Raúl Aguayo-Krauthausen's Blog, page 12
June 20, 2019
Toxische Meinungsmache

Die schulische Inklusion ist regelmäßig zum Scheitern verurteilt worden. Zum Teil wurde sie sogar zum Alleinschuldigen für die hiesige Bildungsmisere gemacht. Man liest von den »Grenzen der Inklusion«, »tyrannisierenden Förderschüler*innen« und »aufrüstenden Inklusionsbefürworter*innen«. Eines scheint im öffentlichen Diskurs fast immer festzustehen: Schulische Inklusion ist unmöglich. Manche möchte sie gerne »pausieren« lassen, so zum Beispiel der niedersächsische CDU-Landesvorsitzende Bernd Althusmann. Ist die schulische Inklusion tatsächlich so schlecht wie ihr Ruf?
Auf diese Frage findet der Film Die Kinder der Utopie des Regisseurs Hubertus Siegert Antworten. Er porträtierte darin eine Inklusionsklasse an der Berliner Fläming-Grundschule, der ersten Schule Deutschlands mit inklusiven Klassen, in denen nichtbehinderte und behinderte Schüler*innen gemeinsam unterrichtet wurden und werden. Viele Jahre später lässt Siegert die ehemaligen Schüler*innen wieder aufeinandertreffen. Wie bewerten die erwachsenen »Kinder der Utopie« ihre damaligen Schulerfahrungen? Wurden die nichtbehinderten Schüler*innen durch ständige Rücksichtnahme auf die behinderten Mitschüler*innen im Lernen und ihrer Entwicklung ausgebremst, so wie es die Inklusionskritiker ständig behaupten?
Mittlerweile sind die Protagonisten des Films aus dem Elternhaus ausgezogen, alle bewegen sich zielorientiert in ihrer Berufswahl. Der nichtbehinderte Christian studiert und Natalie, eine junge Frau mit Down-Syndrom, hat eine Festanstellung als Küchenhilfe. Auch der Rest ist an einer Universität gelandet, hat eine Ausbildung abgeschlossen oder den Weg aus der Behindertenwerkstatt heraus auf den ersten Arbeitsmarkt geschafft. Inklusion funktioniert also doch – trotz aller Unkenrufe aus Politik und Medien.
Nicht selten vermitteln diese sogar den Eindruck, dass Schüler*innen mit Förderbedarf die Regelschulen fluten. Eine jüngst veröffentlichte Studie des Zentrums für Lehrer*innenbildung (ZfL) der Universität Köln und der Deutschen Sporthochschule widerspricht dieser Einschätzung. Es gibt nämlich de facto keine flächendeckende Mehrbelastung durch Inklusion an den Schulen. Laut Statistik gibt es in Deutschland an Regelschulen mittlerweile insgesamt 137 000 Schüler*innen mit Förderbedarf – allerdings sind die Schüler*innenzahlen an Förderschulen gleichzeitig um 47 000 geschrumpft. Die Rechnung geht offensichtlich nicht auf: 90 000 Schüler*innen wird heute Förderbedarf zugeschrieben, die zuvor als Regelschüler*innen unterrichtet worden wären. Zwei Drittel aller »Förderschüler*innen« waren also schon immer an den Regelschulen – lediglich der attestierte Förderbedarf ist neu.
Fraglos gibt es Regionen – zum Beispiel in Berlin -, in denen die allgemeine schulische Situation so schwierig ist, dass Schüler*innen mit Förderbedarf das bestehende Problem zu verschlimmern scheinen. Allerdings ist das nicht den Schüler*innen mit Förderbedarf zuzuschreiben, sondern den schlechten Voraussetzungen, die an den Schulen vorherrschen. Es gibt zu wenige Lehrer, zu große Klassen, zu wenige zusätzliche Fördermöglichkeiten und zu wenige Räumlichkeiten. Sprich: Für Bildung ist kein Geld da – und zwar für die aller Schüler*innen.
Die Inklusion von behinderten Schüler*innen ist ein Menschenrecht, von dem behinderte wie nichtbehinderte Schüler*innen profitieren. Deshalb wäre es an der Zeit, dass Medien und Politik aufhören, durch toxische Berichterstattung Kinder mit Behinderungen zu den Schuldigen der Schulmisere zu machen. Unser Bildungssystem krankt – und das nicht, weil man Menschen mit Behinderungen dieses Menschenrecht zugesteht.
Dieser Artikel ist in Zusammenarbeit mit Suse Bauer zuerst in leicht
abgewandelter Form in "neues deutschland" erschienen.
June 17, 2019
Newsletter: Wie können sich Nichtbehinderte für Behinderte engagieren? Behinderung & Sexualität; Wann Diagnosen hilfreich sind – und wann nicht
Auch heute gibt es wieder von mir handgepflückte Links aus aller Welt zu den Themen Inklusion und Innovation in meinem Newsletter.
Unerhört: Lautlose E-Roller müssen weg vom Gehweg
Das Schlimmste
wurde erst mal verhindert. Doch noch droht Blinden Ungemach: Tausende lautloser
elektrischer Tretroller werden wohl bald schon die Städte erobern.
Auf Gehwege
dürfen die Gefährte glücklicherweise nicht. Das ist für Fußgehende schon einmal
ein Glück. Geräuschlose Gefährte mitten im Fußverkehr wären für alle – ganz
besonders aber für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen und
Sehbeeinträchtigungen – ganz gewiss ein gigantischer Horror geworden.
Alte, Blinde und
Behinderte jagen wird also nicht zum neuen Volkssport. Leise anpirschen werden
sich die neuen Fahrzeuge allerdings auf Radwegen und Fahrbahnen. Für Blinde
bleibt das ein Problem.
Für Elektroautos
soll es künftig ein hörbares Geräusch geben. Das soll allen anderen Menschen im
Verkehr die Annäherung dieser Fahrzeuge ankündigen. Wenn das möglichst von
vornherein auch für alle elektrisch betriebenen Zweiräder käme, wäre das
wirklich ein Gewinn für das rücksichtsvolle Miteinander im Verkehr.
Elektromobilität
ist schließlich besser als Verbrennungsmotoren aller Art. Wenn diese Fahrzeuge
von Weitem wahrnehmbar sind, sind sie eine ökologische und soziale Bereicherung
des Verkehrs gerade auch für die „letzte Meile“.
Dafür müssen sie
auch in Bus und Bahn mitfahren dürfen. Das ist gut, wenn sie dort nicht zur
Stolperfalle für blinde und anderweitig beeinträchtigte Fahrgäste werden. Hier
braucht es klare und nachvollziehbare Regelungen.
Wenn Menschen mit
Mobilitätseinschränkungen E-Roller nutzen, dann sollten sie – aber wirklich nur
sie – damit die letzten Meter auch auf Gehwegen zurücklegen dürfen Rücksicht
und Respekt erlauben dann auch die Nutzung derartiger Fahrzeuge als Hilfsmittel
für Menschen mit einer Behinderung. Wenn alle jeden anderen Menschen
respektieren, dann geht das.
June 16, 2019
mittendrin e.V.
„Das Sonderschulsystem liefert keine überzeugenden Ergebnisse“
und
„[…] fördert die soziale Spaltung“,
sind nur zwei der sieben angegebenen Gründe für inklusive Bildung auf der Website des mittendrin e.V.
Seit der Verein 2006 von einer Gruppe Eltern behinderter Kinder gegründet wurde, setzen sich die Mitglieder für die Umsetzung von Inklusion in der Bildungslandschaft ein.
Unter dem Reiter „Inklusions-Pegel“ auf der Website werden Informationen zu politischen Entwicklungen, Pressebeiträge, eigene Publikationen und Forschungsergebnisse veröffentlicht.
Außerdem bietet der Verein in Köln eine Beratung für Eltern behinderter Kinder an, die Fragen zu inklusiver Bildung haben. Direkt nebenan findet sich eine durch den mittendrin e.V. unterstützte EUTB (Ergänzende unabhängige Teilhabe-Beratung).
June 15, 2019
Hubertus Siegert, Regisseur von „Die Kinder der Utopie“ zu Gast bei KRAUTHAUSEN – face to face
June 12, 2019
Können Nichtbehinderte sich für behinderte Menschen engagieren?

Das werde ich öfters gefragt. Und ich finde: Ja, das können sie. Eine kleine Handlungsempfehlung.
Gemeinsam sind wir stark, heißt es in einem Kinderlied.
Dass die Welt für Menschen mit Behinderung ein besserer Ort wird, ist ein Grundanliegen in meinem Leben, da braucht man jede Stimme. Immerhin lebe ich mit dem Aufdruck „Aktivist“. Nun sind Menschen mit Behinderung zwar massenhaft vorhanden, in jedem Dorf finden Sie die. Aber nicht immer sind sie organisiert in Verbänden, Vereinen oder Bewegungen. Also: Richtig gemeinsam handeln heißt, dass Menschen mit Behinderung nicht allein die Welt zu einem besseren Ort zu machen versuchen, sondern Hand in Hand mit jenen ohne Behinderung; letztere sind auch in der Mehrheit, die hab ich lieber auf meiner Seite, ich meine: alle. Auf diesem Weg höre ich zuweilen die Frage: „Kann ich als Nicht-Behinderter mich für die Rechte behinderter Menschen einsetzen?“ Meine kurze Antwort: Ja. Es ist auch ganz einfach, zumindest sollte es sein. Und damit es einfacher wird und wir Hand in Hand die Rechte von Menschen mit Behinderung verwirklichen können, gibt es hier ein paar Tipps. Danke an Margarete Stokowski für die Inspiration!
Wenn du über Behinderungen sprichst, denke daran: Wer selbst eine hat, ist ein_e qualifizierter Gesprächspartner_in. Shut up and listen! Es lohnt sich, zuzuhören. Echte Aktivist_innen sehen sich zuerst in der Rolle des Zuhörens und nicht in der des allwissenden Erklärens.Nutze die Aufmerksamkeit, die du bekommst, nicht, um dich selber in den Mittelpunkt zu stellen, sondern trete sie ab, um den Stimmen der Menschen mit Behinderung gehör zu verschaffen. Kriegst du ein komisches Gefühl, wenn über Belange von Menschen mit Behinderung gesprochen wird, während keiner von ihnen dabei ist – obwohl einer dabei sein könnte? Dann folge diesem Gefühl, denn du liegst richtig.Schau in den Raum: Fast alles ist gestaltet für Menschen ohne Behinderung. Nur, um sich das klar zu machen.Wo Menschen mit Behinderung selbst für ihre Belange sprechen wollen, ermögliche es ihnen.Eine Akzeptanz von Menschen mit Behinderung, wie sie sind und mit allen Rechten, erfordert ein Statement von dir. Und das endet nicht damit los zu springen, wenn ein Rollstuhlfahrer einen Hügel herab geschubst wird.Überprüfe deine eigenen Worte über Menschen mit Behinderung: Stell dir vor, du sprichst über dich selbst. Störst du dich an etwas – gehe dem nach, denn so fühlen womöglich auch andere.Hörst du Witze auf Kosten von Menschen mit Behinderung, lache bitte nicht nur nicht mit, sondern widerspreche. Mein Standardspruch, der gut funktioniert: Es gibt bessere Witze, über die ich nicht gelacht habe.Wenn du denkst, Menschen mit Behinderung kriegen nichts Großes auf die Reihe, erinnere dich an Franklin D. Roosevelt, Frida Kahlo, Michael J. Fox und Andrea Bocelli. Stephen Hawking darfst du auch gern erwähnen.Sehe in Menschen mit Behinderung typische Vertreter_innen der Spezies Mensch. Mit ähnlichen Wünschen, Zweifeln, Talenten, Ängsten und Böswilligkeiten. Sehe in ihnen nicht automatisch einen alten Weisen vom Berg, nur weil sie anders erscheinen. Jedi-Ritter sind sie übrigens ebenfalls nicht. Und nein: auch keine Inspiration.Lies Bücher von Menschen mit Behinderung, nicht über sie. Lies und schaue ihre Interviews und Auftritte und höre ihre Podcasts. Und fordere, dass Filmrollen mit Behinderung von behinderten Schauspielern besetzt werden.Frage dich, wie viele Menschen mit Behinderung du in deiner Kindheit zu deinen Freund_innen zähltest, wie viele du kanntest. Und wie das heute ist.Verkneife dir ein „Nun reiß dich doch mal zusammen“, ein „Reg’ dich nicht gleich auf“ und erst recht ein „So war das sicher nicht gemeint“.Fasse Menschen mit Behinderung nur an, wenn du dir vorstellen kannst selbst so angefasst zu werden. Das gilt auch für Rollstühle. Fragen geht natürlich auch.Frage dich, warum an deinem Arbeitsplatz nicht auch Menschen mit Behinderung beschäftigt sind.Es ist ok, wenn Mensch nicht auf Anhieb alles weiß und richtig macht. Es tut gut, sich selbst einzugestehen, dass wir von einigen Dingen (noch) keine Ahnung haben. bescheinigen. Auskunft kann ja eingeholt werden, zum Beispiel von anderen Subjekten.Siehe Menschen mit Behinderung nicht als Vertreter_innen einer Gruppe. Eine Partei haben sie auch nicht. Gestehe ihnen zu, links oder rechts eingestellt zu sein.Beschönige nicht die Behinderungen von Menschen, das bringt nichts. Genaue Sprache dagegen hilft uns allen weiter. Menschen mit Behinderung brauchen auch kaum deinen Schutz, aber mehr deine Solidarität und eine Begegnung auf Augenhöhe. Eine Behinderung kann hart sein, tragisch aber ist sie nicht. Die Umstände können tragisch sein, aber das wollen wir ja ändern.Dabei können die Worte der afro-amerikanischen Aktivistin Pat Parker hilfreich sein, denn was sie weißen Menschen rät, kann man auch Menschen ohne Behinderung im übertragenen Sinn raten: “For the white person who wants to know how to be my friend: The first thing you do is to forget that I’m black. Second, you must never forget that I’m black.“Dir ist Privatsphäre wichtig? Anderen auch. Frag bei der ersten Begegnung nicht gleich in den ersten fünf Minuten, welche Behinderung dein Gegenüber hat. Man fragt dich ja auch nicht sofort nach deiner Sexualität oder anderen biografischen Hintergründen.Denke nicht, Menschen mit Behinderung seien besonders geeignet deine persönlichen Geschichten zu hören. Erzwinge keine Intimität.Erkenne Barrierefreiheit nicht als ein persönliches Thema mancher Leute, sondern auch als deines, als unseres.Sei bereit, für dein Engagement nicht nur Beifall zu kriegen, sondern öffne dich für Kritik, auch für Zorn. Es geht nicht um Pluspunkte für den Himmel, sondern um – eine bessere Welt.
June 10, 2019
Newsletter: Eltern, die über ihre (behinderten) Kinder bloggen; barrierefreie Festivals; Vorangetrieben, verboten, verankert: Die Geschichte der Gebärdensprache
Auch heute gibt es wieder von mir handgepflückte Links aus aller Welt zu den Themen Inklusion und Innovation in meinem Newsletter.
Volle Pulle Leben
Heute soll es um ein Thema gehen, was uns in gewisser Weise alle immer und immer wieder betrifft – Erwachsenwerden.
September 2015: Oh mein Gott, heute war es soweit: Heute war der große Tag gekommen, an dem ich ins Berufsbildungswerk nach Potsdam „umziehen“ würde. Weit weg von der Familie, denn ich komme ursprünglich aus der Lutherstadt Eisleben, und mit ganz neuen Herausforderungen wie Pflegedienst und Internatsleben. Das Internatsleben stellte sich nach ein paar Wochen Eingewöhnungszeit und einigen anfänglichen Schwierigkeiten, die wir aber gut lösen konnten, als die beste Entscheidung meines Lebens heraus. Ich lernte, alleine mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren, mit Freunden shoppen zu gehen, nach Berlin „rüberzumachen“ und mit tollen Menschen ausgelassen zu feiern. Außerdem lernte ich, was echte Freundschaft, Selbstbestimmung und Selbstwert bedeutete, war ich doch durch unzählige Höhen und Tiefen gegangen.
Der Pflegedienst hingegen war, bis auf wenige Ausnahmen, eine echte Katastrophe! Das lag nicht Mal unbedingt an den Mitarbeitern selbst – sondern eher am System. Sonderlich viel Selbstbestimmung oder ein großes Interesse waren hier einfach nicht vorgesehen. Sehr oft habe ich mit diesem Pflegedienst „angelegt“, doch nicht bösartig, ich wollte nur ganz normale Dinge. Selbstbestimmung eben!
Dezember 2019: Wie schnell war nur die Zeit vergangen? Nun war ich schon beinahe vier Jahre im Berufsbildungswerk in Potsdam und hatte so gute und so schlechte Dinge zugleich erlebt – nur wer diese Story live miterlebt hatte, konnte da auch wirklich mitreden. Hier waren Freundschaften fürs Leben entstanden und wir waren, ob wir es wollten oder nicht, erwachsen geworden.
Besonders schwer gestaltete sich hier die Suche nach einem Team aus persönlichen Assistenten. In Potsdam gab es zwar auch Assistenzdienstleister, diese steckten jedoch noch sehr in der Anfangsphase und waren so leider sehr unzuverlässig. Letztendlich entschied ich mich für den Berliner Verein ambulante Dienste e.V., da viele meiner Freunde ihre persönlichen Assistenten auch von dort bezogen. Der Verein machte bei mir allerdings eine Ausnahme, da ich in Potsdam (Land Brandenburg) lebte und der Verein eigentlich nur für Berlin zuständig war. Um mir meine Flexibilität zu erhalten, wählte ich das Splitting-Modell. Das bedeutete, dass ich die Vorteile des Persönlichen Budgets nutzte, würde mir aber Mal ein Assistent / eine Assistentin ausfallen, könnte ich bei AD um „Ersatz“ bitten. Das gab mir die nötige Sicherheit.
Das Sozialamt Mansfeld-Südharz, was sich für mich zuständig fühlte, weil ich da nun einmal geboren war, hatte leider nicht viel Ahnung vom Persönlichen Budget. Also war kämpfen angesagt.
In den nächsten Monaten erwartete mich also nun doch jede Menge Papierkram: Stellenanzeigen schalten, Vorstellungsgespräche führen, Einarbeitungen, Arbeitsverträge schließen, Lohnbüro, Finanzamt, Dienstpläne schreiben und Widersprüche beim Sozialamt waren an der Tagesordnung.
Nun haben wir Ende Mai und Anfang Juni soll mein „neues Leben“ mit Assistenz beginnen. Ich bin unendlich aufgeregt und stelle mir Fragen wie: Werde ich auch genug Privatsphäre haben? Aber vor allem hoffe ich, dass sich all meine Mühen gelohnt haben. Für mich ist das nochmal eine ganz neue Form des Erwachsenwerdens…
Die Ergänzende unabhängige Teilhabe-Beratung (EUTB)
Ich bekomme häufig Anfragen von Menschen mit Behinderung oder ihren Angehörigen, die so individuelle Herausforderungen beschreiben, dass auch ich meist keine Antworten darauf habe. Aus meiner persönlichen Erfahrung heraus kann ich die EUTB, die Ergänzende unabhängige Teilhabe-Beratung, empfehlen.
Diese wurden mit dem Teilhabegesetz eingeführt, sind mittlerweile bundesweit zu finden, beraten zu allen Themen rund um Behinderung, Rehabilitation und Teilhabe – und das alles kostenlos sowie beeinträchtigungs- und ortsübergreifend. In der Regel wird das sogenannte Peer-Counseling genutzt, also die Beratung durch Menschen, die selbst mit Behinderung leben und so “auf Augenhöhe” beraten können. Außerdem sind sie unabhängig von Leistungsträgern und mit vielen weiteren regionalen Beratungsangeboten vernetzt.
Auf der Website teilhabeberatung.de hilft die Suchfunktion die richtige Beratungsstelle in der Nähe zu finden.
June 7, 2019
Eine Segregation im Verkehr findet statt
In Sachen Mobilität fliegen die Visionen besonders hoch. Mir wäre schon lieb, wenn der Diesel-Mercedes mal bei mir hält.
Limburg an der Lahn soll ein nettes Fleckchen auf der Landkarte sein. Da gibt es kulinarische Spezialitäten wie den Limburger Säcker: ein mit Senf gewürztes und paniertes Kotelett, gefüllt mit Sauerkraut, Dörrfleisch und Essiggurken. Oder die Burg Limburg, jede Menge Kirchen und ein Marine-Museum. Dumm nur, dass der Bahnhof Limburg-Süd mich gerade nicht will – bis Ende Juli werden dort Fahrstühle ausgetauscht und der nächste barrierefreie ICE-Bahnhof ist im 25 Kilometer entfernten Montabaur; nicht wirklich eine Alternative.
In Sachen Verkehr herrscht in Deutschland ein ehernes Gesetz: Zuletzt macht man sich Gedanken um Menschen mit eingeschränkter Mobilität. Es erstaunt mich immer wieder, wie viele Verkehrsorte und -mittel nicht barrierefrei sind. Wir mögen unsere Ingenieurskunst rühmen, den Straßenbau und was weiß ich, aber wenn es um Mobilität für alle geht, ziehen andere Länder stets an uns vorbei. Aktuell erleben wir das bei den kommenden E-Tretrollern, die für blinde Menschen kaum hörbar über die Straße brettern (zum Glück nicht auf dem Bürger*innensteig) oder mitten auf dem Gehweg Familien mit Kinderwagen oder Menschen mit Rollstühlen den Weg versperren.
Es ist doch so: Bei Verkehrsfragen denken wir gleich an die großen Zukunftsthemen, an Drohnentaxis und autonomes Chauffierenlassen. Doch im Alltag gelingt nicht einmal der kleine Wurf.
Ein Beispiel gefällig? Ich mach mich jetzt unbeliebt, aber was soll’s. Taxifahrer sehen ihre Zukunft sorgenvoll wegen der Konkurrenz von Uber und anderen Fahrdiensten. In meinen Augen aber agieren sie wie Vertreter einer alten Zunft, die ihre Privilegien nicht ihrer Leistung verdankt. Eine Verpflichtung zur Barrierefreiheit gibt es bei Taxis nicht – und dies wäre nicht verzweifelnd, wenn eine gewisse Anzahl von Taxis auch die potenzielle Beförderung von zahlenden Gästen mit eingeschränkter Mobilität im Visier hätte. Doch diese Anzahl ist mickrig. Möchte ich als Rollstuhlfahrer ein Taxi benutzen, muss ich es im Schnitt drei Tage vorher bestellen. In Berlin gibt es 8000 Taxen. Acht davon sind barrierefrei. Acht. Ein Promill.
In London, zum Beispiel, ist fast jedes zweite Taxi barrierefrei. Schwer zu realisieren wäre zumindest eine Annäherung an solche Verhältnisse hier bei uns nicht. Es ist eine Frage des politischen Willens. Und der formt sich durch Lobbying. Menschen mit Behinderung haben es bisher nicht geschafft, in Deutschland jene politische Kraft zu mobilisieren, die sich entscheidend gegen die Segregation im Verkehr wehrt.
„Ein Taxi muss ich drei Tage vorher bestellen“
Okay, alles verändert sich zum Besseren. Autonomes Fahren wird intensiv erforscht und wird kommen – eine riesige Verbesserung für Menschen, die nicht selbst fahren können. Und es gibt wenige neue Fahrkonzepte, die gleich zu Beginn inklusiv vorgehen. Die meisten etablieren sich erst einmal und geraten dann später ins Grübeln, ob sie nicht auch mit Menschen mit Behinderung Geld verdienen wollen. In Berlin, zum Beispiel, gibt es den neuen Fahrdienst Berlkönig. Zugegeben, der Name gruselt. Zum einen kam der Sohn im Goethe-Gedicht nur tot an sein Ziel und zum anderen ist dieses Wortspiel aus „Berlin“ und „Erlkönig“ so clever wie: „Sind wir nicht alle ein bisschen Bluna?“ Aber der Berlkönig kommt an. Sprichwörtlich. Einige seiner Fahrzeuge sind barrierefrei. Und als ich letztens eines per App bestellte, kam es binnen 16 Minuten; eine gewisse Verbesserung im Vergleich zu drei Tagen.
Wir sind halt das letzte Rad am Wagen. Üben wir uns in Geduld! Im Jahr 2022 soll es endlich eine Regelung geben, welche eine Zugänglichkeit für alle im ÖPNV – einschließlich des Schienenverkehrs – sicherstellt. (Wobei noch unklar ist, ob Taxen zum ÖPNV zählen.) Bis dahin wird es Bahnhöfe geben, die nur Treppen kennen. Busse, die keine Rollstühle hineinlassen und Taxifahrer – nein, halt: Ich liebe doch alle.
Dieser Artikel ist unter der Kolumne
"Krauthausen konsequent" auf sagwas.net zuerst erschienen.