Raúl Aguayo-Krauthausen's Blog
February 10, 2020
Newsletter: Was wir übersehen, wenn von Barrierefreiheit die Rede ist; Zwischen Inspiration Porn und Tokenism; Kulturelle Aneignung; Ballettschule für Blinde
Auch heute gibt es wieder von mir handgepflückte Links aus aller Welt zu den Themen Inklusion und Innovation in meinem Newsletter.
Behinderungen: Ich passe in keine Schublade
Ich bin 1,89 Meter groß und gute zwei Zentner schwer. Ich
passe in keine Schublade.
Menschen denken sehr oft in Schubladen. Das erleichtert ihr
Leben ungemein. Das Leben der Anderen erschwert es mitunter jedoch.
Alle, denen ich begegne, erkennen sofort: Dieser Mann ist
blind. Dass ich nicht viel sehe, kann jeder gleich sehen.
„Blinde haben das absolute Gehör.“ Dieser irrigen
Vorstellungen begegne ich oft. Allerdings ist die meistverbreitete
Erblindungsursache bei jungen Männern neist auch mit einer Einschränkung des
Gehörs in besonders schweren Fällen bis hin zur Taubblindheit verbunden.
Mein Hörvermögen ist
leicht eingeschränkt. Wenn von vielen Seiten unterschiedliche Geräusche auf
mich einstürmen, verstehe ich fast nichts. Im Alltag merke ich diese leichte
Hörbehinderung jedoch kaum.
Meine Gehbehinderung
kann man auch nicht sofort sehen. Die Schiene am linken Bein trage ich meist
unter der Hose. Aber beim Treppensteigen muss ich sehr vorsichtig sein.
Am meisten bedrückt mich meine vierte Behinderung. Während
der Nazi-Diktatur wurden Tausende deswegen als angeblich „lebensunwertes
Leben“ ermordet. Noch heute ist Epilepsie ein Stigma, weshalb viele
Betroffene sie lieber verschweigen.
All diese Behinderungen sind für mich ganz normal. Sie
gehören zu mir wie die undefinierbare Farbe meiner Augen, der Klang meiner
Stimme oder meine rheinische Frohnatur. Meine Lebensfreude schmälern sie
allenfalls, wenn jemand mich wegen einer meiner Behinderungen in meiner
Entfaltung behindert.
Menschen denken sehr oft in Schubladen. Sie sehen meinen
weißen Stock und erwarten von mir das absolute Gehör. Alles, was andere Blinde
können, muss ich genauso machen wie sie.
Mir passen keine Schubladen, in die man Menschen wegsteckt.
Das Leben ist sehr viel vielgestaltiger als die Vorstellungen, die Menschen
sich davon oft machen. Insbesondere Behörden verwalten Menschen mitunter mit
Hilfe von Schubladen, anstatt die Einzelnen in ihrer individuellen
Persönlichkeit zu respektieren.
Wer eine Komode kennt, glaubt alle Komoden zu kennen. Jeder
Schublade ordnet er einen bestimmten Inhalt zu. Dabei ist aber vielleicht ganz
hinten in der untersten Schublade ein wunderschönes Schmuckstück verborgen.
Ich wünsche den Bürokraten einen neuen Schreibtisch: Wer eine diskriminierende Schublade öffnet, verschwindet sofort selber darin. Heraus kommt nur, wer sich mit aller Kraft gegen alle Schubladen stemmt.
February 6, 2020
“Disability Simulations” – Behinderung als Event oder eine gute Möglichkeit, um auf Barrieren aufmerksam zu machen?

Nach wie vor gibt es viele Vorurteile gegenüber behinderten Menschen – und viel zu wenig Alltag und gemeinsame Lebenserfahrungen von Menschen mit und ohne Behinderungen. Um hier mehr Verständnis und Annäherung zu bewirken, gibt es unter anderem so genannte “Disability Simulations”, in denen Menschen ohne Behinderung kurzfristig verschiedene Behinderungsformen ausprobieren. Aber hilft das wirklich um Empathie zu entwickeln?
“Ja, mit einem Rollstuhl leben zu müssen, das ist nicht leicht. Ich weiß, wie das ist, ich hab’ in der Schule auch mal ein Experiment gemacht und im Rollstuhl gesessen”, ist ein Satz, den man oft von Leuten hört, wenn es um den Kampf um Barrierefreiheit und das Leben mit Behinderung geht.In Deutschland gibt es Aktionen, die gerne an Projekttagen in Schulen durchgeführt werden und zum Beispiel als “Ein Tag im Rollstuhl-Experiment” bezeichnet werden. Quasi Behinderung als Event: Eine halbe Stunde im Rollstuhl um aufgebaute Hindernisse herumkurven und Rampen hinauf- und herunterfahren. Oder man muss sich mit Augenbinde durch ein Gebiet tasten. Den Teilnehmenden soll das Erlebnis suggerieren, eine körperliche oder Sinnes-Behinderung zu haben.
Aus guten Gründen werden diese Behinderungssimulationen von Inklusionsaktivist*innen und -fachleuten kontrovers diskutiert. Eigentlich sollen diese Simulationen den Teilnehmenden einen Perspektivwechsel ermöglichen und ihnen Barrieren bewusst und erfahrbar machen – und die gemachten Erfahrungen zu einem Umdenken führen, Empathie wecken. Und ein positiveres Bild vom Leben mit Behinderung bewirken.
Aber ist das tatsächlich so?
Viele Menschen mit Behinderungen, Inklusionsaktivist*innen und DPOs (Disabled People’s Organisations) bemängeln, dass Experimente dieser Art häufig ein ungenaues und sogar falsches Bild über das Leben mit einer Behinderung abgeben.
Warum? Häufig fehlen kompetente Instruktionen, die die Teilnehmenden gut auf die zu erwartende Situation vorbereiten. Zudem sind diese Experimente in der Regel auf einen sehr kurzen Zeitraum angelegt und es werden bewusst viele Barrieren präsentiert, um das Erlebnis so effektiv wie möglich zu machen. Dadurch wird die simulierte Behinderung in erster Linie als etwas sehr Einschränkendes, Belastendes wahrgenommen. Die Bandbreite eines Lebens mit Behinderung wird komplett vernachlässigt – denn nein, man stößt auch im Rollstuhl nicht auf permanente Barrieren, es gibt vieles im Alltag, das problemlos und durchaus lustvoll und befriedigend funktioniert.
Gerade wenn es um Simulationen mit Rollstühlen geht, werden meistens “Krankenhausrollstühle” verwendet, die nicht auf die Bedürfnisse der Fahrenden ausgelegt und angepasst sind – und das Erlebnis wird unangenehm und führt nicht selten zu Hilflosigkeit und Überforderung.
Nach Ende der Simulation springen die Experimentierenden schließlich erleichtert aus dem unbequemen, schwer zu händelnden Rollstuhl oder entledigen sich der Augenbinde – und können sich regelrecht befreit fühlen: “Ein Glück, dass es vorbei ist!”
Einen Einblick in erlernte Bewältigungsstrategien und eigene, innovative Techniken, die im Leben mit Behinderung eine hohe Relevanz haben, kann in kurzfristigen Simulationen nicht annähernd erreicht werden.
Michelle Nario-Redmond, Professorin für Psychologie, die sich auf Vorurteilsforschung und Disability Studies spezialisiert hat, führte kürzlich in den USA zwei Studien zu diesem Thema durch. In der ersten Studie sollten Studierende verschiedene Stationen durchlaufen, in denen sie mit Ohrstöpseln Lippen lesen oder in einem Rollstuhl sitzend ihr Mittagessen in der Kantine holen sollten. In der zweiten Studie ging es um Wegbeschreibungen, die mit Brillen gelesen werden sollten, die das Sehvermögen stark einschränkten oder vorgelesen wurden, während die Probanden Ohrstöpsel trugen. In beiden Studien wurden keine vorherigen Instruktionen gegeben. Vor und nach jeder Studie gaben die Probanden ihre Emotionen bezüglich des Zusammentreffens mit Menschen mit Behinderung an. Das Forscherteam fand heraus, dass sich die Student*innen im Nachhinein unwohler, verwirrter, hilfloser und besorgter als im Voraus fühlten. (Nario-Redmond et al., 2017)
Und genau das bereitet den Kritiker*innen derartiger Simulationen Sorge. Werden nämlich zuvor bestehende Ängste, Klischees und Erwartungen die die “Disability Simulations” bestätigt oder sogar verstärkt, werden die zukünftigen Interaktionen mit Menschen mit Behinderung sicher nicht vorrangig von Respekt und Wertschätzung, sondern eher von Mitleid oder sogar Überlegenheitsgefühlen geprägt sein.
Einige “Disability Simulations”-Kritiker*innen fordern deshalb, dass derartige Experimente überhaupt nicht mehr stattfinden sollten und stattdessen das Augenmerk auf Interaktionen zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen gelegt werden sollte, um den notwendigen Perspektivwechsel zu vollziehen.Die Befürworter*innen von “Disability Simulations” argumentieren, die Teilnahme an derartigen Experimenten würde zeigen, dass es ein ehrliches Interesse an der Thematik mit all ihren Konsequenzen gäbe – sowie die Bereitschaft, Zeit und Mühen zu investieren
Es gibt tatsächlich auch positive Beispiele für “Disability Simulations” – zum Beispiel die Studie von Silverman et al. (2017). Hierbei sollten sich die Probanden zunächst von einem Stuhl in einen Rollstuhl transferieren und durch den Raum fahren. Im Anschluss sollte ein Sandwich mit der schwachen Hand und einer Auswahl an Hilfsmitteln zubereitet werden. Die Aktivitäten waren absichtlich so gestaltet, dass die Entwicklung und Anwendung alternativer Techniken nötig war – ohne so schwer zu sein, dass man Vorkenntnisse gebraucht hätte. Vor und nach den Aktivitäten wurden die Probanden befragt, wie glücklich sie Menschen mit Querschnittlähmung oder halbseitiger Lähmung einschätzten. Im Vergleich zu den zuvor gegebenen Antworten wurden sie nach dem Versuch als glücklicher und gesünder eingeschätzt. Die Einführung in die Anwendung alternativer Techniken und das Erleben, dass durch das Finden von Lösungen die Situation gemeistert werden konnte, generierte also eine positivere Sichtweise auf ein Leben mit Behinderung.
Was also tun?
Es gibt hier kein klares “Nein” oder “Ja” – kein Schwarz oder Weiß: Es wird immer verschiedene Lösungen geben müssen. “Disability Simulations” sind nicht per se schlecht. Es kommt ganz darauf an wie – und vor allem wer sie durchführt.
Damit sich durch diese Simulationen ein Gefühl für die Problematik “durch Barrieren behindert zu werden” entwickeln kann – statt eines Bildes des bemitleidenswerten Menschen mit Behinderung – sollten hier Expert*innen in eigener Sache involviert sein.
Es darf nicht zum Wettbewerb werden, so viele Barrieren wie möglich in dem Experiment zu meistern. Stattdessen sollte ein realistischer Blick auf das Leben mit Behinderung geworfen werden können, bei dem im Vordergrund steht, dass die Barrieren das Problem sind – und nicht zum Beispiel der Rollstuhl. Und es sollte eine lösungsorientierte Sichtweise vermittelt werden.
Natürlich können solche Simulationen nie gänzlich vermitteln, wie ein Leben mit Behinderung ist und aufzeigen, wie es ist, sein Leben lang Strategien, Techniken, Mittel und Wege zu entwickeln und anzuwenden, die Teilhabe ermöglichen.
Haben Experimente dieser Art vor allem im schulischen Bereich eine qualitativ hochwertige theoretische Komponente und sind im besten Fall von Menschen mit Behinderung selbst konzipiert und durchgeführt, können sie positive Auswirkungen generieren.
Viel wichtiger aber als jede Simulation ist die wertschätzende Begegnung, bei der man Menschen mit Behinderung zuhört und mit ihnen respektvoll und gleichberechtigt interagiert.
Einige Tipps in diesem Zusammenhang: Wenn man mit einem im Rollstuhl sitzenden Menschen kommuniziert, ist es respektvoller, ihm auf Augenhöhe zu begegnen. Wenn man auf einen Menschen mit einer Hörbehinderung trifft, sollte man vermeiden den Mund in irgendeiner Weise zu bedecken, weil dieser eventuell von den Lippen liest – nicht jeder hörbehinderte Mensch kommuniziert per Gebärdensprache.
Ganz wichtig: Wenn man auf einen behinderten Menschen in Begleitung (eventuell Assistenz) trifft – ist der*die Ansprechpartner*in nicht die begleitende Person – sondern der Mensch mit Behinderung.
Behinderte Menschen sind in aller Regel Expert*innen für sich selbst. Auch wenn es meist nur gut gemeint ist, ist es schlichtweg übergriffig jemandem zu helfen – ohne vorher zu fragen, ob der*diejenige diese Hilfe überhaupt braucht oder will. Im Allgemeinen muss abschließend festgehalten werden: “Disability Simulations” mögen eine Möglichkeit sein, Empathie und Respekt gegenüber Menschen mit Behinderung zu schaffen. Das Einfachste, Wirkungsvollste und ja, auch das Schönste ist es, mit Menschen mit Behinderung zu leben, zu arbeiten, zu interagieren.
Autorin: Suse Bauer
Behinderung erfahrbar machen. Egal ob einen Tag im Rollstuhl, mit einer Sehbehinderungs-Brille oder ein familiärer Besuch in einem “Dunkelrestaurant”: In der neuen Folge des Podcasts „Die Neue Norm” blicken wir auf Experimente, die Behinderungen simulieren:
February 3, 2020
“Frührentner wär’ ich auch gern”
Eine Kolumnenserie: Wenn die Behinderung mit Vorurteilen kommt.
Mit 28 Jahren wurde ich zur Rentnerin. Nicht weil ich das wollte, sondern weil mich eine chronische Krankheit und die daraus resultierenden Einschränkungen dazu zwangen. In meinem Alter Rentner zu sein, führt im Alltag oft dazu, dass meine Mitmenschen mich dafür beglückwünschen, dass ich so viel Freizeit habe, häufig gefolgt von dem Kommentar: “Frührentner wär’ ich auch gern.” Das es für Menschen mit chronischen Krankheiten jedoch eher selten spaßig ist, schon in jungen Jahren krank zu sein und die Karriere aufgeben zu müssen, das verstehen die Wenigsten. Warum ich finde, dass sich niemand wünschen sollte Frührentner zu sein, das erfahrt ihr in der ersten Kolumne meiner Serie ”Wenn die Behinderung mit Vorurteilen kommt.”
Viele Menschen denken, als Frührentnerin könne man sich ein schönes Leben auf Staatskosten machen. Doch die meisten Frührentner führen sicher kein Leben im Luxus. Ganz im Gegenteil. Für viele von uns reicht die staatliche Erwerbsminderungsrente gerade zum Überleben. Derzeit bekommen Erwerbsminderungsrentner in Deutschland im Schnitt 716 Euro pro Monat. Mehr als Miete und Lebensmittel sind da nicht drin. Bei der Rentenberechnung wird auch nicht mit einbezogen, dass viele Menschen mit chronischen Krankheiten und Behinderungen erheblich höhere Kosten zu tragen haben, als gesunde Menschen, denn nicht jedes Hilfsmittel, jede Untersuchung, jeder Arzt, oder jede Therapie, die für die Lebensqualität wichtig sind, werden auch von der Krankenkasse als notwendig betrachtet. Dinge wie Urlaube oder Luxusgegenstände sind oft nur möglich, wenn Familie oder Freunde aushelfen, oder eine zusätzliche finanzielle Absicherung besteht. Mit Rente allein macht man keine großen Sprünge.
Genauso wenig heißt Frührente zu beziehen, dass wir kranken oder behinderten Menschen faul sind. Wir verbringen auch nicht den ganzen Tag mit Nichtstun. Menschen, die krank sind, haben einen Vollzeitjob: ihre Gesundheit. Telefonate mit Krankenkassen, Streitigkeiten mit anderen Versicherungsträgern, Reisen zu Arztterminen: all das kann die tägliche Energie aufbrauchen. Manche Rentner arbeiten in genehmigten Mini-Jobs, wenn sie können. Wieder andere sind Teil von Fernstudiengängen oder engagieren sich im Rahmen ihrer Kräfte sozial. Und wenn wir doch mal Tage im Bett verbringen, dann nicht weil wir wollen, sondern weil unser Körper uns dazu verdonnert.
Rente bedeutet außerdem, abhängig zu sein. Während die meisten gesunden Menschen wenig Rechenschaft ablegen müssen, wird bei uns Rentnern immer wieder kontrolliert, ob wir denn auch wirklich noch krank genug sind. Vor jeder Aktivität, die mit Arbeit vergleichbar ist (auch gemeinnützige Tätigkeiten), muss vorher bei der Rentenversicherung um Erlaubnis gebeten werden. Und immer wieder wird deutlich gemacht, dass der Rentner seine finanzielle Unterstützung zu jedem Zeitpunkt verlieren kann. Als erwachsener Mensch abhängig vom Wohlwollen einer Stelle zu sein, die einem jederzeit und ohne große Begründung die Lebensgrundlage rauben kann, ist schwierig zu verkraften.
Oft höre ich auch, wie meine Mitmenschen von den “unzähligen Sozialschmarotzern” sprechen, die unser System ausnutzen und nur so tun, als ob sie nicht arbeiten könnten, weil die Rente so einfach zu bekommen sei. Das ist falsch. Fast die Hälfte aller Erstanträge von Erwerbsminderungsrente werden abgelehnt. Häufig kommt es nach dem Widerspruch zu einem Klageverfahren. Die Bearbeitungsdauer solcher Klagen kann Jahre dauern, währenddessen manche chronisch Kranken keinen Anspruch auf andere Leistungen haben. Ich selbst steckte drei Jahre in einem solchen Verfahren. Das Warten war jedoch noch das kleinere Problem. Fast fünf Jahre nach gewonnener Klage zucke ich noch jedesmal zusammen, wenn ich einen Brief von der Rentenversicherung im Briefkasten habe. Die vielen schlimmen Erlebnisse während des Prozesses wirken bis heute nach. Der Gedanke ein solches Verfahren noch häufiger durchmachen zu müssen – was wahrscheinlich ist – ist ein Albtraum.
Wir leben in Deutschland in einer Gesellschaft, in der jeder in ein System einbezahlt, das dafür gemacht ist, die Menschen zu unterstützen, die unverschuldet in Not geraten. Personen, die denken, es sei eine Verschwendung ihres Einkommens, weil sie selbst von dem System nichts haben, können sich glücklich schätzen. Denn offenbar haben sich diese Menschen bislang nicht in der Situation wiedergefunden, in der ihr Leben von der Empathie, Güte und dem Verständnis einer Gesellschaft abhängig ist, die denkt, berentet zu sein aufgrund einer Krankheit, wäre wie Urlaub.
January 29, 2020
Wo bleibt all das hübsche Geld?
Der Staat gibt eine Menge aus. Und bewegt damit viel. Doch ginge es vielleicht noch effektiver? Eine Spurensuche der versunkenen Kosten
Es gibt ja eine Menge Kreativitätsgurus. Die entfalten einen Budenzauber, damit man sich besser fühlt, zumindest für einen Moment. Wir wissen halt oft nicht weiter, bei einem Problem, einer unklaren Sachlage. Und dann kommt der Kreativitätsguru um die Ecke gebogen und ruft: „Denk doch mal outside the box!“
Das soll kreativ klingen, hat auch den Hauch von Wilder Westen – schließlich geht es ums Ausbrechen aus gewohnten Denkprozessen, aus Gewohnheiten und darum Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Eben um einen Aufbruch.
Meist halte ich diese Predigten für Humbug. Wir alle stecken in unserer Box, und das hat gute Gründe. Schließlich bauen Erkenntnisse aufeinander auf, jedes Kulturverhalten stützt sich auf Erfahrungen, die in die Altsteinzeit zurückführen. Da mal kurz zur Seite springen, um einen ultrakreativen Gedanken zu backen? Na ja.
Doch ich versuch das mal. Und zwar bei einem Thema, bei dem eine feste, solide Box viel Sinn macht, und von dem ich kaum Ahnung habe, nämlich dem Geld. Genauer gesagt, versuche ich als Nicht-Ökonom zu schauen, ob all das öffentliche Geld effektiver ausgegeben werden könnte. Ich nenne es mal als Laie das Phänomen der versunkenen Kosten.
Wirtschaftspsychologen lehren uns, dass wir uns um sie nicht scheren sollen. Denn es handelt sich um jene Kosten, die man bei einem Projekt unwiederbringlich ausgegeben hat – unabhängig davon, ob das Projekt einen Erfolg hat oder nicht. Ein Beispiel: Wenn ich plane Geld zu verdienen, indem ich Lollis auf der Straße verkaufe, dann investiere ich Geld in den Bau eines Lollistands. Nach einiger Zeit ist der Stand halb fertig, ein paar Euronen von meinem Ersparten weg, und mir kommen Zweifel, ob das mit dem Lollistraßenverkauf eine gute Idee ist. An dieser Stelle kommt der Wirtschaftspsychologe herbeigesprungen und ruft, zu Recht: Für die Entscheidung, wie es weiter gehen soll, ist das bereits investierte Geld unwichtig! Es ist eh weg, halt versunken. Wichtig dagegen ist zu überlegen, ob weiter investiert werden soll oder nicht.
Von dieser „Sunk-Costs“-Lehre biege ich jetzt auf ganz andere Gleise ab und nehme ich mit: Denken wir mal zielgerichteter beim Geldausgeben. Und dann ergibt sich vielleicht ein Blick auf Kosten, die versunken sind und die wir heben könnten. 362 Milliarden Euro plant der Bund in diesem Jahr 2020 an Ausgaben. Das spürt man auch. Deutschland ist, ganz grob betrachtet, kein Land lauter bitterarmer Bürger. Und dennoch springe ich jetzt gedanklich aus der Box.
Die allermeisten Ausgaben des Bundes sind zielgerichtet und kommen dort an, wohin der staatliche Absender sie sehen will. Aber könnte man auf anderem Wege vielleicht mehr erreichen?
Da ist zum Beispiel der Straßenbau. Autos verursachen Schäden, die stetig repariert werden müssen. Hinzu kommen Kosten für Folgeerkrankungen an Abgasen, zumindest in den Städten. Warum werden solche Gelder nicht umgeleitet in einen kostenlosen Öffentlichen Personennahverkehr?
Die Stadt Kopenhagen, um mal in eine andere Box zu springen, hat irgendwann entschieden echte Fahrradstraßen zu bauen, und zwar entsprechend breite. Das führte nicht nur dazu, dass mehr Leute mit dem Fahrrad fahren, sondern dass sie auch nebeneinander fahren können. Dies wiederum hatte mehr Kommunikation zur Folge, meist gute, und Experten in Public Health konnten ermessen, dass die Bürger Kopenhagens dadurch glücklicher geworden sind. Eine Endfolge: Diese Bürger sind gesünder und weniger krank, kosten also an anderer Stelle weniger Geld.
Oder das Bildungssystem: Dass Bildung ein Schlüssel zum Erfolg ist, hat sich herumgesprochen. Dass aber das Ausbleiben von Bildung zu Misserfolg mit gesellschaftlichen Folgeschäden führt, auch finanziellen, wird gern ignoriert. Frankreich zum Beispiel hat in so genannten Brennpunktschulen eine Politik der kleinen Klassen eingeführt – in denen lernt man besser und mehr. In Deutschland hat man auch Brennpunktschulen ausgemacht und fördert sie besonders; kleinere Klassen gehören nicht explizit dazu.
Nicht wenig Geld fließt in die Gesundheit. Doch warum residieren die Krankenkassen in Bürotürmen, als wären sie Ölscheichs? Wie viel Geld versinkt in so genannten Verwaltungskosten, anstatt direkt in Pflege und Behandlung zu fließen? Warum leisten wir uns ein privates Versicherungswesen, welches die Gesellschaft nur teilt? Und warum wird der Bereich der Prävention nicht massiv ausgebaut, sondern gewartet, bis Leute krank werden?
Ähnlich große Bauten verzeichnen Sozialträger. Es wäre interessant auszurechnen, wie viel von den staatlichen Ausgaben direkt bei den Empfängern ankommen, zum Beispiel bei den Menschen mit Behinderung. Meine Vermutung: In den Mitteletagen versandet einiges, und dahinter steckt kein böser Wille, sondern gewachsene Tradition oder eben ein Denken nicht über den Schachtelrand hinaus. Wie wäre es zum Beispiel mit einem echten lebenslangen „Persönlichen Budget“ für Menschen mit Behinderung? Eines, das sie effektiver unabhängiger macht, sie in den Allgemeinen Arbeitsmarkt bringt, dort belässt und Steuern zahlen lässt? Mit Leistungen aus einer Hand und nicht aus einem Strauß an Kompetenzträgern, von denen oft nicht der eine weiß, was der andere denkt und macht?
Wir brauchen eine Denke, die sich an Folgekosten orientiert, welche sich in der Gegenwart verstecken und erst in der Zukunft entstehen. Und ein Denken, das den Menschen mehr selbst ermächtigt, ihm in seinen Potenzialen vertraut. Verrücken wir uns also selbst, ein bisschen!
January 27, 2020
Nein.
Eine junge Frau im Rollstuhl und roten Lippenstift redet los: „Ich gehe seit kurzem in eine Therapie…“ und ehe sie den Satz beenden kann folgt ein verständnisvolles, bemitleidendes Nicken. Dass der gesellschaftliche Umgang mit einer Behinderung und nicht die Behinderung selbst der Grund für seelischen Notstand sein kann – darüber denkt der Kopfnicker nicht.
Meine Behinderung begleitet mich mein Leben lang. Sie war mein Feind und lange Jahre ein Hindernis. Man sei nicht behindert, man wird behindert – die Erkenntnis offenbart sich, sobald man das erste Mal spürt: Scheiße, ich werde kämpfen müssen, um (hier beliebig einfügen: eine Ausbildung zu machen, selbstbestimmt zu leben, das notwendige Hilfsmittel bewilligt zu bekommen und und und).
Das allererste Scheitern an einer unerfüllten Sehnsucht verändert das Leben eines Menschen mit einer Behinderung. Es ist kein einfacher Weg und dazu nennt er sich so merkwürdig – die Inklusion.
Ich erinnere mich an einen Ablehnungsbescheid für meinen Rollstuhl von vor drei Jahren. Ich las den Brief der Krankenkassen und weinte über die Ungerechtigkeit, für die er stand. Scheiße, ich werde kämpfen müssen. Heute sitze ich in diesen Rollstuhl und mir fällt auf, dass sich für mich mehr verändert hat als nur das.
Ich möchte „Ja!“ zu (m)einem Leben mit Behinderung sagen – doch höre oft nur „Nein!“ und zwar seitdem ich zu fragen wage. Es geht nicht um die Verwehrung eines neuen Rollstuhls, einer umfangreichen Assistenz oder Nichtbewilligung einer gesundheitlich notwendigen beruflichen Umschulung und Folgen dessen, auch wenn diese indiskutabel sind. Dahinter stehen menschliche Bedürfnisse und grundlegende Sehnsüchte.
Blickt man dahinter, erkennt man es: auf der tiefsten Ebene ist es immer sie – die Ablehnung, ein emotionales „Nein“ gerichtet an einen anderen Menschen. Darüber möchte ich sprechen.
Es ist nicht gerade schwer zwischen negativen Entscheidungen und Diskussionen mit Sachbearbeitern emotional abzustumpfen. Es ist äußerst schwer, sich nicht dadurch brechen zu lassen und die eigene Würde, aber auch den Selbstwert aufrecht zu erhalten, denn die Situationen der Ablehnung sind zermürbend und anstrengend. Nixlusion. Es ist ein belastendes Erlebnis, auf alltäglicher Basis nicht ernst genommen zu werden und es verletzt einen zu spüren zu bekommen, man sei ein problematischer Einzelfall der Gesellschaft.
Lasset es sein mit diesem „Nein!“. Ich möchte nicht kämpfen, eine gemeinsame Tasse Tee und ein offenes Gespräch auf Augenhöhe wäre mir lieber. Darum geht es in der Inklusion, oder?
January 22, 2020
Das Ding mit dem Tellerrand

Karriereratgeber preisen Scheitern als Chance für beruflichen Aufstieg an: alles eine Frage der Erfahrung. Und wenn es die nicht gibt? Wenn Menschen mit Behinderung zwischen Wohneinrichtung und Werkstatt tingeln, bewegen sie sich auf wenigen, ausgetretenen Pfaden – die Karriereberater wären nicht begeistert.
Mein Freund Holger und ich trafen uns immer im selben Café; es war eben in der Nähe, barrierefrei erreichbar, die Kellner*innen freundlich, der Kaffee lecker. Ich war zufrieden, dieser Ort bot mir alles, was ich in genau dem Moment wollte. Holger dagegen fand das irgendwann langweilig; er würde noch so viele andere tolle Cafés kennen, also warum immer in dasselbe gehen? Bis dato hatte ich mir gar keine Gedanken darüber gemacht, warum auch? Ich hatte schließlich alles, was ich brauchte. Aber als Holger anfing von den anderen Cafés zu berichten, bekam auch ich Lust diesen Orten einen Besuch abzustatten und Neues zu erleben. Da draußen gibt es halt viel mehr, als vier Wände bieten.
Es gibt Sinnsprüche, die sind nicht besonders sinnvoll. “Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß” zum Beispiel, oder: “Was der Bauer nicht kennt, isst er nicht.” Letzterer ist durch dieses aufgezeigte Essverhalten nicht automatisch ein glücklicherer Mensch, dachte ich mir. Kennenzulernen gibt es eben einiges, und das müssen keine Walderdbeeren aus einem südamerikanischen Vulkankrater oder getrocknete Moosbeeren vom Nordpol sein. Im Gegenteil, Ausflüge bilden, sie erweitern den Horizont – und wer will, kann dann ja ins Café in der Nähe zurückkehren, wie gesagt: Der Kaffee hatte ein tolles Aroma.
Diese kurze Anekdote mit Holger skizziert nicht nur, wie die Idee der Wheelmap entstand, die Online-Karte zum Finden und Markieren rollstuhlgerechter Orte. Sie zeigt auch, inwiefern der Austausch mit Anderen Lust auf Neues weckt und Perspektiven eröffnen kann, zu denen man vorher keinen Zugang hatte, weil einem die nötigen Informationen fehlten.
In den eigenen vier Wänden dauerhaft bleiben, das Sammeln von Erfahrungen herunterfahren und sich in gewohnten Strukturen bewegen – so sieht auch nicht selten die Wohn- und Arbeitssituation von Menschen mit Behinderung aus.
Für Menschen mit Behinderung gibt es Förderschulen, in denen sie von nichtbehinderten Kindern separiert unterrichtet werden. Immer nur unter “ihresgleichen” gewesen, scheint separiertes Wohnen und Arbeiten wie eine logische Konsequenz aus der gesonderten Beschulung, da keine anderen Perspektiven geboten werden. Man kann es Aussonderung nennen, auch wenn es gut gemeint ist.
Und so sagen es Mitarbeiter*innen aus Wohn- und Pflegeheimen oder Werkstätten oft: “Aber den Menschen geht es doch gut hier bei uns, sie sind glücklich!”, “Manche können eben nur an einer Förderschule unterrichtet werden/ in einer Werkstatt arbeiten.” Oder auch “Die Leute fühlen sich nicht ausgeschlossen, die fühlen sich hier wohl!”. Wohlgemerkt, diese Perspektive stammt von Menschen, die dazu ausgebildet werden Menschen mit Behinderung in ihrem Leben zu begleiten, bei Entscheidungen zu beraten sowie ein selbstbestimmtes und selbstständiges Leben zu ermöglichen. Aber oft tun sie mit dieser Haltung genau das Gegenteil. Denn sie schützen sie vor Herausforderungen, Veränderungen und Grenzerfahrungen.
Sicherlich sind viele Menschen in Einrichtungen nicht unglücklich. Aber leben sie ein erfülltes Leben, können sie dort ihr ganzes Potenzial ausschöpfen? Wer entscheidet, was für sie Glück bedeutet? Man sollte sich bei solchen Behauptungen, dass andere glücklich sind, folgende Fragen stellen:
Was sagen eigentlich die betroffenen Menschen selbst dazu?Wurden die Menschen darüber informiert, dass es Möglichkeiten gibt außerhalb eines Heimes zu leben bzw. außerhalb einer Werkstatt zu arbeiten?Wenn ja, wurden sie diesbezüglich über Unterstützungsmöglichkeiten in Kenntnis gesetzt?Haben sie die Möglichkeit, auf Basis dieser Informationen eine freie Entscheidung zu treffen?
Es ist erschreckend zu sehen, wie wenig diese Fragen gestellt werden. Bei meinen Besuchen in solchen Einrichtungen stelle ich immer wieder fest, dass weiterhin großer Nachholbedarf bei der schlichten Aufklärung über Rechte und Ansprüche besteht – und die sind ja auch nicht gerade üppig.
Wie Einrichtungen ticken und handeln, zeigen sie oftmals eine Orientierung an einem medizinischen und defizitären Modell von Behinderung. Wie in diesem Artikel schon ausführlich dargelegt, werden Menschen mit Behinderung in Einrichtungen separiert, abhängig gehalten und erleben keinen alltäglichen, selbstverständlichen Umgang auf Augenhöhe; da beißt die Maus keinen Faden ab. Betreuende und Pflegende sehen sich häufig eher als Vormünder anstatt als Unterstützer*innen, und sie agieren eher aufgrund vermeintlicher Wünsche und Vorstellungen und nicht aufgrund tatsächlicher.
Ja, vielleicht erscheinen die Menschen erstmal zufrieden – denn für das Notwendige ist gesorgt, viele Grundbedürfnisse sind (in der Regel) erfüllt.
Man kennt sich, kann miteinander lachen, ist weniger Belastungen und mehr Verständnis ausgesetzt. Wenn sie aber nur von anderen umgeben sind, die den gleichen Aktivitäten nachgehen, sich immer mit denselben Leuten unterhalten, die ähnliche Gedanken haben, weil sie sich mit immer gleichen Dingen beschäftigen – woher sollen die neuen Perspektiven kommen? Von nichtbehinderten Vorgesetzten oder Betreuenden, die in der Regel kein großes Interesse daran haben, ihre besten Mitarbeiter*innen in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu vermitteln? Sicherlich nicht. Denn das macht ja erstmal Arbeit und gefährdet den wirtschaftlichen Betrieb.
Fest steht, dass der gängige Umgang mit Menschen mit Behinderung in Wohneinrichtungen und Werkstätten in der Regel nicht der Inklusion entspricht. Teilhabe, Selbstbestimmung und freie Entfaltung der Persönlichkeit können schlichtweg nicht stattfinden in einem System, das die genannten Punkte meist nur in einem festgesetzten Rahmen und unter fremdbestimmten Annahmen zulässt.
Was steckt hinter diesem ganzen Phänomen? Die Angst vor großen Veränderungen? Oder die Unlust seine eigene Komfortzone zu verlassen, um sich und seine Arbeit kritisch zu reflektieren? Oder einfach nur der “gute Wille”, das Gefühl der Mehrheitsgesellschaft Menschen mit Behinderung immer und vor allem schützen zu müssen? Wovor denn? Davor, Unannehmlichkeiten zu erfahren, Fehler zu machen, zu scheitern?
Warum haben nicht auch Menschen mit Behinderung das Recht aus ihren Fehlern und Herausforderungen zu lernen oder nach einem Tief ein Hoch zu erleben?
Zumindest zeigt es deutlich, dass im Großen und Ganzen Nicht-Behinderte über Menschen mit Behinderung reden und entscheiden, anstatt mit ihnen gemeinsam zu diskutieren, ihnen konstruktiv zuzuhören und sie in Entscheidungen mit einzubeziehen.
Ich bin dann also mit Holger los, hin zu einem seiner vorgeschlagenen Cafés. Der erste Ort war eine Katastrophe. Der Kaffee kam lauwarm, der Apfelkuchen schmeckte nach Füßen. Aber ich lernte dort Kellnerin Eva kennen und sie erzählte mir einige gute neue Witze. In einem weiteren Café zog es wegen der kaum isolierten Fenster wie Hechtsuppe, aber ich sah am Nebentisch erstmals einen metallenen Handofen, mit dem sich ein Gast wärmte; solch einen hab ich jetzt auch. Wohin es als nächstes geht? Schauen wir mal. In die Wheelmap.
January 20, 2020
Drängt mir keine Hilfe auf
Wenn es um das Thema „Hilfe“ geht, gehen die Meinungen sehr auseinander. Nicht nur bei Menschen mit Behinderung, sondern bei den Menschen, denen wir täglich auf der Straße begegnen. In meinem Beitrag Hilfe gern, doch mit Verstand habe ich darüber geschrieben, und diesen Beitrag in einer regionalen Facebook gruppe geteilt. Und wieder musste ich die Erfahrung machen, dass es erschreckend viele Menschen mit Halbwissen gibt, die dieses vehement verteidigen, und sich nicht davon beeindrucken lassen, dass eben dieses Halbwissen, gepaart mit Handlungen aus dem eigenen Bauchgefühl uns ganz schön in Gefahr bringen können. Menschen, die nicht begreifen wollen, dass man keinen Rollstuhlfahrer ungefragt irgendwohin schiebt, oder eine Person mit Blindenstock versucht in eine U-Bahn zu schieben, oder daran hindern will eine Treppe zu betreten.
Irgendwie bringe ich Verständnis dafür auf, dass Menschen, die nie Berührungspunkte mit unserem Personenkreis hatten, unsicher sind, und sie Fragen haben. Aber ab dem Punkt, wo diese übergriffig werden, und auf ihre Handlungsweise als die einzig richtige bestehen, hört bei mir jedes Verständnis auf.
Also, liebe Menschen auf der Straße! Auch Menschen mit Behinderung werden erwachsen, und damit genauso wie ihr für ihr Handeln selbst verantwortlich. Wenn wir Hilfe angeboten bekommen, ist das grundsätzlich gut. Aber bitte respektiert, wenn wir diese Hilfe höflich ablehnen, oder benennen, wie wir es gern hätten. Erweist uns bitte den Respekt, und sprecht mit uns so, wie Ihr mit jedem erwachsenen Menschen ohne Behinderung auch sprechen würdet. Mit Eurem Mitleid kommen wir hier nicht weiter. Mit Eurem Verständnis dagegen schon.
Und bitte, unterlasst doch Fragen wie „Kann man da nichts machen“ oder „Haben Sie niemanden, der Sie begleitet“. Auch Fragen wie „Wie lange haben Sie das schon“ sind unnötig. Ich zumindest möchte das mit keinem erörtern, dessen Bekanntschaft nur eine Straßenüberquerung lang währt. Auch wenn ich ein kommunikativer Mensch bin, ziehe ich hier meine Grenze.
Über das Thema Helfen habe ich immer wieder geschrieben, weil es ein wichtiges Thema ist. Wie kann man blinden Menschen helfen und wie führt man einen Blinden sind nur zwei davon. Geschrieben für alle die, welche bereit sind mit uns auf Augenhöhe zu kommunizieren.
January 16, 2020
Tweet entlarvt: Berlins Bildungssenatorin hat Inklusion und die Sache mit dem „Elternwillen“ nicht verstanden

Berlin schafft mehr Förderschulplätze – und begründet dies mit Elternwünschen. Preist Senatorin Sandra Scheeres etwa die Wahl zwischen Pest und Cholera?
Manchmal knackt Twitter in den wenigen Worten eine wichtige Erkenntnis. Da ist zum Beispiel ein Tweet des Berliner Bildungssenats, der auf einen Beitrag von mir antwortete:
Berlin wächst und damit auch der Bedarf. Wir werben für die #Inklusion. Aber nicht alle Eltern wollen ihre Kinder in die Regelschule geben. Das kann man nicht einfach ignorieren.
— Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie (@SenBJF) January 14, 2020
Worum geht es? Der Bildungssenat unter Sandra Scheeres hat bekanntgegeben, dass er in 800 neue Schulplätze investiert, allesamt für Kinder mit Lernschwierigkeiten und allesamt auf Förderschulen, die dafür ausgebaut werden. Dieses klare Signal einer Anti-Inklusion hatte ich in einem Beitrag kommentiert.
Nun also zieht sich Scheeres auf die Position zurück: Man sei ja FÜR Inklusion. Dann folgt das berühmte ABER. Und der Elternwille wird vorgeschoben. Das finde ich doppelt unangenehm.
Zum einen ist für Inklusion nicht allein zu werben wie für ein Waschmittel, das sanft auf den Markt gebracht werden muss. Wer Inklusion gut findet, soll dafür eintreten. Wer von der Sinnhaftigkeit von Inklusion überzeugt ist, macht sich an die Umsetzung. Doch der Berliner Schlendrian zeigt an dieser Stelle gewohnterweise in verschiedene Richtungen: Ja, es gibt mehr Schulplätze für Kinder mit Behinderung an Regelschulen. Und nein, diese sind nicht entsprechend gefördert. Und nein nein, Förderschulen sind keine besseren Lernorte – daher ist deren Ausbau fragwürdig.
Die Sache mit dem Elternwillen
Klar, ich stelle mir die besorgten Elternbriefe an den Senat vor: Wie Mutter und/oder Vater in der Nachbarschaft keine richtig gut passende Schule finden, eine gute Förderung für ihr Kind wünschen – und dann die auskömmlich ausgestatteten Förderschulen sehen, sich dafür fürchten, dass ihr Kind in einer Regelschule untergebuttert wird. Da fällt es leicht zu schreiben: „Das kann man nicht einfach ignorieren.“
Nur verschweigt Scheeres das Verursacherprinzip, wenn sie einen Elternwillen anführt. Warum gibt es keine barrierefreie Regelschule in der Nachbarschaft? Eine mit guten Förderbedingungen und einer professionellen Begleitung für Kinder mit Behinderung, wo gemeinsam gelernt wird? Weil Scheeres ihre Schulen nicht entsprechend ausstattet. Es fehlt schlicht der politische Wille. So wird das mit der „Werbung“ für Inklusion nichts.
Einem Elternwillen ist schwer zu widersprechen, sicherlich möchten Eltern das Beste für ihr Kind – und Bevormundung sieht nicht schön aus. Aber bevormundet werden Eltern sowieso, und zwar durch die suboptimalen Bedingungen: durch fehlende Schulplätze, durch schlecht ausgestattete Regelschulen und durch Förderschulen, die zwar state of the art sind, aber in der Regel weiter weg liegen und eben ein Lernklima schaffen, in dem die Schülerinnen und Schüler viel weniger lernen als in einer Regelschule und sie damit den vorgeebneten Weg der Aussonderung beschreiten, der sich in den isolierten Werkstätten dann fortsetzt, Hungerlohn inklusive.
Eltern werden durch auf behinderte Kinder schlecht eingestellte Schulen abgeschreckt.
Auch wird bei dieser Sichtweise, wie sie Scheeres (oder ihre Socialmedia-Redaktion) im Tweet offenbart, die Perspektive der Betroffenen NICHT eingenommen – ein Klassiker. Denn das Recht auf inklusive Bildung ist ein Recht der Kinder, es ist kein Recht der Eltern. Unmissverständlich hat dies die UN-Behindertenrechtskonvention definiert: Die Bildungsstruktur muss jedem Kind gerecht werden, und diese ist inklusiv.
Würden wir endlich Schulen inklusiv denken und gestalten, bräuchte es kein Elternwahlrecht.
Da aber die Umstände hinreichend schlecht sind, gibt es das Wahlrecht für die Eltern zwischen zwei Schulsystemen: Das eine zieht die Sonderwelt auf und wird gefördert. Das andere öffnet die Türen für alle und wird in Wirklichkeit wie Aschenputtel behandelt.
Der Elternwille, hinter dem sich der Berliner Senat versteckt, ist das Resultat einer verfehlten Politik. Dass dann diesem Elternwillen vom Staat dann auch noch die Aufgabe erteilt wird, den Systemwechsel hin zur Inklusion hinzukriegen, für den der Senat ja hübsch „wirbt“, hat einen mehr als bitteren Nachgeschmack. In Berlin gibt es dafür ein Sprichwort: Da macht sich jemand einen schlanken Fuß.
January 13, 2020
manimundo
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