufstehe und meine Ziele für das Jahr festschreiben, als hätte ich kein Recht auf meine ganz eigenen persönlichen Ziele und Wünsche. Ich werde durch die Behörden überwacht und muss zum Beispiel die Kontoauszüge der letzten zwei Jahre kopieren und dem Amt offenlegen, als hätte ich ein Verbrechen begangen. Also telefoniere ich auch ständig mit den Behörden, lege Widersprüche gegen Leistungsbescheide ein und schalte auch mal Anwälte ein. Klar, wollen die wissen, ob ich mit den ganzen Pflegeleistungen gut umgehe. Also kommt alle drei Monate auch noch eine Pflegeberatung, die guckt ob ich geduscht bin.
Ich will nicht mehr so durchleuchtet werden! Wenn ich keine Leistungen beziehen würde, müsste ich das alles nicht machen. Ich wünsche mir, dass die Behörden anfangen mir zu vertrauen. Ich weiß, dass das schwierig ist, aber ich möchte, dass damit auch mal Schluss ist.
Darüber hinaus muss ich auch meine Assistenzsachen regeln, das kann mir ja keiner abnehmen. Ich muss mit dem Assistenzdienst reden, neue Assistent*Innen einstellen, Assistent*Innen kündigen, kurzfristig Springer*Innen einarbeiten.
Und all das noch nicht genug, muss ich gucken, dass alles Barrierefrei ist, wo auch immer ich hinrollen will. Ich muss mir Unterstützung für all das besorgen, und meinen Mitmenschen immer wieder erklären, dass ich gleichwertig wie ein Mensch ohne Behinderung bin. Und all das ist nicht mein Privatleben! In meinem Privatleben gehe ich mit meinen Freunden weg und schreibe Geschichten.
Ich würde mir wünschen, dass es für all diese Extra-Aufgaben für Menschen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft eine Aufwandsentschädigung gibt. Stattdessen wurde ich, wie viele andere, schon bei meiner Geburt als erwerbsunfähig eingestuft. Mir wurde nichts zugetraut und so wurde ich auch als geistig behindert beschult und die Lehrer hatten keine Zeit meine Stärken zu fördern. Was ich mir von der Gesellschaft wünschen würde, in der Zukunft, wäre, dass erst einmal genau hingeschaut wird, was für Fähigkeiten ein Mensch mitbringt. Ich wünsche mir, dass sich die Arbeits- und Schulwelt an diese Fähigkeiten anpasst, anstatt die Menschen in Raster zu pressen, denn dann hätten wir nämlich eine glücklichere Welt.
Ich habe mir meine eigenen Projekte aufgebaut, weil ich der Gesellschaft zeigen wollte, dass ich falsch eingeschätzt werde. Und ich liebe meine freiwillige Arbeit für die Welt. Ich finde meine Behinderung ist ein Geschenk vom Universum, denn so darf ich die Welt verändern, dass sie eine bessere wird, für alle Nachfahren.
Ohrenkuss… da rein, da raus
Ja, auch Menschen mit Down-Syndrom können lesen und schreiben. Das beweisen die 14 RedakteurInnen und über 50 Fern-KorrespondentInnen des Magazins Ohrenkuss seit über 20 Jahren. Alle Artikel werden von diesen AutorInnen mit Down-Syndrom verfasst und unzensiert im Magazin und im Blog veröffentlicht. Finanziert wird das Projekt durch Heftverkäufe, Abos, Lesungen und Spenden. Seit der Gründung wurde schon eine beeindruckende Reihe an Preisen verliehen, die auf der Webseite ohrenkuss.de einsehbar sind. Außerdem lässt sich hier neben dem Blog auch allerlei Anderes entdecken sowie alle Ausgaben des Magazins herunterladen.
July 20, 2019
Role Models: Carrie Ann Lucas

Dieses Jahr begann mit einem herben Verlust: Dem Tod der Behindertenrechtsaktivistin Carrie Ann Lucas.
Die US-amerikanische Anwältin und Mutter starb mit 47 Jahren. Und sie starb einen unnötigen Tod. Sie starb, weil es ihr so erging, wie weltweit den meisten Menschen mit Behinderung: Sie war ein lästiger Kostenfaktor.
Carrie Ann Lucas starb, weil die für sie lebenswichtigen Medikamente aus Kostengründen von ihrer Krankenversicherung verweigert wurden.
As disabled people, we are always addressing the issue of how society devalues our lives and experiences.
Carrie Ann Lucas
Ich muss zugeben, dass ich erst nach Carrie Ann Lucas’ Tod so richtig auf sie aufmerksam wurde. Ja, ich hatte zuvor von ihr gehört, hatte im Hinterkopf, dass sie Anwältin und Behindertenrechtsaktivistin war.
Ich wusste, dass sie als Juristin gegen die Diskriminierung behinderter Menschen immer wieder vor Gericht ging – unter anderem gegen Kmart – einen der größten Gerichtsprozesse, der sich gegen mangelnde Barrierefreiheit in der US-amerikanische Privatwirtschaft richtete.
Was sie in ihrem Leben alles bewegt und geschafft hatte, wurde mir allerdings erst bewusst, als ich mehrere Nachrufe über sie las.
Ich habe im deutschsprachigen Raum nichts über Carrie Ann Lucas gefunden, deshalb möchte ich hier an sie erinnern.
Carrie Ann Lucas’ Eltern waren einfache Leute, der Vater Soldat, die Mutter Verkäuferin – und das Geld war während ihrer Kindheit und Jugend immer knapp. Um ihr Studium finanzieren zu können, hatte sie oft drei Jobs gleichzeitig.
Carrie Ann Lucas arbeitete schon einige Zeit als Lehrerin, als sie erfuhr, dass ihre 9-jährige Nichte in Pflege gegeben wurde. Ihr Halbbruder und seine Familie waren nicht in der Lage, sich um das behinderte Mädchen zu kümmern. Kurzerhand bewarb sie sich als Pflegemutter für ihre Nichte – um nach einigem Hin und Her erfahren zu müssen, dass ihre Bewerbung aufgrund ihrer eigenen Behinderung abgelehnt worden war. Aber Carrie Ann Lucas ließ nicht locker, holte sich juristische Hilfe und kämpfte. Es dauerte eine Weile und es wurden ihr noch manche Steine in den Weg gelegt – aber schließlich konnte sie sich durchsetzen: Ihre Nichte wurde schließlich ihre Adoptivtochter.
Diese Erfahrung sollte ihr Leben verändern. Wild entschlossen begann sie erneut zu studieren – diesmal Jura. Sie wurde Anwältin und spezialisierte sich auf die Rechte von Eltern mit Behinderung. Sie gründete die Organisation “Disabled Parents Rights”, die behinderte Eltern und Kindern juristisch berät und unterstützt – und sich vor allem auf den Kampf gegen staatlichen Kindesentzug spezialisiert hat.
Ein großer juristischer Sieg war für die Anwältin, dass sie in Colorado eine Gesetzesänderung durchsetzen konnte, die nun festlegt, dass die Behinderung von Eltern juristisch nicht als Nachteil ausgelegt werden kann. Und dass staatlicher Kindesentzug oder die Ablehnung eines Adoptionsantrages nicht alleine durch die Behinderung eines Elternteils begründet sein darf: ”Family Preservation For Parents With Disability”.
Damit stärkte sie die Rechte von Eltern mit Behinderung in Colorado in nie dagewesener Weise und bewirkte, dass das Recht auf Familienleben nicht vom Faktor Behinderung abhängig sein darf.
Privat war für Carrie Ann Lucas der Wunsch nach einer eigenen Familie das Wichtigste – und so adoptierte sie drei weitere Kinder, alle mit Behinderungen: Asiza, Adrianne und Anthony.
Als Anwältin war ein weiterer Schwerpunkt ihrer Arbeit die Bekämpfung der Sterbehilfe-Legalisierung. Zu oft hatte sie erlebt, dass Menschen mit Behinderungen gedrängt wurden, ihr Leben zu beenden – in einer Gesellschaft, die öffentlich und scheinbar bedenkenlos den Wert behinderten Lebens anzweifelt.
Und schließlich kämpfte sie vor Gericht und als Aktivistin gegen Kürzungen im US-Gesundheitssystem, von denen insbesondere Menschen mit Behinderungen betroffen waren. Als Mitglied der Behindertenrechtsgruppe ADAPT, die in 30 US-amerikanischen Staaten aktiv ist, wurde sie einmal bei einer Sitzblockade gegen die von Republikanern geplanten Einsparungen im Gesundheitssektor festgenommen. Diese Festnahme wurde für die Polizist*innen komplizierter als üblich: Sie wollten von der Anwältin Anweisungen, wie man ihren elektrischen Rollstuhl bedient. “Googeln Sie doch die Gebrauchsanweisung”, schlug Carrie Ann Lucas vor. Es muss einen ziemlichen Aufruhr gegeben haben, weil zahlreiche Polizist*innen rätselten, wie man den Elektro-Rollstuhl in Bewegung setzen könnte, man hantierte an ihrem Beatmungsschlauch herum, zog Stecker und Kabel und drohte Carrie Ann Lucas, sie gegen ihren Willen aus ihrem Rollstuhl zu tragen. Der Joystick lag die ganze Zeit auf ihrem Schoß – unentdeckt von der aufgeregten Polizist*innenmenge.
Schließlich setzte die Anwältin dem absurden (und für sie auch nicht ungefährlichen) Treiben ein Ende, widersetzte sich nicht weiter der Festnahme, bestand aber darauf, dass ein Transportbus für behinderte Menschen geholt würde, mit dem sie sicher mitfahren könnte. Die Polizist*innen gaben nach, Carrie Ann Lucas steckte den Joystick zurück an den Rollstuhl und fuhr selbständig in den Bus. Allerdings kam die Anwältin dann doch nicht in den Arrest – wie die anderen Protestierenden. Denn irgendwie war den Zuständigen die streitwillige behinderte Frau mit kompliziertem Rollstuhl und künstlicher Beatmung dann doch nicht geheuer.
Carrie Ann Lucas wurde in Folge der Aktion unter anderem verklagt, weil sie sich geweigert hatte, den Politist*innen zu erklären, wie ihr Rollstuhl funktionierte.
Die Geschichte amüsiert mich, zeigt aber auch, was ich oft erlebt habe: Die Übergriffigkeiten auf behinderte Menschen. Wie oft schon wollten mich fremde Menschen schon aus Zügen oder Treppen hinauf tragen – mit und ohne E-Rollstuhl – obwohl ich vehement darauf hinwies, dass das lebensgefährlich für mich sei.
2018 bekam Carrie Ann Lucas eine Erkältung. Weil sie durch ihre fortschreitende Muskelerkrankung grundsätzlich auf ein künstliches Beatmungssystem angewiesen war, gab es bei Atemwegserkrankungen bei ihr immer die Gefahr von Komplikationen. Aus der Erkältung wurde eine Lungenentzündung – die notwendigen Medikamente verweigerte ihre Krankenversicherung aus Kostengründen. Die von der Krankenkasse bewilligten günstigeren Medikamente brachten kaum gesundheitliche Verbesserung – und so verbrachte Carrie Ann Lucas ihr letztes Lebensjahr immer wieder im Krankenhaus. Der letzte Eintrag in ihrem Blog berichtet davon.
Schließlich starb sie laut Angaben ihrer Partnerin Dr. Kimberley Jackson an einem Kreislaufstillstand infolge von weiteren Komplikationen der nicht ausgeheilten Lungenentzündung. Und wurde zum Opfer des Systems, das sie so unnachgiebig bekämpft hatte.
Wenn ich über Carrie Ann Lucas’ Leben schreibe, bin ich voller Bewunderung für ihre Hartnäckigkeit und ihren unbändigen Tatendrang.
Und ich möchte mich nicht an sie erinnern als den Menschen, der den Kampf gegen das US-Gesundheitssystem verlor – sondern die Macherin, Aktivistin, Kämpferin und liebevolle Mutter, die sie war.
Ich fühle mich an eine andere Juristin erinnert, die bis heute gegen Diskriminierungen kämpft und deren Leben in unzähligen Büchern und jüngst durch zwei Kinofilme geehrt wurde: Ruth Bader Ginsburg.
Ich hätte Carrie Ann Lucas und Ruth Bader Ginsburg gerne nebeneinander gesehen, diese beiden juristischen Pionierinnen und Kämpferinnen gegen Diskriminierungen.
Und ich wünsche mir eine Welt, in der auch eine starke Juristin mit Behinderung Kinosäle füllt.
Carrie Ann Lucas, dein Tod war so sinnlos – aber dein Leben machte über alle Maßen Sinn.
Du bist unvergessen – rest in power.
Dieser Artikel ist in Zusammenarbeit mit Suse Bauer erschienen.
July 19, 2019
Es gibt keine Barrierefreiheit, die Menschen ohne Behinderung je geschadet hat!
Ein alltägliches Bild: Menschen steigen aus der U-Bahn und gehen Richtung Rolltreppe. Wieso zur Rolltreppe, wenn doch daneben die Treppe liegt? Was haben Menschen, die Treppen gehen können, auf einer Rolltreppe zu suchen? Koffer, Fahrrad, Kinderwagen lassen sich auch mit Muskelkraft eine Treppe hoch- und runterwuchten, ein nach einem Sportunfall geschientes Bein ist noch kein Grund für Stillstand, und Bequemlichkeit schon gar nicht. Müssten Rolltreppen also nicht für Menschen mit Schwerbehindertenausweis reserviert bleiben?
Warum haben öffentliche Verkehrsmittel überhaupt Sitze? Warum essen Restaurantgäste nicht an Stehtischen? Menschen können bequem sein oder müde – als „behindert“ gelten sie deswegen nicht. Ein paar wenige Sitzplätze für Menschen mit ausgewiesener Gehbehinderung würden doch genügen. Klingt komisch?
Seltsamerweise wird beim Bau von barrierefreien Zugängen in erster Linie an Menschen mit möglichst angeborenen Behinderungen gedacht und in zweiter Linie: Lohnt der Aufwand überhaupt für diese Minderheit? Doch sind die Rolltreppen, Aufzüge, Rampen, Rollbänder, breiten Türen, Ansagen und Untertitel erst einmal da, werden sie von allen gern genutzt. In Bahnen und Bussen sind nicht nur blinde Menschen dankbar für akustische Ansagen, sondern auch die, die an ihrem Tablet arbeiten, ein Buch oder auf ihrem Smartphone etwas lesen.
Und auf Netflix, zum Beispiel, sind Untertitel nicht nur Menschen mit bescheinigter Gehörlosigkeit oder Hörschwäche vorbehalten. Untertitel können genauso gut von Menschen zugeschaltet werden, die gerade keine Kopfhörer dabeihaben, aber nicht den ganzen Waggon mitunterhalten wollen oder von Menschen, die das englische Filmoriginal durch deutsche Untertitel ergänzen wollen.
An wen denken wir also, wenn wir von „barrierefrei“ sprechen? Die Frage ist falsch gestellt: Barrieren richten sich nicht gegen bestimmte Menschen, sondern gegen das Erreichen von Zielen. Es muss also heißen: An welche Einschränkungen denken wir beim Wort „barrierefrei“? Es sind die Einschränkungen durch angeborene Krankheiten, vorübergehende Krankheiten, Unfälle, hohes Alter, Kinder im Tragealter, durch momentane Müdigkeit, allzu menschliche Bequemlichkeit, durch Gepäck, Mobilitätsdruck, durch unseren ganzen normalen Alltag, kurz: die Einschränkungen jener Menschen, die nicht über den Dingen schweben können. Also aller Menschen.
July 15, 2019
Newsletter: Recht auf Zittern; Zur Metapher „auf dem rechten Auge blind“; Crowdsurfen mit Rollstuhl; „Ich bin nicht für eure Unsicherheit verantwortlich“
Auch heute gibt es wieder von mir handgepflückte Links aus aller Welt zu den Themen Inklusion und Innovation in meinem Newsletter.
Frei zum Abtauchen – Vielfalt in Geschichten
Eigentlich
keine große Überraschung: Disney verfilmt nach vielen Remakes nun auch „Arielle
– die Meerjungfrau“ neu. Der Aufreger für viele Menschen ist, dass diesmal die
Afro-amerikanische Schauspielerin Halle Bailey die Rolle der Arielle übernimmt.
So wird aus der weißen Märchenfigur eine Meerjungfrau mit dunkler Hautfarbe.
Mich
überrascht immer wieder die Vehemenz, mit der Menschen auf so eine vermeintlich
kleine Änderung reagieren. Natürlich lebt grade Disney von unserer Sehnsucht,
uns wieder in unsere Kindheit einzufühlen. Nostalgie verträgt erwartungsgemäß
nur wenig Veränderung. Rassismus darf aber nie die Antwort darauf sein. Hängt
unsere Kindheit wirklich an dem Aussehen einer Figur?
Solche Diskussionen zeigen mir, dass wir immer
noch ein großes Problem mit Vielfalt und Repräsentation haben – trotz aller
Absichtserklärungen, dass wir eine tolerante, bunte Gesellschaft sein wollen.
Solange Äußerlichkeiten in unserem Denken die Hauptrolle spielen, wird sich
Vielfalt und Inklusion immer fremd und aufgezwungen anfühlen. Ganz egal, ob es
dabei um Hautfarben, Identitäten oder Behinderungen geht.
Statt uns
also in heimische Kopfkino zurückzuziehen und dort immer den gleichen Film
anschauen, könnten wir uns genauso gut freuen: Wir dürfen die alten Geschichten
behalten, während die Vielfalt uns andere Blickwickel schenkt. Andere
Perspektiven, die uns bei neuen und bekannten Abenteuern begleiten. Wir müssen
nur frei genug sein, um abtauchen zu wollen.
Wir sind die Regisseure unseres eigenen Lebens

Gleiche Behinderung – gleiche Interessen?
Vor ein paar Wochen bin ich das erste Mal, nach 14 Jahren wieder zur Jahrestagung der Gesellschaft für Osteogenesis imperfecta (OI) Betroffene e.V. gefahren. Es gibt verschiedene Gründe, warum ich so lange nicht da war, einige Gründe sind beruflich, andere persönlich. Es sind vor allem die Erfahrungen, die ich in den letzten Jahren gesammelt habe, die mich dazu bewogen haben, mal wieder hin zu fahren. 2003, 2004 und 2005 war ich die letzten Male dort, damals war ich 23-25 Jahre alt. Irgendwann hat sich dann bei mir eine Lebensmittelpunkt-Verlagerung ergeben, sodass ich mich dann, gerade als junger Erwachsener, anderen Interessen gewidmet habe. Wenn meine Eltern gesagt haben “Lass’ uns mal wieder nach Duderstadt fahren”, dachte ich immer: “nur weil die da auch behindert sind, muss es ja nicht heißen, dass wir auch gemeinsame Hobbies haben.” Ich bin lange bei dieser Haltung geblieben, aber nach der Tagung in diesem Jahr habe ich diese revidiert.
Ich möchte den Eltern von Kindern und Jugendlichen sagen, dass es o.k. ist, wenn junge Leute mit Glasknochen eine Weile keine Lust auf die Gesellschaft von anderen Menschen mit Glasknochen haben. Nur weil jemand auch im Rollstuhl sitzt, heißt das nicht, dass der mein Freund werden muss. Das wäre so, als wenn man Kindern allgemein sagen würde:
“Schaut mal, dort drüben sind welche, die sind auch Kinder, ihr habt sicher gemeinsame Interessen.“
Ich hatte Freunde in Berlin und hatte nicht das Bedürfnis mich mit Menschen auszutauschen, die die gleiche Behinderung haben wie ich – dachte ich damals. In den letzten Jahren wurde mir bewusst, dass es auch einen sehr emotionalen Grund gab für meine langjährige Abwesenheit. Als Kind habe ich das gar nicht so realisiert, aber als Jugendlicher fing ich an, über mein eigenes Selbstbild nachzudenken. Ich merkte, dass es eigentlich immer ein Blick in den Spiegel ist, wenn man zur OI-Gesellschaft kommt; dass ich ein Gefühl hatte, wie „Ah, so sieht das bei mir aus!“ Als würde ich ständig in den Spiegel schauen. Das Gefühl hat mich verunsichert und ich habe sehr lange darüber nachgedacht. Einige Menschen mit Glasknochen haben mir bestätigt, dass sie auch das Gefühl hatten und manchmal jetzt immer noch haben. Ich glaube, dieses Gefühl ist Teil eines ganz wichtigen Erkenntnisprozesses in der Selbstfindung eines Menschen, der eine Behinderung hat. Als Elternteil sieht man das oft nicht und denkt: Es ist doch wichtig, dass sie sich miteinander austauschen. Aber wenn man ein Kind oder Teenager ist, sorry, dann will man nicht immer mit anderen darüber sprechen, wie man auf die Toilette geht.
Ich merkte, dass ich Zeit brauchte und ich möchte für die Kinder und Teenager sprechen, die heute nicht hier sind. Sie sind nicht verloren, sie sind auch keine Besserwisser, sie sind einfach in einer anderen Phase im Leben. Wir alle waren in der Pubertät, wir wissen wie Scheiße diese Phase sein kann. Das ist die Zeit, wenn die Eltern anstrengend werden und man seine Selbstständigkeit erprobt. Ich möchte eine Lanze für diese jungen Menschen brechen, zu denen ich gehörte. In den letzten Jahren bin ich aus einem anderen Grund nicht auf die Tagung gefahren, ich hatte einfach zu viel zu tun. Aber ich las und lese immer alle Informationen, die ich von der Gesellschaft bekam und bin dadurch gut informiert.
Ich habe alle Leute mit Glasknochen, die ich von früher noch kannte, gefragt: “seid ihr auch da?”. Alle haben verneint und waren ernsthaft erstaunt, dass ich hin fahre.
Und, was ist passiert? Ich hatte ein tolles Wochenende, mit ganz tollen Leuten. Wir haben viel geredet, aber nicht über Glasknochen. Ich glaube, auch das ist wichtig. Ich bekam in persönlichen Gesprächen ganz nebenbei diagnostische Geschichten mit, ohne dass ich oder meine Gesprächspartner*innen uns gleich selbst nackig machen mussten. Ich lernte, wo andere im Leben stehen. Es gibt viel Positives an den Tagungen.
Wir sind mehr als unsere Diagnosen…
Ich bin ein Freund des sozialen Modells von Behinderung und keiner vom medizinischen Modell. Bei den OI-Tagungen kommen wir regelmäßig in einen Konflikt deswegen. Auf der einen Seite geht es ganz stark um medizinische oder rehabilitationstechnische Fragen. Auf der anderen Seite haben wir auch großartige Persönlichkeiten, KünstlerInnen usw. in unseren Reihen, die in ihrem Beruf fantastisch sind, aber über die wir in Vorträgen wenig erfahren. Ich finde, darüber sollten wir uns mehr austauschen. Wir sind mehr als nur unsere Diagnosen. Wir brauchen Rollenbilder mit Behinderung, damit Eltern wie Kinder auch Perspektiven haben, was aus jemandem mit Glasknochen werden kann.
Eltern können nicht wissen, was später einmal aus ihren vier oder sechs-jährigen Kinder wird. Ganz egal welche Form von Glasknochen sie haben. Kinder zu sehr zu beschützen birgt auch die Gefahr, Entwicklungschancen zu nehmen. Als Elternteil kann man sein behindertes Kind nur begleiten und beraten. Durch schöne wie schwierige Phasen bei Einschulungen, Geburtstagen, Schmerzen, Operationen, und Krankenhausbesuchen.
Meine Mutter ist zwar selber Ärztin aber sogar sie war früher auf diesen Tagungen total verunsichert, denn dort sah sie Kinder mit OI die laufen konnten. Sie wusste nicht, ob ich nicht auch Nägel in die Knochen der Ober- und Unterarme und Ober- und Unterschenkel bekommen sollte. Ich war sechs oder sieben Jahre alt und konnte das alles natürlich nicht selber überblicken oder einschätzen. Meine Mutter hat dieses Thema sehr offen und ehrlich mit mir angesprochen: „Wir können auch bei Dir mal überlegen, ob wir deine Knochen mit Nägeln stärken. Wenn wir alles machen, also Arme und Beine, wirst du ein Jahr im Krankenhaus bleiben müssen. Das Ziel wird sein, dass du danach ein paar Schritte gehen kannst.“ Die Abwägung war also: Lebensqualität versus drei Schritte gehen können. Es war aber damals schon klar, dass ich immer Unterstützung in meinem Alltag brauchen werde und dass ein Jahr in der kurzen Kindheit eine sehr lange Zeit ist. Ich wäre wegen einer Operation vielleicht in der Schule sitzen geblieben und hätte meinen Freundeskreis verloren. Meine Mutter warf die Frage auf, ob sich so eine große Operation lohnen würde. Nach langer Überlegung haben wir dann nur die Oberschenkel machen lassen. Ein Oberschenkelbruch ist nämlich der schlimmste Bruch, den man mit Glasknochen haben kann – denn man kann dann nicht mehr sitzen. Ein Fußgänger, der nicht mehr laufen kann, der sitzt, aber ein Rollstuhlfahrer, der nicht mehr sitzen kann, der liegt. Das war also dann der Kompromiss, auf den wir uns geeinigt haben. Ich fand es großartig, dass meine Mutter so offen mit mir darüber gesprochen hat. Es war die einzige Operation, die meine Eltern bei mir haben machen lassen. Obwohl ich die anderen Operationen nicht gemacht habe, die mir vielleicht das Laufen ermöglicht hätten, habe ich trotzdem bisher ein ziemlich tolles Leben gelebt und werde das hoffentlich noch lange tun.
… wir sind Menschen!
Ich mache mir nicht ständig Gedanken darüber, dass ich Glasknochen habe. Es ist wichtig darüber nachzudenken, aber vier Tage im Jahr reichen mir dafür aus. Wir vergessen sonst das Menschliche und diskutieren zu viel über technische, medizinische und wissenschaftliche Veränderungen und Fortschritte.
Ich bekomme ständig YouTube Videos von treppensteigenden Rollstühlen zugeschickt. Ich hasse diese Rollstühle! Weil sie erstens sehr langsam sind, zweitens rückwärts fahren, drittens nur von der Unfallkasse und nicht von der Krankenkasse bezahlt werden, viertens, durch sie eine Zwei-Klassen-Gesellschaft geschaffen wird und fünftens wünsche ich mir Aufzüge und Rampen, sowie weniger Vorurteile. Nicht den treppensteigenden Rollstuhl! Das medizinische Modell von Behinderung, das hinter solchen Rollstühlen steckt, macht die Probleme der Behinderten zum individuellen Problem der Menschen, die behindert sind: “Weil Du keinen treppensteigenden Rollstuhl hast, hast du ein Problem.” Ich warne vor dieser Sichtweise! Barrierefreiheit ist die Verantwortung der gesamten Gesellschaft und wir müssen darauf beharren! Wir haben ein Problem, weil es keinen Aufzug gibt!
Ich war im letzten November in Nürnberg auf der ConSozial-Messe, eine Messe für Rehaträger und Pflegepersonal. Das Thema der Messe war Digitalisierung. Etwa 80 % der Stände behandelten das Thema, wie man mit digitalen Mitteln Patienten besser verwaltet und wie Kosten dadurch reduziert werden können. Es ging nicht darum, was Behinderte brauchen sondern nur darum, wie die Arbeit mit Behinderten leichter gemacht werden kann. Wir müssen kritisch bleiben und aufpassen, dass behinderte Menschen nicht zur Ware werden.
Fünfmal im Jahr lese ich Artikel, die behaupten, dass Querschnittlähmung bald behandelbar sein wird und demnächst eine vielversprechende Therapie kommt. Alle Menschen, die querschnittgelähmt sind, warten heute noch auf diese Therapie. Da wird eine Sensation verbreitet, die Hoffnung macht in Lebensphasen, die vielleicht gerade schwierig sind, nur um dann zu realisieren, da kommt doch nichts. Das kann großen Schaden anrichten und im Zweifelsfall Lebensentwürfe zerstören. Wir müssen vielmehr über die gegenwärtige Situation diskutieren; darüber was ein Mensch gerade braucht und nicht darüber, ob und wie etwas heilbar sein könnte. 97 % der Behinderungen werden im Laufe des Lebens erworben. Die Idee des Lebens ohne Behinderung gibt es, sie wird aber nicht dazu führen, dass es keine Behinderten mehr gibt. Das soziale Modell von Behinderung ist das, was mir am meisten zusagt und es ist das Modell, was wir am meisten verinnerlichen sollten.
Organisationen, wie die deutsche OI-Gesellschaft, haben die Chance, die Interessen der Menschen mit Glasknochen zu vertreten, auch die, die über ihre Diagnosen hinausgehen. Nicht nur die Interessen der Eltern, sondern vor allem die der Menschen mit Glasknochen! Es ist großartig, dass Menschen mit Behinderung im Vorstand der OI-Gesellschaft sitzen. Es gibt viele andere Verbände, da sitzen in den obersten drei Etagen nur nichtbehinderte Menschen. Schaut genau hin! Ist der Sozialverband um die Ecke wirklich der Träger, der uns vertritt? Diese Frage nach der Vertretung unserer Interessen zieht sich durch alle Lebensbereiche. Vernetzt euch mit anderen Organisationen von Menschen mit anderen Behinderungen. Denn von ihnen habe ich eine Menge gelernt. Wie man Assistenz beantragt, wie man einen Job findet, welche Rechte behinderte Menschen haben, wie man mit einem elektrischen Rollstuhl in ein Flugzeug steigt usw. Gemeinsam mit Andersbetroffenen können wir uns zusammentun und für eine barrierefreie Welt kämpfen.
Ein Schwank aus meiner Jugend
Ich war ein ziemlich durchschnittlicher Schüler auf einer Inklusionsschule, die nicht wusste, dass sie Inklusion macht. Man nannte es damals noch Integration. Es war eher ein Zufall, dass die Schule solch ein Konzept hatte. Ich hatte eine großartige Schulzeit. Ich bin in die Schule gegangen, um meine Freunde zu treffen und nicht um zu lernen. Wenn ich lernte, schrieb ich genauso gute oder schlechte Noten, wie wenn ich nicht lernte. Die logische Konsequenz war dann nicht zu lernen. Das heißt, ich hatte immer Dreien in der Schule. Das ist eine blöde Note, sie ist nicht gut und nicht schlecht und ich bin immer irgendwie unter dem Radar geflogen. Ich war eines Tages mit meiner Mutter in der Schule und sie fragte meinen Lehrer, wie ich in der Schule sei. Er musste erstmal nachschauen, bevor er eine Aussage treffen konnte. Das heißt, ich bin nicht aufgefallen durch gute oder schlechte Leistungen, sondern höchstens durch zu viel quatschen mit dem Sitznachbarn.
In der 9. Klasse habe ich dann zu meiner Mutter gesagt: „Ich habe keine Lust das Abitur zu machen. Es hat sich nicht gelohnt zu lernen und weitere vier Jahre in die Schule zu gehen, finde ich blöd“. Meine Mutter sagte: „Du musst kein Abitur machen“, was so viel hieß wie: jeder von uns hat Abitur gemacht, also streng dich gefälligst an! „Dachdecker kannst du aber auch nicht werden!“ Ich dachte nach: Dachdecker!? Ich mag diese pragmatische Art meiner Mutter. Ihre Worte haben drei Tage in mir gearbeitet. Dann dachte ich, Dachdecker wollte ich eh nicht werden. Also versuchte ich es mit dem Abitur.
Ich wollte früher immer Pilot von 747 Flugzeugen werden und meine Mutter fragte mich irgendwann: „Wie stellst Du dir das vor?“ Und ich sagte: „Wie immer: wenn ich lande, holst Du mich ab!“ Ein paar Tage später hat sie mir dann ein sehr dickes Buch geschenkt, wie man Pilot wird und da stand drin, dass man unglaublich viel lernen muss. Also habe ich den Entschluss gefasst, dass ich doch etwas anderes werden würde.
Ich wuchs in einem Umfeld auf, in dem ich nicht übertrieben beschützt wurde, aber mir wurde klar gemacht, was realistisch ist und was nicht. Es ist total wichtig, dass WIR selber diese Erfahrung machen, ohne dass uns im Vorfeld jemand versucht davon abzuhalten.
Es gibt etwas, was ich im Nachhinein wirklich bereue: Dass ich während meines Studiums kein Auslandssemester gemacht habe. Die Studienberatung meinte nämlich, dass das wegen der Versicherung nicht geht. Aber ganz ehrlich, wie viele Leute kommen mit Krankheiten oder gebrochenen Gliedmaßen von Auslandssemestern zurück und die Behandlung decken die Versicherungen auch ab? Davon auszugehen, dass Behinderung ein größerer Risikofaktor ist als sich eine Geschlechtskrankheit einzufangen und ich mit meinem Leben fahrlässig umgehe, ist unglaublich dreist! Dass die Studienberatung mir von einem Auslandssemester abgeraten hat, macht mich immer noch wütend.
Meine Mutter hat immer gesagt: „Mit 18 Jahren ziehst du aus“. Im Nachhinein war klar, was sie meinte. Nämlich, dass auch sie älter wird und dann nicht mehr für mich sorgen kann und möchte. Am Ende war es so, dass sie auszog. Weil die Wohnung barrierefrei war und mehr für mich geeignet war als für sie – ihr kennt das! In der Wohnung habe ich dann eine WG gegründet.
Abschliessend möchte ich noch einige Worte an alle Jugendliche und Kinder mit Behinderungrichten: es ist oft mehr möglich, als eure Eltern glauben und auch als ihr glaubt. Es geht nicht darum, dass ihr besonders risikoreich leben sollt. Aber lernt neue Leute kennen, probiert Neues aus, erforscht eure Grenzen und vielleicht verschieben sich diese Grenzen ja.
July 14, 2019
Behinderung und Entwicklungszusammenarbeit e.V.
Weltweite Entwicklungs- und Bildungsarbeit sind die Hauptthemen des bezev – Behinderung und Entwicklungszusammenarbeit e.V..
Der Verein, mit Sitz in Essen, hat es sich zur Aufgabe gemacht die Umsetzung der Inklusion weltweit voranzutreiben. Hierfür unterstützt er Projekte vor allem im globalen Süden, um Vorkehrungen und Rahmenbedingungen zu schaffen. Sie wollen erreichen, dass Menschen mit Behinderung in allen wichtigen Initiativen und Programmen berücksichtigt werden.
Auf der Webseite bezev.de werden außerdem unter der Überschrift “weltwärts alle inklusive!” vielfältige Informationen zum Thema Freiwilligendienst mit Behinderung in Asien, Afrika, Lateinamerika und Osteuropa bereitgestellt. Weiterhin bietet der Verein eine umfassende Betreuung dahingehend, von Unterstützung bei der Suche nach einer Einsatzstelle bis hin zu Vorbereitungsseminaren in inklusiven Gruppen.
July 8, 2019
Newsletter: Wie Tests fehlende Diversität in Filmen sichtbar machen; Inklusion ist kein Projekt!; 5 Vorurteile aus der Hölle über behinderte Menschen
Auch heute gibt es wieder von mir handgepflückte Links aus aller Welt zu den Themen Inklusion und Innovation in meinem Newsletter.