Raúl Aguayo-Krauthausen's Blog, page 13
June 4, 2019
Wenn Eltern über ihre (behinderten) Kinder bloggen…

…sollten sie den Nachwuchs vorher fragen. Das gilt für alle Kinder.
Es gibt ein paar Fotos, für die ich sehr froh bin, dass meine Kindheit nicht im Zeitalter des massenhaften Internets begann. Zum Beispiel, beim Ausflug nach … mit 13, da … nein, ich halte mich zurück. Aus guten Gründen. Das Netz vergisst nicht. Und genau das sollten zum Beispiel Eltern auch nicht.
Manchmal beginnt das virtuelle Leben von Menschen, bevor sie geboren sind: Wenn Ultraschallbilder online gehen, bevor das Baby geboren wird. Ich habe Bekannte, bei denen hingen die Ultraschallbilder an der Pinnwand im Flur; nun sind sie entweder weg oder vergilbt, da wäre eine Digitalisierung lohnenswert gewesen. Es ist kein einfaches Thema. Wie Eltern mit Informationen über ihre Kinder umzugehen haben, ist nicht rasch erzählt.
Jedenfalls kann ich mir vorstellen, dass die Gerichte im Jahr 2030 mit Klagen überrannt werden, in denen Kinder ihre Eltern anzeigen – und zwar wegen all jener Texte, Fotos, Daten und anderen Infos, die sie über ihren Nachwuchs ungefragt ins Netz stellten. Mich erstaunt, wie mitteilungsbereit Eltern im Netz sind, all die Blogs über das Elterndasein mit Kindern, mit oder ohne Behinderung. Ich will nicht auf erhobenen Zeigefinger machen, das Thema ist kompliziert. Es gibt aber eine Grundkomponente: Kinder sollten ihr Einverständnis geben, wenn all solch Zeug über sie viral geht.
Denn der Kernpunkt jeder Privatsphäre besteht aus Würde und Respekt. Diese gilt es zu bewahren. Daten im Netz sind ein digitales Tattoo, sie gehen nicht mehr weg. In der virtuellen Welt werden Spuren gelegt, die noch Jahrzehnte später von Dritten zur Auswertung herangezogen werden, von potenziellen Arbeitgebern, Nachbarn, Verknallten und Hatern. Zwar werden eh unheimlich viel mehr Daten über uns gesammelt werden, unsere Existenz verlagert sich ein Stück weit ins Virtuelle; was allein Krankenversicherungen in 20 Jahren über uns wissen werden, malen wir uns heute kaum aus. Sollte aber diesem Datenwust noch Persönliches aus der Kernfamilie hinzugefügt werden?
In Frankreich ruft die Polizei bereits „Préservez vos enfants!“, schützt eure Kinder. Geld- und Gefängnisstrafen drohen Eltern. Und was geschieht, wenn ich als 14-Jähriger Fotos und Texte von mir und über mich im Netz nicht toll finde, auf denen ich als Baby gewindelt werde? Mag ich im Alter von 17 meine Gefühlswelt der gesamten Welt mitteilen, wie es für mich als Siebenjähriger war? Eindrücke, Meinungen und Erinnerungen verschieben sich. Fotos und Informationen aber schaffen eine Erzählung, an der nicht zu rütteln ist. Viele Eltern agieren meiner Meinung nach bestenfalls gedankenlos.
Und: Sie denken in erster Linie an sich. Übrigens gilt für Kinder mit Behinderung dasselbe wie für Kinder ohne Behinderung: Sie müssen gefragt werden. Das kann schwierig werden, wenn sie sich nicht gut ausdrücken können – wer vertritt dann ihre Interessen? Das können gut Eltern sein. Aber daraus erwächst auch eine Verantwortung.
Es gibt Elternblogs, die über das Leben mit ihren Kindern mit Behinderung erzählen. Bei vielen bin ich entsetzt. Werden da die Kinder gefragt, wenn Fotos und Texte online gehen, die ungeschönte Momentaufnahmen von schmerzhafter Therapie, von Operationsnarben oder Verzweiflung zeigen?
Es mag ja sein, dass sie Fakten dokumentieren. Aber es gibt eine Grenze zwischen Ehrlichkeit und Verletzung der Privatsphäre.
Andersherum wird auch gern mal verkitscht. Da bloggen dann Eltern recht bemüht darüber, wie unheimlich normal das Leben mit Behinderung ist, was es ja ist – aber verklären dann die durchaus auch existierenden unangenehmen Begleiterscheinungen mit Worten wie „besonderes Kind“ oder „mit einem kleinen Extra“. Nun, auch Kinder mit Behinderung sind nicht besonders, ihre Behinderung ist nicht einzigartig. Und ihre Bedürfnisse oder Fähigkeiten sind es auch nicht, sondern ebenso vielfältig wie die von Kindern ohne Behinderung. Letztlich bleibt es dabei, dass in Blogs „über“ Kinder mit Behinderung geschrieben wird, nicht mit ihnen. Diese Distanz kann das Medium kaum überbrücken, und richtig gut kann das nicht sein.
Ich verstehe, wenn Eltern etwas rauslassen müssen, sich mitteilen wollen, ihre Erfahrungen teilen. Und es muss auch nicht ausschließlich Selbsthilfegruppen und geschlossenen Foren vorbehalten sein, Alltagsinfos aus dem Eltern-Kind-Gefüge zu teilen, wenn eine Behinderung Teil dieses Alltags ist. Kann ja alle interessieren. Und können ja alle davon lernen. Anfangs kann es auch traumatische Erfahrungen für Eltern geben – diskriminierende Behandlung, Krankenhausaufenthalte oder ein Mehraufwand an Pflege. Da tut es gut, das medial zu verarbeiten. Aber Eltern werden immer aus der Elternperspektive über ihre Kinder berichten. Inwiefern können sie für oder über Kinder reden? Vielleicht können sie es, das bedarf eines einzelnen Blickes. Ich plädiere aber für Vorsicht.
Denn was ist mit traumatischen Erinnerungen, die bei Jugendlichen oder Erwachsenen hervorgerufen werden, wenn sie Fotos betrachten, Texte lesen, die Mama oder Papa naiverweise hochgeladen hatten und die Leiden zeigen, welche die Betrachter hinter sich gebracht zu haben dachten?
Am besten kehren wir zum guten, alten Fotoalbum zurück. Retro soll ja wieder angesagt sein.
June 3, 2019
Newsletter: Über „Die Kinder der Utopie“ auf DVD; Bessere Symbolbilder; Inklusion im Schulsystem; die funktionelle Diversität & die Freiheit, sexuell zu sein.
Auch heute gibt es wieder von mir handgepflückte Links aus aller Welt zu den Themen Inklusion und Innovation in meinem Newsletter.
Die Kinder der Utopie – ein Inklusions-Abenteuer
Als der Regisseur Hubertus Siegert mich vor über einem Jahr ansprach, ob ich Lust hätte, mir seinen neuen Film über ehemalige Schüler*innen einer Inklusionsklasse anzuschauen, war mein Interesse zugegebenermaßen eher gering. Ich bekomme regelmäßig ähnliche Anfragen zu allen möglichen Inklusions-Projekten – und ich kann einfach nicht alles unterstützen, so toll die Ideen im einzelnen oft sind. Aber dann realisierte ich, dass Hubertus Siegert damals an meiner alten Grundschule den Film “Klassenleben” gedreht hatte. Und den hatte ich vor ein paar Jahren gesehen und toll gefunden.
Also schaute ich mir auch “Die Kinder der Utopie” an – und ich bekam eine Gänsehaut: Alles, was wir Inklusionsaktivist*innen schon so oft in vielen, vielen Worten den Fachleuten, Lehrer*innen, Pädagog*innen, Politiker*innen und Eltern zu erklären versucht hatten, passierte in diesem Dokumentarfilm ganz einfach. Ohne lautes Spektakel, ohne groß angelegte Studien, ohne Drama. Und es kamen auch keine sogenannten Fachleute zu Wort, es gab keine Erklärungen oder Statistiken. Sondern einfach sechs junge Menschen mit und ohne Behinderungen, die Inklusion in ihrer Schulzeit erlebt und gelebt haben. Endlich kamen die echten Expert*innen zu Wort, die (ehemaligen) Kinder.
Ich sagte zu Hubertus Siegert:
“Ja! Der Film ist super – lass uns gemeinsam was draus machen!”
Hubertus Siegert hatte zu dem Zeitpunkt schon den Campaigner Ben Kempas mit im Boot, der Fachmann in Europa für Dokumentarfilmkampagnen. Ich fragte Suse Bauer, mit der ich schon lange gemeinsam bei KRAUTHAUSEN – face to face und re:sponsive arbeite, ob sie uns im Bereich Content-Entwicklung und Social Media unterstützen würde – und so trafen wir uns zu viert in Berlin, um das Projekt “Die Kinder der Utopie” zu starten. Und es wurde ein echtes Abenteuer.
Zu der Zeit war ich absoluter Neuling, was die Filmbranche betraf – und erkannte noch gar nicht, wie visionär Hubertus Siegert den Film von Beginn an geplant hatte: Üblicherweise versucht man Filmprojekte mit Hilfe von Filmförderung finanziell umsetzbar zu machen – was aber auch bedeutet, dass der geförderte Film sich an gewisse Regeln halten muss. Weil Hubertus Siegert aber schon im Vorfeld die Idee hatte, den Film an nur einem Abend mit einem großen Knall in die Kinos zu bringen (ähnlich wie es der Film Embrace zuvor schon geschafft hatte), finanzierte er “Die Kinder der Utopie” komplett aus eigener Tasche.
Was aber auch bedeutete, dass er keine finanziellen Mittel mehr für die Umsetzung eines Kino-Aktionsabends hatte.
Und hier kam ich ins Spiel: Zum einen machte ich mich auf den Weg, um als Inklusions-Aktivist Gelder für das Projekt zu sammeln, zum anderen brauchten wir einen Trägerverein, um überhaupt Gelder bekommen zu dürfen. Da die Sozialhelden bis dato wenig Erfahrung im Bereich Schule und Inklusion hatten, gibt es für mich in Deutschland eigentlich nur einen Verein, der mit geballter Expertise und Erfahrung zum Thema Inklusion in der Schule aufwarten kann: Der mittendrin e.V in Köln.

Ben Kempas, Tina Sander, Eva Thoms, Christine von Kirschbaum, Hubertus Siegert, Suse Bauer und Raul Krauthausen
Also fuhren Hubertus Siegert, die Journalistin Suse Bauer und ich kurzerhand ins Rheinland und schauten, was der mittendrin e.V. von einer Zusammenarbeit halten würde – eine Menge hielten sie von der Idee! Damit war der Weg gebahnt. Der erste Geldgeber, der an uns glaubte, war die Bertelsmann Stiftung, die uns nicht nur mit einer Spende den Start ermöglichte, sondern deren Projektmanagerin Dr. Ina Döttinger fortan regelmäßig Artikel für die “Die Kinder der Utopie”-Website schrieb. Denn das war etwas, was uns schnell klar wurde: Neben dem Film und dem Aktionsabend, sollte ein nachhaltiges und hochwertiges Produkt entstehen, das auch nach der Aktion weiterleben würde. Und zwar eine Informationsseite angefüllt mit Artikeln über Inklusion, die bisher fehlten – als neuer Debattenbeitrag für eine Diskussion, deren Fronten verhärtet und emotionalisiert waren und sind.
Unter der Leitung von Suse Bauer entstand die Seite “Inklusion unter der Lupe”, angefüllt mit Artikeln u.a. von Ninia LaGrande Binias, Denise Linke, Eva-Maria Thoms und Tina Sanders vom mittendrin e.V., Dr. Ina Döttinger, Prof. Dr. Jutta Schöler, Hans-Werner Bick, Tanja “Rollifräulein” Kollodzieyski, mit verschiedenen Interviews und noch einigem mehr.
Damit konnten wir dann auch weitere Geldgeber*innen überzeugen: Aktion Mensch, SAP, die randstad stiftung und die DATEV.

Dokumentarfilme haben in Deutschland ein fundamentales Problem: Sie gehen in der Masse der Filmangebote unter und verlassen die Kinosäle, ohne je wirklich wahrgenommen zu werden. Deshalb sollten “Die Kinder der Utopie” mit einer einzigartigen Aktion an einem Abend (mehr war leider nicht realistisch umsetzbar) in die Kinos kommen.
Die Idee für den Aktionsabend war: Wir müssen Freiwillige davon überzeugen, dass der Film sich so sehr lohnt, dass sie als Pat*innen die Kinovorführungen und im Idealfall noch Diskussionsrunden organisieren. Außerdem würden wir aufrufen, sich bei Interesse an “Die Kinder der Utopie” auf der Internetseite zu registrieren, damit wir die Kinos von der Relevanz des Filmes und dem Bedürfnis der Zuschauer*innen, den Film zu sehen, überzeugen könnten.

(Foto: Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de)
Das war der Plan – und der Rest war viel harte Arbeit und auch jede Menge Spaß:
1.000 Freiwillige organisierten in 160 Städten Events für den Aktionsabend am 15. Mai 2019 – jede Veranstaltung war anders, jede voller Herzblut, jede einfach großartig.
Als der große Abend anbrach, kamen immer schneller die Infos rein: “München ausverkauft!”, “Hannover ausverkauft!”, “Lübeck ausverkauft!” und so ging es weiter.
Auf maximal 80 Kinos deutschlandweit hatten wir gehofft – 160 sind es geworden, die meisten waren ausverkauft. Viele spielten den Film aufgrund des großen Erfolges nach.
Was mir das alles gezeigt hat? Inklusion in der Schule ist nicht tot und auch keine Katastrophe – auch wenn das immer wieder in der Presse zu lesen und von Politiker*innen zu hören ist.
Inklusion ist ein Menschenrecht – und eine Idee, deren Zeit jetzt gekommen ist. Ein Bedürfnis, hinter dem tausende Menschen in Deutschland stehen – behinderte und nichtbehinderte.
Der Aktionsabend war keine einmalige Angelegenheit – jetzt geht’s erst richtig los!
Für alle, die den Film am Aktionsabend verpasst haben, gibt es “Die Kinder der Utopie” ab sofort überall als DVD im Handel – und als Video on Demand mit deutschen Untertiteln sowie als Hörfilmfassung.
Das Drama um die E-Scooter
E-Scooter werden nun tatsächlich in Berlin zugelassen. Aber wer denkt dabei an alte und behinderte Menschen?
Noch so ein Aufregeposting? Nein, diesmal nicht.
Mir fällt auf, dass in den Berichterstattungen neben der typischen Katastrophisierung häufig die Rede davon ist, dass junge Rollerrowdys behinderte und alte Menschen mit ihren Scootern verletzen könnten. Sicher ist das ein Aspekt, der bedacht werden muss.
Wenn ich so etwas lese, frage ich mich – Wie werde ich dabei gesehen?
Ich bin jung.
Und ich bin chronisch krank, bzw. körperlich behindert.
Für viele Außenstehende ist ja schon die Tatsache, jung UND behindert zu sein, nahezu undenkbar. Und wenn, dann muss die Behinderung unbedingt sichtbar sein. Was ich nicht sehe, existiert auch nicht.
Muss ich mich nun entscheiden, ob ich der junge Rollerrowdy oder lieber der arme Behinderte sein möchte, über dessen körperliche Integrität der E-Scooter wie ein Damoklesschwert hängt?
Alles Quatsch. Ich kann gerade aufgrund meines Alters und der Behinderung von dieser Entwicklung profitieren. Solch ein Roller würde mir die Möglichkeit geben, mich auch mal ohne Hilfe im näheren Umkreis bewegen zu können. Steigungen hochzugehen oder mit dem Rollstuhl zu befahren, kostet mich Kraft, die ich nur begrenzt habe. Vielleicht denkt sich die ein oder andere Person gerade: „Aber wofür gibt‘s Krankenkassen?“ – Der sei gesagt, dass leider nicht alles von ihnen übernommen wird und im Alltag eines behinderten Menschen praktikabel ist.
Ich würde mir wünschen, dass in dieser Diskussion weniger polarisiert und über die Köpfe der Betroffenen gesprochen würde. Es kommt halt auf die Perspektive an. :)
May 27, 2019
Newsletter: „Die Kinder der Utopie“ machen weiter; Innehalten ist wichtig; Unsichtbarkeit behinderter Frauen; Wo ist Ihre Begleitung? Wer braucht Beschützung
Auch heute gibt es wieder von mir handgepflückte Links aus aller Welt zu den Themen Inklusion und Innovation in meinem Newsletter.
„Die Kinder der Utopie“ machen weiter; Innehalten ist wichtig; Unsichtbarkeit behinderter Frauen; Wo ist Ihre Begleitung? Wer braucht Beschützung
Auch heute gibt es wieder von mir handgepflückte Links aus aller Welt zu den Themen Inklusion und Innovation in meinem Newsletter.
Meine Ambivalenz mit behindertenfreundlichen Tech-Giganten
Immer wieder spült mir der unerlässliche Strom der sozialen
Netzwerke neue Videos von Tech-Giganten in die Timeline, die stolz Hard- und
Software präsentieren, die das Leben von Menschen mit Behinderungen verbessern
sollen. Zunehmend habe ich damit ein Problem. Das hat zwei Gründe:
1. Quantität und Qualität
Die dargestellten Produkte sind nur in den seltensten Fällen tatsächliche Endprodukte die Konsumenten nutzen können. Viel mehr sind es Konzeptstudien, um sowohl das technisch Mögliche als auch die mitunter fragwürdige Praxisrelevanz von Fähigkeiten und Kompetenzen des jeweiligen Konzerns darzustellen. In den Videos geht es dann auch weniger um das Hervorheben von technischen Spezifikationen eines konkreten Produktes, sondern vielmehr um das vermeintlichen Indienststellen für die gesamte Gesellschaft. Stylische Produkte werden nicht vorgeführt. Die Hilfsmittel oder Software-Programme könnten so auch auf einem DIY-YouTube-Kanal auftauchen. Dafür sind die Videos aber hochwertig produziert und ein gemeinsames Essengehen mit Entwicklern und Testnutzer als „echtes Dream-Team“ darf nicht fehlen.
Kurz: Meist ist es mehr Schein als Sein und auch den gibt es nur für eine ausgewählte Gruppe von Testpersonen. Nicht falsch verstehen: Ich bin mir sicher, dass diese Personen tatsächlich einen realen Nutzen haben werden. Es wäre nur schön, wenn es nicht nur bei Konzeptstudien oder DIY-Projekten fürs Teambuilding bliebe.
2. Behinderte als Objekt
So drängt sich mir mehr und mehr das Gefühl auf, als ginge es gar nicht um Menschen mit Behinderungen oder deren zu bewältigenden Alltagsproblemen, sondern um das Image der Unternehmen. In der breiten Öffentlichkeit dürfte es eine leicht verdiente Anerkennung sein, wenn ein Konzern sich den „armen Behinderten“ annimmt, wo es doch sicher „attraktivere Konsumentengruppe“ gäbe. Sicher ist eine solche Sicht auf behinderte Menschen nicht die primäre Schuld der Konzerne. Aber das Nutzen solcher Vorurteile schon. Im Marketing-Budget der Konzerne dürfte das Zurverfügungstellen von wenigen Entwicklern für ein kleines Projekt deutlich günstiger sein als andere viel weniger effektivere Methoden der Imagepflege. Dabei sind dann behinderte Menschen eben keine Konsumentengruppe mehr, die man als Kunden gewinnen möchte. Es ist auch immer noch keine Pflicht – ob rechtlich oder moralisch sei mal dahingestellt – das selbstverständlich alle Produkte für behinderte Menschen nutzbar sind. Andernfalls könnte man sich ja nicht als altruistischer Weltverbesserer inszenieren.
Doch trotz dieser beiden Punkte bin ich hin und hergerissen.
Wenn Sprachsteuerungen plötzlich Menschen mit Sprachbehinderungen genauso
verstehen wie den krudesten schottischen Englischakzent, dann trägt das zur
Normalisierung von Behinderung bei. Wenn der Preis dafür ein klischeebehaftetes
Image-Video ist, ist es das vielleicht sogar wert. Und es gibt ja auch
Positivbeispiele: Das bei der Fitness- und Smartwatch des großen Obsthändlers
Sportprogramme für Rollstuhlfahrer von Anfang an vorhanden waren und diese
gerade ohne spezielle Image-Kampagne völlig „unauffällig“ im Produktvideo neben
gehenden Tennisspielern und Radfahrern präsentiert wurden, zeigt, dass es auch
besser geht: ganz ohne Charity-Beigeschmack.
May 25, 2019
Demoability – Wir brauchen mehr Zugänge zur Politik

Endlich mal wieder Wahlen! Ein schöner Zeitpunkt um über Mitsprache im demokratischen Betrieb zu diskutieren und wer eigentlich mitmachen kann. Ein Beitrag zur Blogparade #DHMDemokratie – Was bedeutet mir die Demokratie? vom Deutschen Historischen Museum.
Als ich meine Wahlbenachrichtigung zur Europawahl bekommen habe, hatte ich wie in den letzten Jahren Glück: “Das Wahllokal ist barrierefrei zugänglich.” Ein Satz der für mich bedeutet, dass ich am Sonntag ganz einfach meine Kreuze in einer Wahlkabine machen kann. Leider geht es nicht allen Menschen mit Mobilitätseinschränkungen so und ich habe von einigen Freunden, die auf den Rollstuhl angewiesen sind, gehört, dass sie zur Briefwahl gezwungen sind, weil ihr Wahllokal nicht barrierefrei zugänglich ist. Was leider wie Realsatire klingt ist ein Symptom der Beachtung von Menschen mit Behinderung in der politischen Debatte: Du kannst dabei sein, aber es wird nicht immer selbstverständlich und einfach sein.
Vor kurzem hat mich das
Deutschen Historischen Museum
angefragt, ob ich zur #DHMBlogparade ob ich etwas zur Frage: “Demokratie für Gleichberechtigung und Chancengleichheit – Was halten sie von der Umsetzung von Inklusion?” schreiben möchte. Ich habe mich sehr schwer getan und tue es wohl immer noch.
Warum das so ist, dafür muss ich ein bisschen weiter ausholen und ein paar Jahre zurück gehen. 2016 hat sich die damalige Bundesregierung mit zwei Gesetzen rund um das Thema Behinderung, Teilhabe und Inklusion beschäftigt. Zum einen eine Novellierung des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG), das öffentliche (und leider nicht die private Wirtschaft) Institutionen, Produkte und Dienstleistungen dazu verpflichten soll, barrierefrei zu werden. Und zum anderen sollte vor den letzten Bundestagswahlen noch ein Bundesteilhabegesetz auf den Weg gebracht werden, was angeblich die Situation von Menschen mit Behinderungen verbessern sollte, die Teilhabemöglichkeiten an der Gesellschaft erhöhen soll und mehr Selbstbestimmung möglich machen sollte. Richtig, da ist viel Konjunktiv dabei. Denn bei beiden Gesetzesinitiativen haben sich viele Menschen mit Behinderung übergangen gefühlt und viele Nachbesserungen gefordert.
Unter dem Hashtag #NichtmeinGesetz entstand ein kreativer Protest, der Nachbesserungen einforderte und eine ehrliche Beteiligung von Menschen mit Behinderung an den Gesetzen forderte, weil sie von den neuen Gesetzgebungen betroffen sein werden. Der Verein AbilityWatch (zu dem ich auch gehöre) hat versucht die Proteste und Forderungen zu sammeln und zu koordinieren.
Eines meiner Highlights war bei den ganzen Aktionen das Anketten vor dem Reichstag in der Nacht bevor es zur Abstimmung zu dem Behindertengleichstellungsgesetz im Bundestag kam. Es war medial eine erfolgreiche Nacht und wir haben es sogar zu einer kleinen Reaktion in der Rede von der damaligen Sozialministerin Andrea Nahles geschafft, aber leider sind die Neuerungen ohne unsere Forderungen, dass auch private Unternehmen barrierefrei werden sollen, abgestimmt wurden.

Es gab in dem Zeitraum viele Beispiele wo wir Aktivist*innen uns mehr Mitsprache gewünscht hätten, weil einige der Bedenken von damals heute leider eintreffen. Menschen, die auf Assistenz angewiesen sind, müssen sich zum Beispiel einklagen, wenn sie selbstbestimmt allein wohnen wollen und nicht in einem Behindertenheim. Ein Punkt, den wir unter dem Stichwort “Pooling” oder “Angemessenheit” im Bundesteilhabegesetz kritisiert haben.
Ein praktisches Beispiel dazu sind Menschen, die auf Assistenz angewiesen sind. Wenn ein Bundesteilhabegesetz die in Anspruchnahme von Assistenzen einschränkt, dann hat das auch Auswirkungen auf den politischen Prozess und Beteiligung. Menschen mit Behinderung sind dann auf andere Menschen angewiesen, ob sie einen zu einer Demonstration oder zu einer Wahl begleiten. Das Gegenteil von Selbstbestimmung und Teilhabe.
Auch sehen wir heute, dass weiterhin nicht mal öffentliche Gebäude barrierefrei sind, obwohl das BGG dieses ja fordert und viele Menschen mit Behinderung am Sonntag nicht zur Wahl gehen konnten, weil das Wahllokal nicht barrierefrei war.
Es gibt viele von solchen Beispielen, die mich als Aktivist ratlos zurück lassen, warum Expert*innen in eigener Sache nicht gehört werden.
Natürlich ist es auch ein Schutz der Demokratie nicht immer darauf zu hören, wer gerade am lautesten schreit oder sich vor dem Bundestag ankettet und genau dafür bin ich auch dankbar, dass ich in so einer Gesellschaft leben darf. Auf der anderen Seite wünsche ich mir mehr Transparenz auf wen warum gehört wird, wenn es zu Gesetzen und Entscheidungen kommt, die uns alle betreffen.
Das Gesetzgebungsverfahren um das Bundesteilhabegesetz ist für mich ein gutes Beispiel dafür, wo ich mir mehr Transparenz wünsche. Denn es gab einen breit angelegten Beteiligungsprozess, bei dem viele Interessenverbände einbringen konnten. Am Ende war der Gesetzestext sehr lang und der Weg dorthin offen einsehbar. Expert*innen, wie Dr. Sigrid Arnade und die Juristin Nancy Poser haben sich Tage und Nächte um die Ohren geschlagen, um hunderte Seiten Gesetzestext zu lesen und Anmerkungen abzugeben. An sich eine tolle Sache der Beteiligung. Aber viele der Anmerkungen wurden nicht übernommen, beispielsweise beim Thema Assistenz. Und auf Nachfragen, warum die Änderungen nicht eingebaut wurden, gab es oft die Antwort, dass andere Interessensgruppen es nicht so sehen. Das ist ein gutes Recht, aber wir wissen nicht, welche Interessensgruppen das sein sollen.
Und genau in dieser Intransparenz sehe ich ein Problem einer modernen Demokratie, dass Mittel und Wege einer Kommunikation nicht genutzt werden oder genutzt werden möchten, die einer Gesellschaft erklären könnten, warum Gesetze so verabschiedet werden und Betroffene sich darin nicht wiederfinden.
Was die #NichtMeinGesetz-Aktivist*innen 2016 erfahren haben, erfahren jetzt viele tausende Jugendliche, die Freitags für eine bessere Zukunft streiken. Das Video von dem YouTuber Rezo zur “Zerstörung der CDU” ist dazu ein Höhepunkt einer Generation, die sich nicht verstanden fühlt, weil sich der politische Prozess so intransparent gestaltet, dass zum Schluss oft nur das Fazit bleibt: Großkonzerne haben mehr Einfluss auf Politik als Wähler*innen. Dieses Fazit ist nachvollziehbar aber auch sehr gefährlich, weil es Verschwörungstheorien viel Platz gibt und einer Demokratie schaden kann.
Aber zurück zur Ausgangsfrage der #DHMDemokratie
Ich möchte den Begriff der Inklusion gerne in den politischen Prozess bringen. Inklusion bedeutet für mich die Verantwortung einer Gesellschaft Mittel und Wege für alle Menschen zu finden, dass sie ein einer Gesellschaft teilhaben und auch teilgeben können. Anders als in einer Leistungsgesellschaft geht es nicht darum nur die nach vorne zu bringen, die “etwas leisten” (was auch immer das bedeutet), sondern es geht darum, dass Menschen, die mehr Möglichkeiten haben, Zugänge zu schaffen, diese auch für andere Menschen einsetzen. Und das sollte im besten Fall nicht nur eine individuelle Entscheidung sein, sondern strukturell durch politische Maßnahmen gefördert werden. Das fängt mit den barrierefreien Wahllokalen an und geht weiter bei inklusiven Schulen und bis hin zu einem Recht für nicht behinderte Menschen, mit Behinderten zusammen arbeiten zu dürfen.
Auch wir Aktivist*innen wissen, dass in einer Demokratie nicht alle Dinge von heute auf morgen umgesetzt werden können (und das ist auch gut so), aber ein bisschen schneller könnte es schon gehen und gerne mischen wir uns auch außerhalb von Wahlen mit ein.
UPDATE 27. Mai 2019: Die Wahlergebnisse der Europawahl scheinen den Trend zu bestätigen. Viele Menschen sind bereit die Zukunft von Europa positiv voranzubringen und wählen dafür auch Parteien, wie die Grünen, die das Gefühl (und hoffentlich nicht nur das) vermitteln, dass man auf Aktivist*innen und Expert*innen hört und mit ihnen gemeinsam auch etwas verändern kann.
May 20, 2019
Newsletter: Riesiger Zuspruch für „Die Kinder der Utopie“; Warum Legosteine mit Punktschrift Quatsch sind; Recherchestipendium für Journalisten mit Behind
Auch heute gibt es wieder von mir handgepflückte Links aus aller Welt zu den Themen Inklusion und Innovation in meinem Newsletter.
Meine gynäkologische Odyssee findet ihr Ende
Ich wollte euch heute von meinem Termin bei meiner neuen
Frauenärztin erzählen. Ich hatte große Schwierigkeiten einen Termin für eine
gynäkologische Untersuchung zu finden. So geht es wohl vielen Frauen.
Schließlich handelt es sich hierbei um eine ganz intime Untersuchung, in der
man viele private und intime Dinge von sich preisgibt. Daher wünscht man sich
eine empathische und einfühlsame Betreuung. Allein das stellt manchmal eine
Herausforderung dar.
Aber wie ist es für eine Frau mit Behinderung gynäkologische
Betreuung in Anspruch nehmen zu wollen? Als junge Frau ging ich zum Frauenarzt
meiner Mutter. Im Gegensatz zu anderen Ärzten, die ich nach ihm kennenlernen durfte,
war er offen im Umgang mit einer Behinderung. Bei der Durchführung der
Untersuchung war er zwar ebenfalls überfordert, weil ich aufgrund meiner
mangelnden Körperspannung (Spinale Muskelatrophie) nicht in einem
Frauenarztstuhl untersucht werden kann, aber er war gewillt und schlug mir vor
mich auf einer normalen Arztliege zu untersuchen. Diesen Willen mich zu untersuchen,
habe ich danach bei anderen Ärzten vermisst.
Dazu muss ich sagen, dass ich unglaubliche Angst vor
Gynäkologen habe. Ich vermute, es hat damit zu tun, dass ich meinen
Intimbereich bisher ohne Sexualpartner nicht erforschen konnte. Ich kann mich
nicht mit meiner Hand im Intimbereich berühren. Dann könnt ihr euch vielleicht
vorstellen, wie schlimm es sein muss, wenn ein fremder Mensch mein
„unerforschtes Gebiet“ untersucht. Mein erster Frauenarzt aus Köln war vollkommen
überfordert, so sehr, dass er mich schnell gegen Grippe impfen ließ und sich
danach direkt verabschiedete. Weil ich nach diesem Termin so verstört war,
brauchte ich Jahre bis ich mich wieder gynäkologisch untersuchen lassen wollte.
Beim nächsten Besuch bei einer Frauenärztin hatte ich den Verdacht schwanger zu
sein. Leider war diese Ärztin so sehr auf den gängigen Untersuchungsablauf
versteift, dass sie bezüglich der Durchführung einer Untersuchung keine
Kompromisse einging. Daraufhin vertröstete sie mich auf einen anderen Termin,
weil sie für eine Untersuchung mehr Personal und Zeit benötige. Um die Frage
der Schwangerschaft zu klären, hat sie mir dann Blut abgenommen. Ich weiß nicht
mehr, wie lange ich auf das Ergebnis gewartet habe, aber ich habe nicht wie
jede andere Frau am selben Tag erfahren, ob ich schwanger bin oder nicht. Ich
bin in der Zeit durch die Hölle gegangen. Ich war einfach sauer über die
mangelnde Bereitschaft umzudenken.
Mit meiner neuen Frauenärztin hatte ich zum ersten Mal
wieder eine positive Erfahrung. Gemeinsam haben wir alle Maßnahmen getroffen,
um mich auf den Frauenarztstuhl setzen zu können. Ich hatte so eine große Angst
während der Untersuchung, wahrscheinlich weil ich fast 30 werden musste, um wie
jede andere Frau untersucht werden zu können. Ich konnte es gar nicht fassen,
dass es so einfach laufen kann. Zum ersten Mal konnte ich alle meine Fragen
stellen, die sich über die Jahre angesammelt haben. Oft habe ich mich gefragt,
ob zum Beispiel meine Skoliose Auswirkungen auf meine Gebärmutter hat und ihr
könnt euch nicht vorstellen, wie glücklich mich diese Frau gemacht hat, als sie
mir sagte: „Mit ihren Eierstöcken ist alles in Ordnung. Sie haben eine schöne
Gebärmutter“. Wir mussten natürlich beide über diese Aussage schmunzeln. Es tat
richtig gut zu erfahren, dass aus gynäkologischer Sicht mit mir alles in
Ordnung ist. Sie setzte sogar noch einen drauf und unterhielt sich mit mir über
meinen Kinderwunsch. Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal von Ärzten
gefragt wurde, ob ich schwanger sei oder den Wunsch hege, es irgendwann zu
werden.
Verrückt, dass solch eine selbstverständliche Situation für
mich heute etwas ganz Besonderes war. Ich wollte euch unbedingt von meinem
Frauenarzttermin erzählen, weil ich darauf aufmerksam machen möchte, dass in
diesem Bereich des Gesundheitssystems viel mehr für Frauen mit einer
Behinderung getan werden muss. Die Praxen sollten auf die Bedürfnisse dieser
Frauen zugeschnitten werden und Ärzte noch mehr darauf getrimmt werden, dass
nicht jede/r Patient/in nach Lehrbuch behandelt werden kann.