Raúl Aguayo-Krauthausen's Blog, page 31

December 18, 2016

Inklusive, vielfältige Weihnachtsgeschenke-Tipps



Schon in einer Woche ist Weihnachten! Habt ihr schon alles beisammen? Oder gibt’s Geschenkeratlosigkeitsstress?

Hier ganz schnell meine vielfältigen, inklusiven Geschenke-Tipps, die ganz sicher noch vor Weihnachten ankommen!


Bücher für die Großen:

In diesem Jahr war die Bloggerin und Autorin Ninia LaGrande bei mir in der Talkshow und las ein Gedicht aus ihrem Buch vor. Ein schönes, nachdenkliches, großartiges Gedicht. Außerdem gibt es in ihrem Buch noch jede Menge sehr amüsante und tolle Kurzgeschichten, in denen man sich nicht selten grinsend ertappt fühlt (wer hat nicht schon mal darüber nachgedacht, was Steckdosen und Gerätestecker miteinander treiben, wenn sie zu nah beieinander liegen – obwohl man sie ja vorsorglich aus steckte – und der Gerätestecker den Strom riechen kann…? Du nicht? Wirklich nicht? Dann musst du das Buch von Ninia erst recht lesen! Und verschenken.):

… und ganz, ganz viele Doofe!


Ebenfalls bei mir in der Sendung war die Bloggerin Laura Gehlhaar – auf die Ausstrahlung der Show müsst ihr allerdings noch ein bisschen warten. Aber es gibt ja schon ihr wunderbares Buch! Und das ist auch schon ein nächster Geschenk-Tipp: Wer es tabulos und direkt mag, für den ist dieses Buch goldrichtig. Laura beschreibt Geschichten aus ihrem Leben, die tatsächlich passiert sind. Einige sind unterhaltsam und vergnüglich – andere lassen einen

Auf jeden Fall ist man die ganze zeit ganz nah dabei und es fällt schwer, das Buch wieder aus der Hand zu legen. Und zum Schluss weiß man ganz sicher ein bisschen mehr über des Leben in Kooperation mit einem Rollstuhl, Berlin, Kopf- und Herzensbrüche:

Kann man da noch was machen? Geschichten aus dem Alltag einer Rollstuhlfahrerin.


Bücher für kleine und große Kinder:

Antonia war schon mal da” ist eine ganz wunderbare und charmante Geschichte über vier Freunde, die die Welt erkunden wollen. Am liebsten hätten sie ihre Freundin Antonia auch mit auf Reisen genommen, aber die bleibt lieber in ihrem heimischen Garten – denn sie war schon überall. Kaum zu glauben? Aber wahr – wie sich herausstellt. Überall, wo die vier Freunde hinkommen, finden sie Zeichen von Antonia.

Das Buch ist eine Mischung aus Erzähl-Bilderbuch in Reimform (keine Angst, es sind keine gezwungenen, blöden Reime, sondern leichtzüngige, feine) und Wimmelbuch. Und es gibt auf allen Seiten immer wieder Neues zu entdecken – Langeweile hat hier keine Chance (bitte, sucht den Regenwurm, der unter der Erde seinen Hut auf eine Wurzel hängte, bevor er sich in sein Bett kuschelte

ideal ist es aber im Alter zwischen 4 – 8 Jahren.


Ka Schmitz und Cai Schmitz-Weicht kennen viele schon durch ihr Buch “Traumberufe”. Jetzt haben sie gerade ein weiteres Buch im viel&mehr-Verlag veröffentlicht: Esst ihr Gras oder Raupen? Ein Buch über Familien, übers Streiten und Zuhören. Zwei wirklich spezielle Elfen lassen sich von Kindern erklären, wie typische Menschenfamilien aussehen. Typische Menschenfamilien? Gibt es die wirklich? Die eine hat zwei Papas, der andere nur eine Mama, die nächste hat zwei Papas und zwei Mamas und noch jede Menge Geschwister pro Papa und Mama. Eines ist sicher: Es gibt nichts, was es nicht gibt – und das wichtigste ist doch: Man hat sich lieb.

Die Story ist toll und bietet eine Menge Redestoff mit den Kindern über die eigene Familie und die von Freunden und Bekannten. Und es lohnt sich garantiert der Idee des Buches zu folgen und mal alle Familienmitglieder auf Steine, Holz oder Blätter zu malen, hin und her zu schieben, wer wie zu wem gehört.

Ich mag ja ganz besonders die beiden Elfen – die sind nämlich gar nicht rosa und mit goldenen Löckchen, sondern… na, lasst euch überraschen!


Ganz besonders berührt hat mich in diesem Jahr das Buch “Klein” aus dem Klett Kinderbuch-Verlag. Ich kenne kein vergleichbares Buch. Es handelt von einem der schwersten Themen, mit denen zu viele Kinder umgehen müssen: Häuslicher Gewalt.

Ganz behutsam nähert sich das Buch dem Problem – und erzählt betroffenen Kindern durch die Geschichte, dass es sich lohnt, sich anderen Menschen anzuvertrauen und dass es Auswege gibt. Die Zeichnungen von Stina Wirsén sind grandios und gehen unter die Haut.

Verschenkt dieses Buch unbedingt so oft es geht! Am besten auch an Kindergärten, Horte und Schulbibliotheken!


Ein wunderbares Buch vom Verein anderes sehen e.V.: “Wir gehen auf Bärenjagd”. Der Kinderbuchklassiker wurde für sehbehinderte Kinder ganz einzigartig umgesetzt – in Braille-Schrift und mit vielen ertastbaren Elementen. Einfach grandios!

 


Klamotten:

Tolle Shirts und Pullis gibt’s im Shop von Inkluwas, der von Anastasia Umrik gegründet wurde. Ich habe auch schon bestellt und verschenkt – und die Qualität der Sachen ist einfach großartig. Erwachsene und Kinder – für alle gibt es was. Und mein Tipp für alle, die sparen müssen: Es gibt auch sehr schöne Sachen im Sale!

Für große und kleine Kinder zum Spielen oder als Deko:

Ein bisschen verliebt bin ich in diesen kuscheligen Igel im Rollstuhl – und ehrlich gesagt habe ich ähnliches noch nirgends gefunden. Auf meinem Sofa wohnt schon einer der Tanni-Igel mit Ringel-Shirt.

Es gibt ihn in 2 Variationen und es gibt nur noch wenige Exemplare vor Weihnachten, also seid schnell:

Igel mit Ringel-Shirt und Igel im Apfel-Shirt bei RevoluzZza.

Ganz kostenlos:

Für alle, die einen 3-D-Drucker besitzen: Hier könnt Ihr euch Plätzchenausstecher im Rollsuhl-Design selber machen!


(sb)

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Published on December 18, 2016 05:13

December 17, 2016

KRAUTHAUSEN – face to face: Joana Zimmer, Musikerin

In der Sendung „KRAUTHAUSEN – face to face“ lade ich als Moderator Künstlerinnen und Künstler, Kulturschaffende und Medienleute mit und ohne Behinderung zum Talk ein. In “face to face”-Gesprächen tausche ich mich mit einem jeweiligen Gast über künstlerisches Schaffen, persönliche Interessen und Lebenseinstellungen aus. Und natürlich geht es auch ab und zu um das Thema Inklusion.


Als siebten Gast hatte ich die Musikerin Joana Zimmer zu Besuch:



Zum Video mit Gebärdensprache hier entlang.


Jahrelang hat die Musikerin am ersten eigenen Album gearbeitet und großes Lob von allen Seiten bekommen. Doch kurz bevor das Album veröffentlicht werden soll, stoppt die Produktionsfirma alles. Wie Joana Zimmer dennoch die Charts stürmte, erzählt sie in dieser Sendung.


Weitere Informationen zu Joana Zimmer: joanazimmer.com


Erstausstrahlung: 17.12.2016, 9.30 Uhr, Sport 1

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Published on December 17, 2016 02:06

November 24, 2016

Legt die Regierung behinderte Menschen in Ketten?

An den Reichstag ketten, in der Spree baden, sich in einen Käfig sperren: Die Aktivisten im Kampf für ein besseres Teilhabegesetz waren kreativ, aber nur mäßig erfolgreich. Was bedeutet das neue Gesetz aus der Sicht von Menschen mit Behinderung?

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Published on November 24, 2016 03:31

November 18, 2016

Behindert, alt – arm! Und Frauenarmut. Vorprogrammiert? #liebernichtarmdran

 


Altersarmut: Oft Frauensache

Weit über sieben Millionen Minijobs gibt es in Deutsch- land – und ihr größter Teil ist mit Frauen besetzt.

62 % der Minijobs im Gewerbe und 91 % der Minijobs in Privathaushalten leisten Frauen. Sie leiden dort nicht nur unter der ungleichen Bezahlung gegenüber Männern und unter Löhnen auf niedrigstem Niveau: Minijobs sind oft der abschüssige Weg Richtung Altersarmut! Denn durch die sozial meist nicht abgesicherten Jobs rückt Existenzsicherung in weite Ferne. Und was als temporäre Zwischenlösung akzeptabel scheint, entpuppt sich bald als lebenslanger „Normalfall“: Denn die Brückenfunktion in den ersten Arbeitsmarkt ist gering. Frauen sind gegen ihren Willen an Minijobs festgekettet – und die Altersarmut ist vorprogrammiert.


Behindert beim Kampf gegen Armut

Altersarmut ist oft eine Folge von Arbeitslosigkeit – und da fahren Menschen im Rollstuhl und mit anderen Behinderungen ganz vorne mit. Doppelt so hoch wie in der Gesamtbevölkerung ist ihre Arbeitslosenquote (13,9 gegenüber 6,7 % im Jahr 2014) – und mehr als das: Während bundesweit die Arbeitslosigkeit sinkt, ist allen Beteuerungen und Versprechen in Richtung Inklusion für Menschen mit Behinderung dieser Trend gegenläufig. So stieg die Arbeitslosenzahl von Schwer- behinderten seit 2009 um 6,5 %. Schon jetzt liegt der Anteil der Schwerbehinderten an der Gesamt-Arbeitslosigkeit bei 6,3 %. Auch behinderte Menschen in Arbeit sind benachteiligt: Brauchen sie Unterstützungsleistungen in Form von Assistenz (Eingliederungshilfe oder Hilfe zur Pflege) im Alltag, müssen sie große Teile ihres Einkommens dafür abgeben. Ansparen fürs Alter ist so fast unmöglich.


Gemeinsam aktiv gegen Altersarmut!


Die Kampagnenwebseite des SoVD bietet weiterführende Infos, Protestbriefe zum Download und unseren aktuellen Newsletter.


Jetzt handeln!

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Published on November 18, 2016 01:04

November 11, 2016

Krauthausen trifft: Margarete Stokowski über Sexismus im US-Wahlkampf

 

Im ze.tt-Videoformat „Krauthausen trifft“ spreche ich mit Menschen, die inspirieren, über ein aktuelles Thema.

Diesmal mit: Margarete Stokowski.


Die Autorin und Journalistin Margarete Stokowski hat gerade ihr neues Buch „Untenrum frei“ veröffentlicht. Darin geht es um eine gesamtgesellschaftliche sexuelle Befreiung. Aber wie können wir das erreichen, wenn uns gleichzeitig Politiker*innen wie Donald Trump ein genau gegenteiliges antiquiertes Bild vorleben? Ich habe nachgefragt.


(sb)

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Published on November 11, 2016 11:06

October 25, 2016

Das #Heimexperiment – Fünf Tage lebenslänglich

Leben im Behindertenheim. Aus Kostengründen. Alternativlos. Das geplante Bundesteilhabegesetz kann genau das bedeuten, wenn nicht konsequente Änderungen im Gesetzestext stattfinden.

Weil alle bisherigen Protest-Aktionen die entscheidenden Änderungen nicht gebracht hatten, entschied sich die Aktivistengruppe AbilityWatch für ein drastisches Projekt: Ab ins Heim und selbst ausprobieren, was ein Leben in Abhängigkeit bedeuten kann.






“Ambulant vor stationär”

Das geplante Bundesteilhabegesetz kann das Leben vieler Menschen mit Behinderung sehr verändern. Ganz besonders betroffen wären behinderte Menschen, die bereits in einem Heim wohnen, jetzt aber ausziehen und mit Assistenz in einer eigenen Wohnung leben wollen. Und Menschen, denen im Laufe ihres Lebens eine Behinderung passiert: Durch Unfall oder Krankheit. 90% aller Behinderungen passieren im Laufe des Lebens.


Wenn ein Mensch durch eine Behinderung im Alltag Unterstützung benötigt, ist dies außerhalb eines Behindertenheimes durch so genannte Assistenten*innen möglich, deren Job es ist, erforderliche Hilfsarbeiten zu übernehmen.

Entweder arbeiten die Assistenten*innen direkt für den behinderten Menschen, der sie aus dem Persönlichen Budget finanziert. Oder sie sind bei Unternehmen angestellt, die direkt vom Sozialamt bezahlt werden.

Abhängig von der Art einer Behinderung sind im Alltag unterschiedliche Hilfen erforderlich: Unterstützung beim Aufstehen, Waschen, Ankleiden, Essen machen, Hilfe bei Toilettengängen. Der zeitliche Bedarf an persönlicher Assistenz ist je nach Grad der Behinderung vollkommen verschieden.

Die persönliche Assistenz soll Menschen mit Behinderung die gleichberechtigte Teilhabe am Leben ermöglichen. Das heißt: Assistenz ist nicht optional, sondern ein Menschenrecht.

Das Neunte Sozialgesetzbuch (SGB IX) regelt, welche Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe erbracht werden müssen. In diesem Gesetzbuch war bisher festgelegt, dass der Grundsatz „ambulant vor stationär“ gilt.

Aber genau dieser wichtige Punkt wurde nicht mit ins Bundesteilhabegesetz übernommen.

Bis jetzt wurde Assistenznehmern also ermöglicht, selbstbestimmt über das eigene Leben zu entscheiden. Dazu gehört natürlich ganz klar die Wahl des Wohnortes, die Entscheidung mit wem man zusammenleben möchte – und auch sehr wichtig: Welcher Assistent die Hilfsaufgaben übernimmt, die bei pflegerischen Maßnahmen sehr intim werden können. Oder auch Assistenten*innen ablehnen zu können, die nicht so arbeiten, wie man es sich wünscht, grob oder indiskret sind.


Was verändert sich durch den Wegfall des Grundsatzes „ambulant vor stationär“?

Am besten erklärt es sich an einem Beispiel: Ein bisher nicht-behinderter Mensch hat einen Unfall. Nach Krankenhaus- und Reha-Aufenthalt steht schließlich fest: Ohne Hilfe im Alltag wird dieser Mensch nicht leben können; er wird Unterstützung beim Aufstehen, beim Einkaufen usw. benötigen.

Bisher wären diesem Menschen Assistenzleistungen nach Bedarf bewilligt und nach der Regelung „ambulant vor stationär“ alle anfallenden Kosten übernommen worden.

Da jetzt aber dieser Punkt wegfällt, könnte dem neu-behinderten Menschen stattdessen ein Heimplatz angeboten werden, der kostengünstiger als eine individuelle Assistenz wäre.

Wenn der Mensch diesen Platz ablehnte, würde ihm nur noch ein Assistenz-Budget in Höhe der Kosten des Heimplatzes bewilligt, von denen aber eben nicht Assistenz im notwendigen Ausmaß bezahlt werden könnte. Und dem Menschen würde schließlich keine andere Wahl bleiben, als den Behindertenheimplatz zu akzeptieren.


Ab ins Heim

Als immer klarer wurde, dass sich das geplante Bundesteilhabegesetz in eine gefährliche Richtung entwickelt, riefen Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de

Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de

im Spätsommer verschiedene Behinderten-Aktivisten zum Krisentreffen zusammen. Die vergangenen Gespräche mit Politikern, die öffentlichen Diskussionen, publikumswirksamen Demonstrationen, Protest-Aktionen bei Inklusionsveranstaltungen der Parteien und eine erfolgreiche Petition hatten nur bescheidene Resultate gebracht.

Während die Presse sich interessiert zeigte, blieben die entscheidenden Politiker – bis auf wenige Ausnahmen – konsequent fern.



Den Aktivisten war klar: Jetzt müssen andere andere Wege beschritten werden. Man diskutierte was möglich ist, was eventuell zu weit geht und was man sich ab jetzt nicht mehr bieten lassen würde. Ein Ergebnis dieser Tage war die Gründung der Disabled People’s Organisation (DPO) AbilityWatch. Das Motto: Nichts über uns, ohne uns!.

Einer der schwerwiegendsten Punkte im geplanten Teilhabegesetz wäre der Verlust der Selbstbestimmung. Wenn Menschen gegen ihren Willen in Heime gezwungen würden.

Deshalb stand dieses Thema bei den Aktivisten ganz oben auf dem Aktions-Plan:


Dann probieren wir das einfach aus. Und weisen uns selber ein!


Raus aus dem selbstbestimmten Leben mit Assistenz – ab ins Heim. Schnell war klar, dass der „Prominenteste“ der Gruppe die Idee in die Tat umsetzen sollte, um möglichst viel Aufmerksamkeit zu erregen: Raúl Krauthausen.

Damit das Ganze ein großes Publikum erreichen würde, mußte ein guter Medienpartner her. Eine Produktionsfirma, die mit Stern TV zusammenarbeitet, gab erstaunlich schnell grünes Licht: Stern TV war mit im Boot! Um dem Publikum später Raúls Erlebnisse präsentieren zu können, stellte die Produktionsfirma ihm eine versteckte Kamera.

Zunächst musste ein passendes Heim gefunden werden. Dabei war klar: Es geht nicht darum, ein bestimmtes Behindertenheim vorzuführen, sondern allgemein mehr über das Leben in einer derartigen Einrichtung zu erfahren.

Und man musste sich überlegen, wie man verhindert, dass Raúl sofort erkannt wird. So vorteilhaft die „Prominenz“ für starke Medienpartner war, so sehr barg sie die Gefahr aufzufliegen. Frederik & RaulSein Klarname konnte für die Anmeldung im Heim natürlich nicht verwendet werden. Ein anderer Name musste her. Und eine Story, die seinen Aufenthalt im Heim plausibel machte. Also nahm Raúl leihweise die Identität seines alten Schulfreundes Frederik Heinrich. an.


Schließlich könnte es sein, dass man ihn zur Identifikation nach seinem Personalausweis fragen würde. Eine echte Krankenkassenkarte wäre nicht nötig, der Aufenthalt würde privat bezahlt werden. Frederik ist im gleichen Alter und ebenfalls Glasknochenbesitzer. Die 20 cm Größenunterschied würde man hoffentlich nicht bemerken: Das Klischee, dass Menschen mit Glasknochen sich alle irgendwie ähnlich sehen, wurde nun zum Vorteil.

Aus Raúl wird Frederik. Mit Stern TV ging es noch zum Friseur, eine andere Brille wurde besorgt, Jogging-Klamotten in Kindergröße im Krankenhaus-Style geshoppt und die „Mann mit der Mütze“-Kopfbedeckungensammlung würde Zuhause bleiben. Ebenso der große und auffällige elektrische Rollstuhl. Auch wenn das bedeutete, dass Raúl in seinem kleinen Schieberollstuhl sehr auf Hilfe angewiesen wäre. Kurze Strecken könnte er selbständig damit zurücklegen. Aber wenn es darum ginge, das Haus zu verlassen, würde das alleine nicht möglich sein.






Die fiktive Frederik-Geschichte:

Frederik wohnt noch Zuhause bei der Mutter und arbeitet in Berlin in einer Behindertenwerkstatt. Weil die Mutter verreist, muss Frederik in die Kurzzeitpflege. Sein „Cousin“ – ein Assistent von Raúl – bringt ihn ins Heim und wird ihn dort regelmäßig besuchen, um Speicherkarten aus der versteckten Kamera auszutauschen.


Zum Schluss waren sich alle einig: Das könnte klappen!


Raúls Heimtagebuch
Tag 1:

Fahre zusammen mit meinem Assistenten per Bahn zum Heim. Mir ist mulmig. Was wird mich erwarten? Zum Glück gibt es nachher noch ein Treffen mit den Stern TV-Leuten, die ich schon kenne. Danach wird es echt ernst.


Stern TV-Treffen vorbei, man hat mir nochmal alles zum Thema Kamera, Speicherkarten usw. erklärt, wir haben für Mitte der Woche ein weiteres Treffen verabredet. In einem kleinen Accessoire trage ich nun auf meinem Schoß den ganzen Tag eine versteckte Kamera mit Mikro mit mir herum. Hoffentlich fällt es mir nicht runter und alles fällt auseinander.


Gegen Nachmittag schiebt mein Assistent mich die letzten Meter zum Heim. Das mulmige Gefühl wächst.


Die ersten Begegnungen mit den Mitarbeitern: Alle nett. Man ist sich wohl nicht so sicher, ob man mich duzen oder siezen soll. Auch spricht man mehr mit meinem Assistenten/Cousin als mit mir und erklärt ihm alles notwendige. Wenn ich etwas aus dem Kühlschrank der Heimbewohner möchte, einen Joghurt oder so, muss ich fragen. Weil einer der Heimbewohner zu viel ißt, hat man ihn abgeschlossen. Ich stutze.

Ich werde von zwei Stationen betreut, der einen morgens, der anderen abends. Es fallen Worte wie „Entlastung” und ich fühle mich schon jetzt wie eine Last, die man nicht einer Station alleine aufbürden will.

Ich habe einige Probleme in meine Rolle zu finden. Fühlt sich an wie betrügen.


Man zeigt mir mein Zimmer. Ein kahler Raum mit Krankenhausbett, Krankenhausnachttisch und Schrank. Kein Schreibtisch. Keine Nachttischlampe. Auf der Matratze liegt eine Auflage gegen mögliches Einnässen.


Ich treffe die anderen Heimbewohner, alle super nett. Ich bin der einzige ohne E-Rolli. Damit sind alle anderen eindeutig schon mal selbständiger als ich.


Ich war noch nicht auf der Toilette. Habe große Hemmungen mit Fremden zu gehen. Schließlich bitte ich darum, als es nicht mehr anders geht. Der Schock: Gleich drei Mitarbeiter gehen mit. Ein Mann und zwei Frauen. Sie wollen gemeinsam sehen, wie es geht, mich aufs Klo zu setzen. Alle haben blaue Handschuhe an. Ich muss an eine Dokumentation über eine Fischverarbeitungsfabrik denken, in der die Mitarbeiter blaue Handschuhe trugen. Warum sind die hier nicht einfach hautfarben? Es wirkt klinisch. Die Tür zum Stationsflur steht weit offen, ich traue mich nicht etwas zu sagen. Hoffe, dass jetzt niemand vorbeigeht oder -rollt.


Gemeinsames Abendessen. Mein Rollstuhl ist zu klein für den Esstisch. Ich sitze an einem kleinen Beistelltisch. Fühlt sich nicht gut an. Das Essen schmeckt. Ob es auch Alkohol gibt? Einen Wein oder Bier zum Abendessen trinken wir Zuhause gerne mal.


Ich werde ins Bett gebracht. Es ist 21:00 Uhr. Man hat mir „empfohlen“, zwischen 21:00 und 23:00 Uhr ins Bett zu gehen, weil vor dem Schichtwechsel noch mehr Personal da ist. Aber was, wenn am Wochenende mehrere Leute auf Partys gehen oder ins Kino mit Freunden? Oder auf ein Date? Gibt es am Wochenende dann nach 23:00 Uhr mehr Personal?

Es gibt einiges, was ich in den nächsten Tagen unbedingt noch herausfinden möchte.


Tag 2:

Ich liege im Bett und warte. Man hatte mich gefragt, wann ich aufstehen möchte und ich hatte gebeten um 8:30 Uhr. Jetzt ist es nach 9:00 Uhr.


Kurz nach 9:00 Uhr kommen zwei Mitarbeiter, klopfen zwar, aber lassen die Tür zum Flur offen. Jeder kann in mein Zimmer schauen, während ich aus dem Bett gehoben werde.

Man fragt mich, ob ich duschen möchte und ich bejahe. Welcher Pfleger mich duscht, scheine ich nicht entscheiden zu dürfen und ich habe das Pech, dass sich der laute, gröbere Pfleger gleich an die Arbeit macht. Plötzlich steht eine weitere Pflegekraft im Bad. Ich bin nackt. Privatsphäre gleich Null. Ich schäme mich.


Frühstück mit den Mitbewohnern. Trotzdem ich weiterhin am „Katzentisch“ sitze, komme ich ins Gespräch. Einige Mitbewohner haben einmal pro Woche Assistenz für individuelle Unternehmungen. Einmal pro Monat gibt es einen so genannten „Kreistag“, an dem die Bewohner mit einer Pflegekraft rausgehen können.

Unter den Mitbewohnern gibt es ein Paar. Die beiden haben zusammengelegte Zimmer.


Ich bin den Vormittag über alleine, die anderen Mitbewohner arbeiten in der Behindertenwerkstatt, die sich direkt auf dem Heimgelände befindet.


Die Mittagszeit ist stressig, die Mitbewohner kommen zum Essen nach Hause. Gibt mir das Gefühl, dass das Leben im Heim mit Arbeit in der Werkstatt in sehr kleinem Lebensradius stattfindet. Jeder muss aufs Klo.


Gemeinsames Essen. Ich frage, ob denn auch Essenswünsche berücksichtigt werden. Ja, wenn die Pfleger abends Zeit haben geht das. Oder mal am Wochenende. Am besten, wenn man sich mit anderen Bewohnern abspricht und sich alle dasselbe wünschen. Unter der Woche gibt es pro Tag drei Essen zur Auswahl, am Wochenende zwei. Man muss sich für den Wochenspeiseplan bereits eine Woche vorher festlegen. Und zwar für die gesamte Gruppe! Alle Bewohner einer Gruppe bekommen also pro Tag dasselbe Essen. Für Vegetarier oder Veganer gibt es nur die Beilagen. Morgen ist Schnitzeltag. Moslems müssen das Schnitzel eben weglassen. Ob die Soße dann doch Fleischbestandteile enthält, ist Pechsache.


Gespräch beim Essen:

Ein Bewohner saß nicht richtig und wollte richtig hingesetzt werden.

Bewohner:

Du musst warten, das hast du ja gelernt. Gleich kommt jemand.

Ich:

Warum warten? Wo sind denn die Pfleger?

Bewohner:

Beim Rauchen, die kommen gleich.

Ich:

Aber das ist doch doof, wenn man nicht richtig sitzt und es vielleicht sogar weh tut.

Bewohner:

Ja, für die Raucher ist das doof, wenn man gestört wird.

Ich frage eine Pflegerin, ob mir jemand das Gelände zeigen kann. Keine Zeit. Vielleicht in den nächsten Tagen mit den Pflegeschülern.


Nachmittags holt mich mein Assistent/“Cousin“ für ein paar Stunden aus dem Heim ab zum Speicherkartenwechsel. Wir trinken zusammen Kaffee im Hotel-Restaurant. Es fühlt sich nach Freiheit an. Mit Absicht komme ich zu spät ins Heim zurück, habe das Abendessen verpasst. Möchte sehen, was passiert. Aber es ist alles ok.


Ich sage heute nicht Bescheid, wann ich ins Bett möchte, sondern warte, wer wann kommt. Um 21:20 Uhr kommen drei Pflegekräfte, scheinbar wird immer noch eingewiesen. Alles Frauen. Ich finde es ungewohnt mich von Frauen pflegen zu lassen. Es gibt scheinbar keine Möglichkeit, gleichgeschlechtliche Pfleger zu haben, wenn der Dienstplan es nicht zulässt. Der Plan wird also wohl nicht mit Rücksicht auf diese Bedürfnisse der Bewohner erstellt. Ich fühle mich entsexualisiert.


Tag 3:

Ich liege im Bett und wurde gestern nicht gefragt wann ich aufstehen möchte. Es ist 8:30 Uhr. Wann wohl jemand kommt?


Um 9:05 Uhr kommt eine Pflegekraft, die ich noch nicht kenne. Ohne vorher anzuklopfen steht sie plötzlich vor meinem Bett. Beim Anziehen frage ich nochmal nach, ob mir jemand das Heimgelände zeigen könnte.


Nach dem Frühstück kommen zwei Pflegeschülerinnen, die eine schiebt mich übers Gelände (ich vermisse meinen E-Rollstuhl immer mehr!). Ich stelle Fragen und bekomme einige Antworten: Zum Teil sehr private Infos über Mitbewohner, die ich nicht hören möchte. Aber auch: Manche Bewohner haben erzählt, dass sie sich in der Werkstatt langweilen. Und man kann Alkohol im Heim trinken.

Ich frage weiter: Warum ist der Dienstplan für die Heimbewohner nicht einsichtig? Dann könnte man sich darauf einstellen, welche Pflegekraft wann da ist und man hätte mehr Überblick.

Schulterzucken bei den Pflegeschülerinnen.

Plötzlich habe ich das Gefühl, dass ich zu viele Fragen stelle. Ich möchte nicht auffallen.


Als wir wieder zurück im Heim sind, frage ich explizit nach einem bestimmten Pfleger für den Toilettengang. Es klappt.

Ich habe ein bisschen Hunger, ein Joghurt wäre jetzt super. Aber der der Kühlschrank ist ja zugeschlossen und gerade kein Pfleger in Sicht.


Mittagessen mit den Mitbewohnern. Ich mag sie alle und höre ihnen gerne zu.


Nach dem Mittag quatsche ich mit ein paar Bewohnern. Manche würden schon gern länger wachbleiben, aber abends rausgehen ist nicht so leicht. Es gibt im Ort ein Kino, aber Kinogänge zu organisieren ist wohl schwierig. Eine Teestube gibt es auf dem Gelände, manchmal ist da Disko. Freitags ist sie geschlossen. Aber da wäre man ja nur unter sich und würde ewig dieselben Gesichter sehen.

Einige Bewohner sehen das hier als ihre letzte Bleibe. Trauen sich nicht auszuziehen.


Mein „Cousin“ holt mich ab. Wir treffen uns mit dem Stern TV-Redakteur und gehen zusammen essen. Ich fühle mich für kurze Zeit, als würde mein echtes Leben wieder stattfinden. Ich esse, wonach mir ist, trinke ein halbes Glas guten Wein, mein mir vertrauter Assistent bringt mich auf die Toilette. Ich bestimme, was wie und wann passiert.


Gegen 23:20 Uhr kehre ich ins Heim zurück. Die Tür ist zu. Wir klingeln, ich bin leicht besorgt, was jetzt passiert. Alles kein Problem. Ich bitte den Nachtpfleger noch um einen Joghurt, esse die Kleinigkeit und werde danach ins Bett gebracht.


Ich liege im Bett und bin kurz davor einzuschlafen. Plötzlich stürmt eine Pflegerin ins Zimmer, Licht an, kein Anklopfen vorher. Sie wisse, wer ich sei, habe ein Video auf YouTube über mich gesehen. Nichts von wegen in einer Werkstatt arbeiten, ein Doktor sei ich. Ob ich sie hier ausspionieren wolle oder was. Mir wird ganz schlecht vor Schreck: Ich bin entlarvt! Bis ich begreife, dass sie gar nicht Raúl Krauthausen entdeckt hat, sondern ein altes Video über meine Leih-Identität Frederik, der tatsächlich Doktor für Bio-Chemie ist. Erleichterung. Trotzdem fühle ich mich so kurz vorm Einschlafen mit der Situation überfordert, stottere etwas davon, dass sie mich mit dem Frederik aus dem „Marienhof“ verwechselt. Der Charakter in der Vorabendserie trägt den selben Namen wie mein alter Schulfreund. Aber sie widerspricht. Es ginge nicht um Marienhof, sondern um einen Doktor aus Berlin, der ebenfalls Frederik Heinrich heisst und der bestimmt nicht in einer Behindertenwerkstatt arbeitet! Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll und versuche das Gespräch zu beenden, ich sei müde und möchte jetzt meine Ruhe. Schließlich geht sie.

Muss ich das Experiment abbrechen?


Tag 4:

Ich habe ein bisschen Sorge vor dem kommenden Tag. Was wird mich erwarten? Wissen jetzt alle Bescheid? Alle Pflegekräfte? Vielleicht auch alle Bewohner? Wie werden sie mit mir umgehen? Fühlen sie sich betrogen? Und haben sie damit vielleicht auch Recht? Aber hätten wir es anders machen können – das Leben im Heim auszuprobieren und damit aufmerksam zu machen, was das alles bedeutet? Welche Abhängigkeiten dadurch entstehen? Ich bin hin- und hergerissen.

Um kurz nach 9:00 Uhr kommt der Pfleger. Ich warte, ob er mich auf die Entdeckung der Kollegin anspricht. Aber nichts.

Beim Frühstück mit den Mitbewohnern ist alles wie immer. Die Pflegerin scheint nichts erzählt zu haben. Dabei hatte sie noch gesagt, es gingen die wildesten Gerüchte über mich um. Ich werde mich heute unauffällig verhalten.


Den Vormittag über bin ich wieder alleine, die anderen sind wie immer in der Werkstatt. Ich denke viel nach. Ja, ich veranstalte hier eine Undercover-Sache und man kann auch sagen, dass ich etwas vorspiele. Trotzdem finde ich es nicht in Ordnung, dass ich als Bewohner von Pflegekräften gegoogelt und damit quasi ausspioniert werde. Und noch schlimmer finde ich, dass ich damit in einer Abhängigkeitssituation konfrontiert werde: Im Bett liegend. Ich kann mich nicht selbständig aus der Situation herausbewegen, kann nicht einfach das Zimmer verlassen. Kann nicht aktiv reagieren. Ein respektvolles Miteinander ist etwas anderes.


Beim Toilettengang wird wieder die Tür zum Heimflur offen gelassen. Als draußen Leute vorbeigehen werde ich mutiger und fordere den Pfleger auf, die Tür zu schließen. Er macht es.


Am Nachmittag besuche ich eine Mitbewohnerin in ihrem Zimmer und sie erzählt über ihr Leben vor diesem Heim. Wir fahren zusammen zum gemeinsamen Abendbrot mit den übrigen Bewohnern. Danach schauen einige zusammen Fernsehen im Essensraum. Ich auch.


Ich liege im Bett. Es ist die letzte Nacht. Ich bin sehr nachdenklich. Einige der Mitbewohner, die ich hier kennenlernte, werde ich auf jeden Fall vermissen. Was mich sehr stört hier sind die Massen an Leuten, die ständig im Heimflur unterwegs sind: Pflegekräfte, Putzleute, Reparaturservice, Caterer usw. Man hat da schnell den Überblick verloren und kommt sich wie auf einem Bahnhof vor. Ganz besonders, wenn dann noch bei Toilettengängen die Türen weit offen stehen gelassen werden und alle diese Leute einem zuschauen können, wie man gerade auf dem Klo sitzt.

Ich wünsche mir, dass Planer von Heimen und Prozessen selber einmal hier leben müssen.


Tag 5:

Letzter Tag.

Wie jeden Morgen, werde ich später geweckt als ich gebeten hatte. Aber heute ist es mir egal.


Alles läuft wie automatisch ab, aufstehen, frühstücken, ich verabschiede mich schnell von den Mitbewohnern, mit denen ich die letzten Tage zusammengelebt habe. Alle sind schon in Eile, um noch schnell auf die Toilette und dann in die Werkstatt gebracht zu werden.

Ein Pfleger packt meine Sachen. Ich drehe mich nochmal um und schaue in das leere Zimmer. So steril und anonym wie am ersten Tag. Ich werde es nicht vermissen.

Insgesamt bin ich unendlich froh, dass es wieder nach Hause geht. Dass ich in mein selbstbestimmtes Leben zurück kann, meine Assistenten ihre Dienstpläne nach meinen Terminen und Bedürfnissen richten. Und ich mich nicht an rigide Planungen halten muss, die für eine ganze Heimstation gelten.


Nachtrag: Ich habe in meinem Tagebuch kaum etwas über die Gespräche mit den anderen Bewohnern aufgeschrieben, um ihre Privatsphäre zu schützen. Es gab viele schöne und spannende Zusammentreffen dort, die ich sehr genossen habe.


Mehr Infos gibt es hier: Heimexperiment.de


Macht mit!

Für uns ist dieses Projekt nach Verlassen des Heimes nicht einfach abgeschlossen. Den kurzen Blick auf das Leben in einem Behindertenheim, wollen wir erweitern.

Deshalb würden wir gerne deine Erlebnisse mit dem Leben im Heim erfahren. Gute und schlechte. Lustige und traurige. Befreiende und einschränkende.

Hast du dich selbst entschieden in einem Heim zu leben? Oder gab es scheinbar keine andere Möglichkeit? Hast du es vielleicht sogar geschafft, aus dem Behindertenheim auszuziehen und lebst jetzt in deiner eigenen Wohnung mit Assistenz?

Schreib mir!


Was wir fordern!



(sb)

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Published on October 25, 2016 23:58

October 15, 2016

KRAUTHAUSEN – face to face: Carina Kühne, Schauspielerin

In der Sendung „KRAUTHAUSEN – face to face“ lade ich als Moderator Künstlerinnen und Künstler, Kulturschaffende und Medienleute mit und ohne Behinderung zum Talk ein. In “face to face”-Gesprächen tausche ich mich mit einem jeweiligen Gast über künstlerisches Schaffen, persönliche Interessen und Lebenseinstellungen aus. Und natürlich geht es auch ab und zu um das Thema Inklusion.


Als sechsten Gast hatte ich die Aktivistin und Schauspielerin Carina Kühne zu Besuch:



Zum Video mit Gebärdensprache hier entlang.


Die Schauspielerin Carina Kühne spielte in mehreren Filmrollen, bekannt wurde sie einem größeren Publikum als Hauptdarstellerin im Film „Be My Baby„. Gemeinsam mit Raul Krauthausen philosophiert sie über ihre Arbeit, die ihr Anerkennung bringt, aber auch über das Down Syndrom, Inklusion und ihre Wünsche für die Zukunft.


Weitere Informationen zu Carina Kühne: carinakuehne.com

Carina Kühnes Kinderkurzgeschichte gibt es exklusiv auf Kunterbunteskinderbuch.de


Erstausstrahlung: 15.10.2016, 9.30 Uhr, Sport 1

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Published on October 15, 2016 05:04

October 11, 2016

Hey, Abgeordnete! Ein selbstbestimmtes Leben bedeutet…


Das geplante Bundesteilhabegesetz (BTHG) soll Menschen mit Behinderung ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Durch den derzeitigen Entwurf können behinderte Menschen aber z.B. gegen ihren Willen gezwungen werden, in Heimen und anderen Einrichtungen zu leben.

Dagegen protestieren wir von AbilityWatch. Und wir brauchen jede Stimme!

Schreib auch du den unten genannten Abgeordneten und sag ihnen deine Meinung. Einen Textvorschlag findest du weiter unten:




Name & Funktion
E-Mail
Telefon


Kerstin Griese

Vorsitzende Arbeits- u. Sozialausschuss SPD
kerstin.griese@bundestag.de

02051 8004699


Prof. Dr. Matthias Zimmer

Stellv. Vorsitzender Arbeits- u. Sozialausschuss CDU
matthias.zimmer@bundestag.de
03022774805


Karl Schiewerling

Obmann Arbeits- u. Sozialausschuss CDU
karl.schiewerling@bundestag.de
02594 7827131


Stephan Stracke

Obmann Arbeits- u. Sozialausschuss CSU
stephan.stracke@bundestag.de
08261 7591410


Katja Mast

Obfrau Arbeits- u. Sozialausschuss SPD
katja.mast@bundestag.de
07231 351429


Kerstin Tack

Behindertenpolitische Sprecherin SPD
kerstin.tack@bundestag.de
0511 699805


Uwe Schummer

Behindertenpolitischer Sprecher CDU
uwe.schummer@bundestag.de
030227 73484


Dr. Astrid Freudenstein

Arbeits- u. Sozialausschuss CSU
astrid.freudenstein@bundestag.de
0941 87036110


Dr. Matthias Bartke

Justiziar der SPD-Bundestagsfraktion SPD
matthias.bartke@bundestag.de
04027 148730


Ulla Schmidt (Aachen)

Vizepräsidentin Deutscher Bundestag SPD
ulla.schmidt@bundestag.de
0241 536640


Sabine Weiss

Stellv. Fraktionsvorsitzende Petitionsausschuss, Stellv. Mitglied Arbeits- u. Sozialausschuss CDU
sabine.weiss@bundestag.de
0281 31501


Günter Baumann

Petitionsbeauftragter CDU-Fraktion CDU
guenter.baumann@bundestag.de
03733 288572



Betreff: Ein selbstbestimmtes Leben bedeutet…


Sehr geehrter Herr/Frau Bundestagsabgeordnete/r,


ich wende mich heute an Sie mit einem wichtigen Anliegen im Hinblick auf den derzeit diskutierten Entwurf des Bundesteilhabegesetzes.


Wie Sie vielleicht schon wissen, stößt der Entwurf auf heftige Kritik von Seiten der Betroffenen und dies, obwohl doch erklärtes Ziel des Gesetzes ist, die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung zu stärken.


Um dieses Ziel zu erreichen, möchte ich Sie bitten, sich besonders bei folgenden Themen für uns Betroffene einzusetzen:


1. Ein selbstbestimmtes Leben bedeutet selbst zu entscheiden, wo und mit wem man lebt und wie man seinen Tag gestaltet. Das Teilhabegesetz muss deshalb festschreiben, dass kein Mensch aufgrund seiner Behinderung gezwungen werden darf, in einem Heim zu leben.


Das in dem Gesetzesentwurf vorgesehene Wunsch- und Wahlrecht (§ 104 BTHG-Entwurf) ist wie bisher voll von unbestimmten Rechtsbegriffen, die von Ämtern ausgelegt werden. Schon jetzt müssen viele Betroffene sich deshalb einen Auszug aus dem Heim vor Gericht erkämpfen. Verschlimmert wird die Situation nun dadurch, dass mit der Aufhebung der Unterscheidung ambulant/stationär auch der Grundsatz „ambulant vor stationär“ in der neuen Eingliederungshilfe entfällt. Dazu kommt ein Kostenvergleich der ebenfalls von Ämtern so interpretiert werden wird, dass Betroffenen das individuelle Leben im eigenen Zuhause verweigert werden wird. Nach der Gesetzesbegründung hingegen ist gar nicht gewollt, dass Kosten von Individualleistungen mit denen der Gruppenleistung verglichen werden. Dies muss jedoch im Gesetzestext klargestellt werden!


Bitte setzen Sie sich dafür ein, dass der Wortlaut von Art. 19 der UN-Behindertenrechtskonvention, die seit 2009 in Deutschland geltendes Recht ist, übernommen wird: die Garantie, dass Menschen mit Behinderung „gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben“.


2. Zu einer ähnlichen Einschränkung der Selbstbestimmung führt die vorgesehene Regelung zur gemeinsamen Erbringung von Assistenz (§ 116 Abs. 2 BTHG-Entwurf) – ohne Zustimmung der Betroffenen! Wenn sich mehrere Betroffene eine Assistenzkraft teilen müssen, bedeutet dies, dass Aktivitäten nur noch in der Gruppe stattfinden können. Statt mit den eigenen Freunden abends essen oder ins Kino zu gehen, hat man dan nur noch die Möglichkeit, mit fremden Personen, die zufällig auch eine Beinträchtigung haben, die Freizeit zu gestalten. Man muss seine Tagesplanung von einer Gruppe abhängig machen und kann sich die eigenen Assistenzkräfte nicht mehr auswählen, obwohl diese Zugang zur engsten Privat- und Intimssphäre haben.


Ich bitte Sie deshalb, sich für eine Regelung starkzumachen, die eine gemeinsame Erbringung im Bereich Persönlicher Assistenz von der Zustimmung der Leistungsberechtigten abhängig macht.


3. Nach der neuen Regelung des § 99 Abs. 1 BTHG-Entwurf muss man grundsätzlich in mindestens 5 von 9 Lebensbereichen Unterstützung benötigen (bzw. in 3 von 9 Bereichen auch mit Unterstützung nicht teilhaben können). Zwar gibt es eine Ermessensregelung, nach der auch Personen mit weniger Hilfebedarf „im Einzelfall“ leistungsberechtigt sein „können“, wenn sie „in ähnlichem Ausmaß“ Unterstützung benötigen, aber das reicht nicht: Wenn ein Mensch aufgrund einer Beeinträchtigung in einem oder zwei Lebensbereichen Hilfe benötigt (z.B. als sehbehinderter Stundent nur eine Vorlesekraft in der Bibliothek), muss er einen ANSPRUCH auf Eingliederungshilfe haben.

Bitte machen Sie sich dafür stark, dass jede Person, die Hilfe zur Teilhabe zwingend benötigt, diese Hilfe auch bekommt – egal, in wievielen Lebensbereichen die Teilhabeeinschränkung besteht.


3. Die im BTHG-Entwurf enthaltenen Verbesserungen bei der Vermögensanrechnung sowie die längst überfällige Abschaffung der Anrechnung des Partnereinkommens und – vermögens kommen entgegen der offiziellen Darstellung nicht allen Menschen mit Behinderung zugute. § 91 Abs. 1 BTHG-Entwurf regelt den Nachrang der Eingliederungshilfe. Das bedeutet, wer neben Eingliederungshilfe auch Hilfe zur Pflege beziehen muss, wird weiterhin nach den Regelungen des Sozialhilferechts behandelt. Das bedeutet, dass grundsätzlich weiterhin nur 2.600 € erspart werden dürfen und der Partner mit seinem Einkommen und Vermögen voll herangezogen wird. Eine Ausnahme gilt nur für Erwerbstätige.

Bitte setzten Sie sich dafür ein, dass die Eingliederungshilfe grundsätzlich die Bedarfe der Hilfe zur Pflege mitumfasst. Das Erreichen von gleichberechtigter Teilhabe am Leben steht bei Leistungsberechtigten der Eingliederungshilfe im Vordergrund.


4. Gut ist, dass das erlaubte Vermögen ab 2020 auf 50.000 € angehoben wird (allerdings nicht für alle, siehe 3.). Dass keine völlige Freistellung erfolgt, zeigt aber, dass man weiterhin dem Gedanken der Fürsorge und Sozialhilfe verhaftet bleibt, denn die Begrenzung erfolgt nicht aufgrund fiskalischer Notwendigkeit: Es gibt keinerlei Berechnung, wieviel die Einkommens- und Vermögensprüfung kostet im Vergleich zu erzielten Einnahmen aus Eigenanteilen.

Völlig ungerecht ist dabei die neue Anrechnung von Einkommen: Zwar wurde der Grundfreibetrag auf ca. 2.500 € brutto/ca. 1.700 € netto erhöht, doch steigt der Eigenanteil ab Einsetzen der Zuzahlungspflicht rapide an: Geleistet werden muss dann ein Betrag von 2 % des über der Freigrenze liegenden JAHRESeinkommens – pro MONAT (also bis zu 24% des Bruttogehaltes, und zwar vom Netto!).

Für die meisten Betroffenen, die über der Einkommensfreigrenze liegen, verschlechtert sich die Einkommensanrechnung teils drastisch.

Bitte machen Sie sich stark für unser Ziel, die Einkommens- und Vermögensanrechnung ganz abzuschaffen, denn sie kostet mehr als sie Einnahmen generiert und beschränkt Menschen mit Behinderung aufgrund ihrer notwendigen Hilfebedarfe.

Zumindest aber bitte ich Sie, sich dafür einzusetzen, dass der Einkommensbeitrag auf ein Maß reduziert wird, welches die gleichberechtigte Teilhabe nicht behindert. Dies wäre zum Beispiel ein Beitrag i.H.v. 2% des BruttoMONATSeinkommens pro MONAT (analog der Zuzahlungsgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung).


Mit freundlichen Grüßen,

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Published on October 11, 2016 04:30

August 24, 2016

“Hass ist keine Meinung!”

Hate Speech – Hass im Internet

Hate Speech ist der sprachlich ausgedrückte Hass gegenüber einer Personengruppe oder einer Einzelperson wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Personengruppe.

Elemente der Hassrede sind u.a. Beleidigungen, Diskriminierung, Lügen und Manipulation, Gegenüberstellung von “Wir”- und “Ihr”-Gruppen bis hin zum Aufruf zu Straftaten.

Juristisch gesehen sind die Grenzen zwischen Hate Speech und Volksverhetzung fließend.






Persönliche Erfahrungen zum Thema Hate Speech

Als die Neuen Deutschen Medienmacher mich bezüglich ihrer Kampagne zum “No Hate Speech Movement” ansprachen, hatte ich noch keine wirklichen Erfahrungen zum Thema Hassrede gemacht. Klar, den einen oder anderen rüpeligen Kommentar gab es unter meinen Videos. Aber bei mir hielt sich das alles doch sehr in Grenzen.

Wie drastisch Hasskommentare sein können, wurde mir allerdings immer wieder bewusst, wenn ich über die Arbeit der großartigen Dunja Hayali las und hörte – auch ihren Umgang mit Hass und Hassreden, den Anfeindungen, denen sie online und offline ausgesetzt war und ist.

Ihre Beschreibung der Online-Hetze in ihrer Dankesrede zur Verleihung der Goldenen Kamera Anfang des Jahres ist so trefflich formuliert wie erschreckend: „Ich setze immer noch auf den Dialog, mich interessieren andere Meinungen, andere Argumente. (…) Aber was da gerade abgeht, ist wirklich mit Verrohung von Sprache überhaupt nicht mehr zu beschreiben. Bedrohung, Beschimpfung, Beleidigung, Vergewaltigungswünsche.(…) Das macht keinen Spaß. Glaubt eigentlich irgendjemand, dass das irgendwas bringt, dieser ganze Hass?“.

Als ich dann im Mai diesen Jahres den Vortrag “Organisierte Liebe” vom Kübra Gümüşay hörte, wurde mir klar, dass das Wegblocken und Muten der Hater nicht ausreicht. Dass es eine gesellschaftliche Verpflichtung ist, sich diesem Thema zu widmen und aktiv zu werden.

Weil ich mehr wissen wollte, entschied ich mich zusammen mit ze.tt die Feministin und Autorin zu interviewen: Krauthausen trifft: Kübra Gümüşay.

Das Ausmaß an Hate Speech, dem Kübra ausgesetzt ist – und das auch auf meinen Kanälen nach der Ausstrahlung des Interviews stattfand – ließ mich zum ersten Mal erfühlen, mit welcher Härte und in blindem Wahn Hater zuschlagen.

Und wie kurzfristig gedacht die weit verbreitete Meinung “Hass im Netz? Klicke ich einfach weg.” ist. Wie arrogant und egoistisch. Aus den Augen – aus dem Sinn.

Es gibt Menschen, die können nicht einfach wegklicken – und blockieren. Spätestens seitdem Hate Speech in realen Hass und brutale Übergriffe mündete.


Seit kurzem bin ich – wie viele andere bekannte Twitterer*innen – selbst das Ziel von Hasskommentaren. Manche Hater haben sich sogar extra Fake-Accounts mit meinem Namen und Fotos von mir angelegt. Einige meiner Tweets und Fotos haben mittlerweile Meme-Charakter.

Anfangs habe ich diese Kommentare tatsächlich noch gelesen – und ein mulmiges Gefühl bekommen. Egal wie abgeklärt ein Mensch sein mag, wie klar ist, dass derartige Hass-Kommentare nichts mit mir als Person zu tun haben – sondern vielmehr mit dem Hater und seinen speziellen sozialen Problemen: Diese Worte bewirken etwas. Wenigstens im ersten Moment. Neuronen werden abgeschossen und nach der Hebbschen Lernregel gibt es eben Verkettungen in jedem Gehirn, die Bedrohungen und Beleidigungen, seien es es auch anonyme und rein virtuelle, mit Gefahr und Angst als Reaktion verknüpfen.

Danach überwiegt – jedenfalls bei mir – die Neugier. Und über manches Meme, manches Comic, das mühevoll und pointiert gezeichnet wurde, musste ich ehrlich grinsen.

Aber weil ich mich ungerne mit Negativem oder Inhaltslos-Destruktivem aufhalte und in meinem Kopf zu viele Ideen bezüglich neuer Projekte, Kooperationen usw. umherschwirren, habe ich die betreffenden User geblockt und mich wieder auf echte Problemlösungen in aktuellen Vorhaben konzentriert.

Zugegebenermaßen eben doch nach dem Motto: “Aus den Augen, aus dem Sinn.”


Eine Troll-Geschichte

Die Geschichte des Internets ist seit jeher verwoben mit dem Aufkommen anonymer Trolle. Schon in IRC-Chats geisterten sie herum – störten, nervten und beleidigten.

Als Reaktion wurden immer mehr Tools und Blockiersysteme entwickelt, um sich diese unliebsamen Zeitgenossen*innen vom Hals zu halten.

Plötzlich ging es online in eine Richtung, die man eigentlich vermeiden wollte: Denn das Internet wurde von Vielen zunächst als Ort der freien Meinungsäußerung gefeiert.

Die Medientheoretikerin und Künstlerin “Sandy” Stone schrieb darüber “Das Zeitalter der Überwachung (…) hatte die elektronische virtuelle Community erreicht.”

Die Euphorie der Anfangszeit des Web, in der man hoffte, ab jetzt maximal vorurteilsfrei diskutieren zu können, war schnell abgeflaut.

Voller Ernüchterung wurde klar: Wer offline ein Arschloch ist – bleibt es online ebenfalls. Umso mehr, wenn er*sie sich hinter der Anonymität des Internet verstecken kann.

Der Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch stellte klar:


Die Hassrede ist keine Konsequenz der sozialen Netze, sondern die sozialen Netze liefern ihr nur einen bequemen Weg von den Stammtischen direkt in die Öffentlichkeit. Sie sind eine Plattform, auf der sich Menschen begegnen, die einander sonst nie begegnen würden.


Die rein technische Reaktion durch Sicherheitsmechanismen konnte das Problem natürlich nie an der Wurzel packen. Und trotzdem muss der


Kampf gegen Hassrede (…) geführt werden, und dabei können und müssen (…) das Strafrecht, die Durchsetzung von Regeln durch die Netzwerkbetreiber und die Gegenrede zum Einsatz kommen. Der Kampf gegen Hassrede ist aber ebenso wenig zu gewinnen, wie der Kampf gegen den Hass selbst.


Warum wird ein Mensch zum Hater?

Das Hater-Phänomen interessiert mich. Schon aus beruflichen Gründen.

Denn es handelt sich hier ja um ein gruppendynamisches Phänomen.

Ich berate u.a. verschiedene junge Start-Ups, gebe Workshops usw. – und einer der Schwerpunkte ist es, konstruktive gruppendynamische Abläufe in Gang zu setzen, um gemeinsam Ideen und Lösungsmöglichkeiten für komplexe Probleme zu entwickeln.

Wenn diese Prozesse erfolgreich stattfinden, ist das für jeden einzelnen Beteiligten ein Gewinn, bewirkt zum Teil euphorische Gefühle, Motivation, Steigerung des Selbstwertgefühles usw.

Was aber passiert, wenn das gruppendynamische Ziel destruktiv ist? Wenn möglichst effektive Entwertung, maximal verletzende Beleidigung bis hin zur kompletten Zerstörung einer Person angestrebt werden?

Wenn man das Phänomen Hassrede zum ersten Mal oberflächlich betrachtet, fragt man sich natürlich: Was soll das? Jemand legt sich einen anonymen Fake-Account zu, um wild Beleidigungen, Hass-Kommentare und Lügen zu veröffentlichen. Nichts, womit man vor den Freunden oder Kollegen auftrumpfen und ein gutes Bild von sich zeichnen kann: “Schaut her, ich belästige online Menschen aus verschiedensten Minderheitengruppen – und verstecke dabei meine Identität!”. Genau, das funktioniert nicht.

Wenn man dann noch sieht, wie intensiv das Ziel der Hater-Begierde verfolgt wird und wie viel Zeit und Energie in die Aktionen gesteckt wird, fragt man sich unweigerlich: Welches Selbstbild hat diese Person? Ist sie stolz auf dieses ausschließlich destruktive Handeln? Oder ist die ausbleibende dauerhafte Befriedigung der fruchtbare Boden für die beständige Besessenheit, die die Hassenden zuweilen an den Tag legen? Ganz sicher kann man keine allgemeinen Antworten finden, was im Leben eines Haters schiefgelaufen ist. Dass etwas schiefgelaufen ist, ist allerdings nicht zu übersehen.

Hater kommen aus allen sozialen Schichten – und es sind hauptsächlich Männer.

Die psychologischen Hintergründe werden bei Hatern und Trollen ähnlich beschrieben. Allerdings sind Internet-Trolle und ihre Motivationen bisher besser erforscht und sie werden insgesamt weitaus positiver gesehen als Hater.

In den Persönlichkeitsstrukturen von Hatern und Trollen finden sich häufig Sadismus in verschiedenen Abstufungen, antisoziales Verhalten, narzistische Störungen und allgemein negative persönliche Eigenschaften. In dem Zusammenhang wird häufig die so genannte Dunkle Triade genannt.

Betrachtet man dies, wird schnell klar: Die psychologischen Hintergründe sind so komplex und schwerwiegend, dass kein Hater allein durch nettes Entgegenkommen und wertschätzendes Verhalten “umgedreht” und in einen freundlichen Internet-Nutzer verwandelt werden kann.

Zudem bewegen sich Hater häufig in Gruppen, die jeweils einen eigenen Ehrenkodex und eine eigene Sprache entwickeln. In diesen Gruppen erfahren die einzelnen Hater Zustimmung und Beifall für ihre Hasskommentare, es werden gemeinsam Zielgruppen und Zielpersonen gefunden und angegangen.


Die Folgen von Hate Speech

Der Wunsch des Haters ist es in erster Linie Aufmerksamkeit zu erreichen. Zudem soll das Hassobjekt in einen emotional reaktiven Zustand gebracht werden. Die Zielperson soll so sehr aus der Bahn geworfen werden, dass sie beginnt zu zweifeln und zu verzweifeln. Die Beleidigungen und Lügengeschichten sollen ihr so sehr unter die Haut gehen, dass sie beginnt zu zögern, ob sie einen neuen Tweet, einen neuen Blogbeitrag veröffentlicht, ein neues Foto postet – also ihr Verhalten aufgrund der Aktionen des Haters verändert.

Der größte Erfolg für den Hater ist das “Silencing” – wenn der*die Betroffene sich nicht mehr traut neue Beiträge zu veröffentlichen, Accounts löscht, sich aus der Social Media-Welt zurückzieht.

Es ist zu vergleichen mit einer Lieblingskneipe, in die man seit Jahren geht, Freunde, Bekannte und neue spannende Leute trifft; die Athmosphäre ist konstruktiv, vielfältig, manchmal laut und überschwänglich, manchmal leise und nachdenklich. Und plötzlich kommt just in diese Lieblingskneipe jeden Abend eine neue Gruppe an unangenehmen Zeitgenossen, die rumpöbeln, wahllos andere Gäste beleidigen und die gesamte Stimmung vermiesen. Im schlimmsten Fall wird man dann ganz einfach nicht mehr kommen, sich eine andere Kneipe suchen oder Zuhause bleiben.

Eine Lösung ist das allerdings nicht.

Und da der Hater am Individuum gar kein Interesse hat, sondern es lediglich zu einem austauschbaren Hassobjekt macht, an dem er sich abarbeitet, wird umgehend eine neue Zielperson gefunden.

Wenn man die sozialen Medien betrachtet und sieht, dass Online-Redaktionen ihre Kommentarmöglichkeiten schließen, wenn man u.a. der Social-Media-Koordinatorin (tageschau.de) Anna-Mareike Krause zuhört und erfährt, dass ein Drittel der online gepostete Kommentare aus Hate Speech bestehen, mag man den Eindruck gewinnen: Die Hasser sind in der Überzahl.

Aber: Das sind sie nicht.

Sie sind nur lauter und aktiver, denn sie wollen ja Reaktionen provozieren.

Und Hasskommentare produzieren erstaunlich viele “Likes”. Je mehr Aufmerksamkeit einem Kommentar gegeben wird, desto sichtbarer wird er beispielsweise in Internetforen, weil er in der Anzeigeliste der Forenbeiträge immer wieder nach oben rutscht. Auf Facebook sorgen die verwendeten Algorithmen dafür, dass man sich schnell in einer Interessen-Wohlfühl-Bubble befindet: Wer bei einem Post besonders aktiv war und fleißig kommentierte, bekommt Veröffentlichungen mit ähnlichen Inhalten angezeigt. So entsteht schnell eine ungute Eigendynamik, die den Personen, die sich in durch Facebook erzeugten Interessen-Gruppen bewegen, den Eindruck suggeriert, es gäbe viele User, die ihre Meinung teilen.


Der Umgang mit Hate Speech

Die Reaktion, die möglicherweise zunächst am Naheliegendsten ist: Wütend zurückschimpfen.

Allerdings ist das wenig konstruktiv und schnell entsteht eine Hass-Spirale, aus der es kaum noch ein Entkommen gibt, Kommentatoren*innen sich gegenseitig beeinflussen und echte Argumente einfach nicht mehr fruchten. Man nennt das den “Nasty-Effect”. An der University of Wisconsin gab es dazu eine spannende Studie, die erforschte, wie polemische, negative Kommentare die Sichtweise auf eigentlich neutrale News verändern. Und wie schnell die Sachebene verlassen wird. Also: Wut ist verständlich – aber keine konstruktive Reaktion.

Eine andere Reaktion könnte sein, erstmal den ganzen irrsinnigen Hater-Wust zu blockieren – denn diese Tweets und Kommentare stören die eigene Timeline einfach und lässt einen interessante Inhalte übersehen. Das ist aber mittelfristig auch keine Lösung: Zum einen schenkt dies Aufmerksamkeit, nach der viele Hater gieren; Screenshots mit Blockierungs-Mittleilungen werden wie Trophäen veröffentlicht und geteilt. Außerdem wird oftmals ein Wettbewerb gerade unter den Fans von einigen Hatern entfacht, Tweets und Kommentare zu schreiben, um ebenfalls blockiert zu werden. Und so ist der eine Hater und seine Kommentare dann zwar stillgelegt, aktiviert aber andere User – und schon ist die eigene Timeline wieder überschwemmt mit destruktiven Kommentaren.

Mein Tipp: Ignorieren und weitermachen wie bisher. Und an konstruktiven Projekten arbeiten, positiven Hobbies nachgehen, Menschen treffen (online oder viel besser noch: offline), die einem gut tun.

Sollten die Kommentare zu störend werden: Auf Twitter kann man ganz einfach muten. Dann sind die Hater nicht blockiert, bekommen nicht die von ihnen gewünschte Aufmerksamkeit und merken schlichtweg gar nicht, ob ihre Hass-Kommentare ankommen sind oder ins Leere gehen.

Das sind allerdings nur schnelle Erste-Hilfe-Tipps. Langfristig sollten wir alle aktiv werden.

Ingrid Brodnig schreibt sehr treffend in ihrem Buch “Hass im Netz: Was wir gegen Hetze, Mobbing und Lügen tun können” (das ich unbedingt empfehle!), dass unsere Social Networks und das Internet, wie es momentan aussieht, nicht in Stein gemeißelt sind. Dass die Funtionsweisen von Internetseiten keinem Naturgesetz folgen, sondern von Menschen gemacht sind. Die logische Schlußfolgerung ist: Wir müssen unsere sozialen Netzwerke formen, das Wort zu ergreifen und einen konstruktiven, wertschätzenden Umgang miteinander pflegen – auch und gerade in der Anonymität des Internets.

Hater kapern häufig Projekt-Hashtags und spammen mit diesen Hashtags dann negative Inhalte in soziale Netzwerke (passierte zum Beispiel bei #ausnahmslos). Warum kapern wir nicht diskriminierende Hashtags und nutzen sie zur Gegenrede? Zum Beispiel: #rapefugees gibt es nicht!

Projekte wie die “Organisierte Liebe” vom Kübra Gümüşay gehören ganz sicher zu denen, die viel bewirken und verändern können.

Kübra erklärte mir, sie hätte an sich selbst beobachtet, dass man gute Online-Artikel und Tweets, denen man zustimmt und die einem sogar Freude bereiten, eher kommentarlos wieder verlässt – zwar mit einem guten Gefühl im Herzen, aber eben auch ohne ein positives Feedback zu hinterlassen. Beiträge hingegen, die einen ärgern, lassen einen viel eher kommentieren, die Tweets teilen oder die eigenen Follower zu Protest-Aktionen aufrufen.

Deshalb ist es an uns, hier etwas zu verändern – und uns zu feiern!

Deshalb beende ich diesen sehr ernsten Artikel mit einer Liste von Menschen aus dem Online-Bereich, die ich persönlich feiere, die meine Online-Welt bereichern und das Internet zu einem guten, konstruktiven und nicht immer schönen, aber empowernden Ort werden lassen(ungeordnet und ganz sicher vollkommen unvollständig):

Johnny Haeusler, Kübra Gümüşay, Ninia LaGrande, Laura Gehlhaar, Mario Sixtus, Markus Beckedahl, Marcus Brown, Tanja Haeusler, Jens Merkel, Wheelie, Katja Fischer, f1rstlife, Julia Probst, Michel Arriens, RevoluzZza, Heiko Kunert, Martin Ladstätter, Constantin Grosch, Nancy Poser, Christiane Link, Andi Weiland, Lilian Masuhr, Judyta Smykowski, Martin Habacher, ….


Quellen, weiterführende Links:

Der Talk von Kübra Gümüşay “Organisierte Liebe”
Das Buch von Ingrid Brodnig “Hass im Netz: Was wir gegen Hetze, Mobbing und Lügen tun können”
Der BR hat sich mit dem Thema Hate Speech auseinandergesetzt, sehr erhellende Video-Beiträge, u.a. auch mit Kübra Gümüşay
Jürgen Kuri schreibt über Hatespeech und Meinungsfreiheit
The „Nasty Effect:“ Online Incivility and Risk Perceptions of Emerging Technologies
Kampagne des Europarats gegen Hate Speech: No Hate Speech Movement
Amadeu Antonio Stiftung: Strategien und Typologisierung von Hate Groups

(sb)

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Published on August 24, 2016 04:49

June 24, 2016

Krauthausen trifft: Kübra Gümüşay über den Gina-Lisa-Lohfink-Prozess und Hass im Netz und #OrganisierteLiebe

 

Kübra Gümüşay ist Journalistin, Aktivistin, Bloggerin und muslimische Feministin.

Geboren in Hamburg, studierte sie hier und in London Politikwissenschaften, lebte in Oxford und kehrte schließlich wieder in ihre Geburtsstadt zurück.

Sie hatte Deutschland verlassen, weil sie sich als Muslima hier nicht mehr wohlgefühlt hatte.

Trotz des momentan so offensichtlichen Rechtsruckes in Deutschland findet sie, es gibt eine gute und mächtige Gegenbewegung. So viele Menschen, die merken, dass ein politisches Umdenken stattfinden muss. Und die aktiv werden.

Einer der Gründe, weshalb sie sich entschied, nach Deutschland zurückzukehren.

Nach wie vor ist Diskriminierung eines ihrer wichtigsten Themen. Mit der Kampagne #SchauHin machte sie mit anderen Aktivisten*innen zusammen Alttagsrassismus sichtbar. Als Mit-Initiatorin von #ausnahmslos setzte sie ein Zeichen gegen sexualisierte Gewalt und Rassismus.

Das Deutschlandradio hat Gümüşay zu den prägenden Köpfen des Islam in Deutschland erklärt – und sie ist eine der wichtigsten Vertreterinnen des moslemischen Feminismus.


Auf der Web-Konferenz re:publica hielt sie in diesem Jahr einen Vortrag mit dem Titel “#OrganisierteLiebe”.

Sie erzählte über ihre Diskriminierungserfahrungen als Feministin und Muslima, Hasskommentare und organisierte Hater-Attacken.

Und appellierte an die Zuschauer*innen aktiv zu werden. Weil es nicht mehr ausreicht, Hatespeech zu muten und die Hater zu blocken.

Während Gümüşay redete, kamen ihr mehr als einmal die Tränen – und es war klar: Was sie sagt hat Substanz, sie hat Diskriminierung und Hass massiv erlebt.

In einer Weise, die uns als privilegierten weißen Deutschen nicht vorstellbar ist.

Sie stand in dem Moment für all’ die, denen rassistische und sexistische Diskriminierung widerfährt.

Aber sie ist kein Opfer, sie ist Überlebende. Sie kann die Hasser hinter sich lassen und ihnen mit Aktivismus begegnen.


*

Frühmorgens mache ich mich auf den Weg nach Hamburg.

Im Zug treffe ich die beiden Redakteur*innen, mit denen zusammen ich in den letzten Wochen das Konzept für ze.tt ein neues Web-Format entwickelt habe: „Krauthausen trifft“.

Diesmal wird es nicht um Behinderung gehen.

Das Thema mit meinen Gästen wird sein: Erfahrungen, Meinungen und Aktionen gegen Diskriminierung. Ganz allgemein.

Es gab eine lange Liste an möglichen Interview-Partnern*innen. Einstimmig haben wir uns Kübra Gümüşay als erste Gästin gewünscht – und sie sagte sofort zu.

Es ist sind 30 Minuten Interview geplant – aus denen ca. 4 Minuten geschnitten werden.

Auf der Bahnfahrt gehen wir die Interview-Fragen noch einmal durch.

Schon in der Vorbereitung wurde klar, dass es schwer wird, sich mit der Aktivistin auf ein halb-stündiges Gespräch zu beschränken.

Wer Kübra Gümüşay kennt weiß, dass sie das Konzept ihrer Vorträge oft kurz vor der Veranstaltung noch einmal komplett umwirft – uns geht es ähnlich. Weil wir all’ die Fragen, die uns durch den Kopf schwirren, niemals in 30 Minuten unterbringen können, beschränken wir uns spontan auf wenige Schwerpunkte.

Und so sortieren wir jede Menge vorbereitete Moderationskarten aus und handgeschriebene kommen dazu.


Kübra Gümüşay und ich treffen uns in einem Hinterzimmer der Ausstellung “Dialog im Dunkeln” in der Hamburger Speicherstadt.

Bei den Recherchen war ich über ein Interview gestolpert, in dem Gümüşay sagte: „Ich gebe nicht gerne die Hand zur Begrüßung“. Ich bin ein bisschen verunsichert ob dieser Information – winken? Einfach lächeln stattdessen?

Aber Kübra kommt auf mich zu, eine schmale junge Frau mit einnehmendem Lächeln, reicht mir ihre Hand und sofort sind wir ins Gespräch vertieft.

Jetzt da ich sie live treffe, wird mir noch mal mehr bewusst, was ich schon in den Videos und Interviews wahrnahm: Kübra Gümüşay brennt für ihre Themen.


 
Kübra Gümüsay

Ihre Hände fliegen, beschreiben – liegen selten still im Schoß. Mit Vehemenz verleiht sie ihren Worten Nachdruck.

Wir reden über den Fall Gina-Lisa Lohfink, den Umgang der Medien mit dem Model, das von der Anklägerin zur Angeklagten wurde, Victim Blaming und Sexismus. Über die Sportmoderatorin Claudia Neumann, die einem Shitstorm ausgeliefert war, als sie letztens ein EM-Männer-Fußballspiel moderierte. Über Möglichkeiten gegen den Hass vorzugehen: online und offline. Über Gümüşays Kampagne #organisierteLiebe.

Und dann ist die Zeit schon um. Ich hätte gerne noch zu so vielen Themen die Meinung der Aktivistin erfahren.


Liebe Kübra: Wir sind deine Fans! Wir feiern dich! Du machst uns Mut und gibst uns Inspiration! (sb)


 


Weiterführende Links:

Kübra Gümüşay:



Ein Fremdwörterbuch – der Blog von Kübra Gümüşay
Die muslimische Bloggerin Kübra Gümüşay
Twitter-Account von Kübra Gümüşay
Kübra Gümüşays Kolumne in der taz (wird leider nicht mehr fortgeführt, ist aber zeitlos lesenswert)

Organisierte Liebe:



Der Talk “Organisierte Liebe” auf der re:publica
Die Website zur Kampagne “Organisierte Liebe”
#OrganisierteLiebe: Wieso wir Menschen im Netz sagen sollten, wenn wir sie gut finden
Hass auf Frauen im Netz: Mit Liebe gegen den Mob

Der Fall Gina-Lisa Lohfink:



Warum Gina-Lisa Lohfink unsere Heldin ist
Gina-Lisa Lohfink: Wenn ein „Hör auf“ nichts mehr wert ist
Ein Opfer von Sexismus
Warum wir zu Gina-Lisa Lohfink halten sollten

Weiteres:



#ausnahmslos
#SchauHin
Zahnräder Netzwerk
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Published on June 24, 2016 09:29