Raúl Aguayo-Krauthausen's Blog, page 29

August 15, 2017

Lasst endlich alle Menschen mit Behinderung wählen!


Ist der Wahlrechtsausschluss zulässig?

In sechs Wochen findet die Bundestagswahl statt – doch rund 85.000 Menschen dürfen nicht teilnehmen. Das Wahlgesetz schließt sie aus, da sie eine rechtliche Betreuung benötigen. Verbände üben Kritik.



Das Bundeswahlgesetz schließt Menschen mit geistigen Behinderungen aus.
Befürworter des Paragrafen betonen die Gefahr der Manipulation dieser Gruppe
Ich bin gegen diesen diskriminierenden Wahlausschluss


Mit dem Projekt re:sponsive bin ich in diesen Zeiten des Wahlkampfes in Deutschland unterwegs und spreche mit vielen Wahlberechtigten. Sie erzählen unter anderem, warum die Wahl für sie wichtig ist – oder warum sie sich fürs Nichtwählen entschieden haben. Bis heute gibt es aber auch deutsche Staatsbürger, die gern wählen gehen würden – denen dieses Recht aber verwehrt bleibt.


Der Paragraf 13 des Bundeswahlgesetzes legt fest, wer in Deutschland nicht wählen darf. In Absatz 2 steht:


Ausgeschlossen vom Wahlrecht ist derjenige, für den zur Besorgung aller seiner Angelegenheiten ein Betreuer nicht nur durch einstweilige Anordnung bestellt ist.


Das betrifft unter anderem Menschen mit sogenannten geistigen Behinderungen, die in allen Lebensbereichen Hilfe benötigen. In Deutschland handelt es sich insgesamt um rund 85.000 Menschen.


Diese Ausschlüsse verstoßen gegen die UN-Behindertenkonvention, laut der behinderte Menschen ins politische Gemeinwesen einbezogen werden sollen. Das Deutsche Institut für Menschenrechte bewertet


die Wahlrechtsausschlüsse (als) einen diskriminierenden und unverhältnismäßigen Eingriff in das menschenrechtlich garantierte Recht zu wählen und gewählt zu werden (…).


Behindertenverbände protestieren deshalb schon seit Jahren dagegen, dass es Menschen mit Behinderung gibt, die kein Recht darauf haben, das Parlament zu wählen. Und auch Verena Bentele, die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, fordert eine Reform des Wahlrechts und will Wählen mit Assistenz möglich machen.


Demokratische Rechte oder hypothetische Gefahr – was wiegt mehr?

Obwohl es klar ist, möchte ich es noch einmal betonen: Das Wahlrecht gehört zu den politischen Grundrechten von Staatsbürgern. Es ist eine der Grundsäulen der Demokratie. Nun möchte ich hier eine Abwägung vornehmen. In die eine Waagschale lege ich das demokratische staatsbürgerliche Grundrecht, ein Parlament zu wählen, und das Recht auf Teilhabe. In die andere Waagschale lege ich die hypothetische Gefahr, dass Menschen mit geistiger Behinderung, die Assistenz zum Wählen benötigen, beeinflusst werden könnten und keine geheime Wahl stattfindet. Was wiegt nun also schwerer: das Recht eines Menschen, aktiv an der Demokratie mitzuwirken? Oder die hypothetische Gefahr, die durch Beeinflussung entstehen kann?


Und schließlich die Frage: Würde es unsere Demokratie ernsthaft gefährden, wenn zu rund 60 Millionen Wahlberechtigten noch 85.000 Menschen dazukämen, die mit Assistenz wählen dürften? Das wären ca. 0,14 Prozent aller Wahlberechtigten. Ist es wirklich wichtiger, diese Menschen vom staatsbürgerlichen Grundrecht der Wahl auszuschließen, sie demokratisch mundtot zu machen?


Tatsächliche Probleme statt Hypothesen

Ich habe hier über Zahlen geschrieben, über Studien, über Abwägungen, eine hypothetische Gefahr. Um welche Menschen es dabei geht, bleibt im Dunkeln.


Ich weiß nicht, wie Sie sich Menschen vorstellen, die in allen Bereichen Hilfe benötigen. Aber es geht hier nicht nur um Wachkomapatienten, die von Gegnern der Streichung des Paragrafen 13, Absatz 2, bevorzugt angeführt werden. Die vom Wahlausschluss Betroffenen sind keine homogene Gruppe – viele führen ein Leben, in dem sie bewusste Entscheidungen treffen, in Partnerschaften leben, arbeiten gehen. Sie benötigen allerdings in rechtlichen und organisatorischen Bereichen Hilfe.


Ein echtes Problem ist, dass es momentan tatsächlich noch zu wenig Informationen in einfacher Sprache gibt, die geistig Behinderten die Wahl erleichtern. Für die Bundestagswahl 2017 fand ich bisher nur das Wahlprogramm der SPD und von Bündnis 90/Die Grünen in einfacher Sprache. Das macht es auch Menschen mit geistigen Behinderungen mit Wahlrecht schwer, eine Wahlentscheidung zu treffen. Hier sind die Parteien gefragt.


Wer unter uns ist unbeeinflusst?

Und nicht zuletzt: Wer untersucht eigentlich, ob wahlberechtigte Menschen nicht auch in ihrer Wahlentscheidung beeinflusst werden? Die Mutter vom Sohn, der Opa von der Enkeltochter, die alte Dame vom Nachbarn, der für sie einkaufen geht. Und was ist eigentlich mit der Briefwahl? Wer beurteilt, ob die geheim und unbeeinflusst stattfindet? Eine vollkommen neutrale, geheime Wahl – das ist und bleibt eine Utopie, solange der Faktor Mensch beteiligt ist. Der Mensch, der kommuniziert, diskutiert, sich gegenseitig zum Guten und zum Schlechteren beeinflusst und überredet.


Also sollte eine Vermutung, dass es geistig behinderte Menschen gibt, die in ihrer Wahlentscheidung von anderen Menschen beeinflusst werden, kein ausreichender Grund sein, ihnen das Recht auf Partizipation an der Demokratie zu verwehren.


(sb)


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Published on August 15, 2017 00:50

July 29, 2017

re:sponsive – die Webserie zur Bundestagswahl 2017

re:sponsive ist das Webvideo-Projekt zur Bundestagswahl – von und mit mir im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung. Acht Wochen lang toure ich durch Deutschland.

Im Gepäck: Die Fragen von euch, meiner Community. Welche Themen bewegen euch im Vorfeld der Wahl? Welche Fragen habt ihr? Welche Bedürfnisse an die Politik? Teilt mir unter dem Hashtag #responsive mit, was ihr zu sagen habt!


Folge 8


Folge 7


Folge 6


Folge 5


Folge 4


Folge 3


Folge 2


Folge 1


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Published on July 29, 2017 09:30

re:sponsive – die Webserie zur Bundestagswahl 2017 – #responsive #btw2017

re:sponsive ist das Webvideo-Projekt zur Bundestagswahl – von und mit mir im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung. Acht Wochen lang toure ich durch Deutschland.

Im Gepäck: Die Fragen von euch, meiner Community. Welche Themen bewegen euch im Vorfeld der Wahl? Welche Fragen habt ihr? Welche Bedürfnisse an die Politik? Teilt mir unter dem Hashtag #responsive mit, was ihr zu sagen habt!




[View the story „re:sponsive – Raúl Krauthausen unterwegs durch Deutschland vor der Bundestagswahl 2017“ on Storify]

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Published on July 29, 2017 09:30

Im Interview mit ZEIT Online: “Die Mehrheit der behinderten Menschen hat keine Chance”

Menschen mit Behinderung schaffen den Sprung in den regulären Arbeitsmarkt in Deutschland fast nie, sagt Aktivist Raul Krauthausen. Der Fehler liege im Werkstattsystem.


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Published on July 29, 2017 08:52

Im Interview mit ZEIT Online: „Die Mehrheit der behinderten Menschen hat keine Chance“

Menschen mit Behinderung schaffen den Sprung in den regulären Arbeitsmarkt in Deutschland fast nie, sagt Aktivist Raul Krauthausen. Der Fehler liege im Werkstattsystem.


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Published on July 29, 2017 08:52

July 17, 2017

XING Talk #9: Raúl Krauthausen

Ich kämpfe für Inklusion im Alltag und gegen Mitleid für Menschen mit Behinderung: Mit meinem Verein Sozialhelden e.V. möchte ich kreative Lösungen für ein besseres Miteinander entwickeln: Ideen wie der Wheelmap, einer interaktiven Online-Karte zum Finden und Markieren rollstuhlgerechter Orte. Dennoch bin ich kein „Vorzeige-Behinderter“, sondern eher Aktivist, der auf Missstände aufmerksam machen will. Im XING Talk erkläre ich, warum eine Behinderung noch immer das Problem des Betroffenen ist, viele Unternehmen massiven Aufholbedarf bei der Inklusion haben – und Menschen mit Behinderungen häufig von der Altersarmut bedroht werden.





Mehr auf XING.de


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Published on July 17, 2017 12:48

Perspective Daily: »Ich wollte eigentlich nie Berufsbehinderter sein«

Raúl Krauthausen stellt eine Frage, die Inklusion überflüssig macht: Wenn 10% der Bevölkerung behindert sind, warum ist dann nicht jeder Zehnte in deinem Freundeskreis ein Mensch mit Behinderung?


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Published on July 17, 2017 12:47

June 17, 2017

KRAUTHAUSEN – face to face: Erwin Aljukic, Künstler

In der Sendung „KRAUTHAUSEN – face to face“ lade ich als Moderator Künstlerinnen und Künstler, Kulturschaffende und Medienleute mit und ohne Behinderung zum Talk ein. In “face to face”-Gesprächen tausche ich mich mit einem jeweiligen Gast über künstlerisches Schaffen, persönliche Interessen und Lebenseinstellungen aus. Und natürlich geht es auch ab und zu um das Thema Inklusion.


Als zehnten Gast hatte ich den Künstler Erwin Aljukic zu besuch



Zum Video mit Gebärdensprache hier entlang.


In dieser Ausgabe: Erwin Aljukic.

Als erster Schauspieler mit Behinderung in einer Hauptrolle in der Daily Soap Marienhof prägte er das Bild von behinderten Menschen fürs Massenpublikum. In der Sendung schaut er mit mir kritisch auf diese Zeit zurück und erzählt über seine aktuelle Arbeit als Tänzer und Theaterschauspieler.

Weitere Themen: Erotik und Behinderung im Film, behinderte Models und Identitätsfindung als Künstler.


Mehr Infos:

RedCarpetActors


Erstausstrahlung: 17.06.2017, 9.30 Uhr, Sport 1


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Published on June 17, 2017 01:59

May 27, 2017

Warum es nicht ausreicht, Inklusion zu wollen – Von der Bewusstwerdung zur Akzeptanz und Aktion


Inklusion ist etwas Gutes – dessen ist man sich in der Mehrheitsgesellschaft mittlerweile überwiegend einig.

Allerdings sollte Inklusion besser nichts kosten und bloß keinen Aufwand machen. Denn dann wird es für viele “zu anstrengend” oder “zu teuer”.

Chasa Chahine, Vorständin von „Autonom Leben e.V. – Für Würde und Selbstbestimmung behinderter Menschen“, fasst das Problem so zusammen: „Viele denken: Inklusion ist gut – aber bitte nicht bei uns!“






Inklusion beginnt mit Bewusstseinsbildung

Bewusstseinsbildung/Awareness ist wichtig und der erste Schritt in Richtung Inklusion.

Jede*r sollte sich fragen: Wo werden Menschen mit Behinderungen nach wie vor benachteiligt und diskriminiert? Wo gibt es Ungerechtigkeiten? Wo verhindert mangelnde Barrierefreiheit tatsächliche Teilhabe?

Menschen mit Behinderung stehen mittlerweile nicht mehr so sehr am Rande der Gesellschaft wie früher – sondern fordern selbstbewusst und laut ihre Rechte ein. Der Kampf um ein gutes Teilhabegesetz hat gezeigt: Die Behindertenbewegung ist stark wie seit Jahrzehnten nicht mehr.

Umso mehr wird nun auch vielen nichtbehinderten Menschen bewusst, dass Menschen mit Behinderung nach wie vor mit Benachteiligungen und Diskriminierungen leben müssen.

Wenn ich als Rollstuhlfahrer beispielsweise in eine neue Wohnung ziehen muss, ist es fast wie ein kleiner Lottogewinn, ein barrierefreies neues Zuhause zu finden. Ein guter Freund von mir, der ein tolles Job-Angebot in Berlin annahm, musste eine Weile in einem Hotel wohnen – weil er einfach keine barrierefreie WG oder Wohnung fand.

Für gehörlose Menschen werden Alltäglichkeiten wie Fernsehen zum Problem, einfach weil viele Sendungen ohne Untertitel ausgestrahlt werden; auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Den Rundfunkbeitrag müssen Menschen mit Hörbehinderungen trotzdem zahlen.

Eine aktuelles, sehr drastisches Beispiel ist die Möglichkeit Menschen mit Behinderung aus Kostengründen zu zwingen aus ihrer Wohnung aus und in ein Heim einzuziehen.

Vielen Menschen mit und ohne Behinderung ist bewusst, dass diese Diskriminierungen gegenüber behinderten Menschen existieren.

Aber die Bewusstseinsbildung und das Wissen alleine reichen nicht. Der nächste Schritt muss getan werden: Hin zur Akzeptanz der Inklusion, hin zur Aktion.


Wann beginnt Akzeptanz und Aktion?

Wenn ich die Begriffe „Akzeptanz“ und „Behinderung“ („Acceptance”, “Disability“) recherchiere – finde ich in erster Linie Internetseiten mit Tipps, wie ich als behinderter Mensch meine Behinderung akzeptieren kann.

Das ist natürlich ein wichtiger Punkt – aber nur einer von vielen.

Das Recherche-Ergebnis offenbart das Grundproblem: Es wird von Menschen mit Behinderung erwartet, dass sie sich um „ihr Problem“ kümmern. Die Behinderung an sich ist problematisch – Barrierefreiheit und Diskriminierung wird dabei aber nicht als gesamtgesellschaftliches Thema wahrgenommen.

Akzeptanz sollte allerdings diese Zusammenhänge verstehen und in Aktion münden.

Akzeptanz fordert ein Statement: Wo stehe ich? Welche Möglichkeiten habe ich? Wie möchte ich leben?

Fragt euch: Was kann ich persönlich tun, um Inklusion aktiv voranzutreiben? Warum habe ich keine Arbeitskolleg*innen, keine Mitbewohner*innen oder Mitsportler*innen mit Behinderung? Warum keine behinderten Freund*innen?

Jeder 10. Mensch hat eine Behinderung, aber trotzdem haben viele nichtbehinderte Menschen keinen Kontakt zu behinderten Menschen.


Der nächste Schritt

Johann Wolfgang von Goethe schrieb in seinem Werk Wilhelms Meisters Wanderjahre:


Es ist nicht genug, zu wissen, man muß auch anwenden; es ist nicht genug, zu wollen, man muß auch tun.


Wer verstanden hat, wo wie Diskriminierung stattfindet, für den*die sollte die logische und aktive Schlussfolgerung sein, die diskriminierenden Umstände zu beseitigen. Akzeptanz geht immer mit Aktion einher.

Wer bei der Bewusstwerdung stehen bleibt, ohne Akzeptanz von Inklusion im eigenen Leben umzusetzen, wird nicht Teil des Wandels sein.

Akzeptanz und echte Inklusion verlangen zuweilen das Verlassen der eigenen Wohlfühlzone. Und das macht es eben für viele so schwer.


Wie kann ich Akzeptanz aktiv leben?

Es gibt ganz viele Möglichkeiten, die vom individuellen Lebensumfeld abhängen.

Ein paar Beispiele:



An deinem Arbeitsplatz gibt es keine Menschen mit Behinderung? Frag deine/n Arbeitgeber*in doch mal, warum das so ist. Und äußere den Wunsch nach mehr Vielfalt im Kollegium.
In der Kita oder Schule deines Kindes gibt es keine behinderten Mitschüler*innen? Frag bei der Schulleitung, wie das kommt. Gerade in Bildungseinrichtungen für Kinder hat Inklusion sich als erfolgreiches und gutes Konzept für alle herausgestellt. Wenn die Personaldecke stimmt. Aber von kleineren Klassen und mehr Lehrern*innen profitieren alle – auch nichtbehinderte Kinder.

In inklusiven Kitas und Schulen wächst eine Generation heran, für die Inklusion so selbstverständlich ist, dass das Wort “Inklusion” irgendwann überflüssig ist.
Du gibst einen Yoga-Kurs, DIY-Workshop, organisierst feministische Netzwerktreffen oder einen Stammtisch für Meerschweinchen-Halter*innen – und die Location ist barrierefrei? Dann schreib diese wichtige Information ins Programm, auf die Internetseite und aufs Plakat.

Und wenn die Räumlichkeit nicht barrierefrei ist – schau dich um, ob es nicht vielleicht eine barrierefreie Raum-Alternative oder eine Rampe gibt.

Viele Menschen mit Behinderung haben schon so oft Absagen erhalten, dass sie manchmal gar nicht mehr die Energie haben nachzufragen, ob eine Kurs- oder Workshop-Räumlichkeit barrierefrei ist. Umso besser, wenn sie diese Info ganz selbstverständlich und ohne Nachfragen zu müssen, präsentiert bekommen.
Es gibt in ganz Deutschland regelmäßige Aktionen und Treffen zum Thema Inklusion. Erkundige dich, welche Möglichkeiten es in deiner Gegend gibt – und werde aktiv.

Gut gemeint ist oft das Gegenteil von gut gemacht

In den letzten Jahren sind sogenannte Disability Awareness Days/Behinderungs-Bewusstseins-Tage immer beliebter geworden.

Auf Betriebsfesten und an Schulen werden Parcours aufgebaut, an deren Stationen man verschiedene Behinderungen “ausprobieren” kann.

In einem Rollstuhl eine steile Rampe hinauf fahren zeigt, wie schwer das Leben mit einer Behinderung ist. Eine mit Vaseline verschmierte Taucherbrille schränkt das Sehvermögen erheblich ein, ein festgebundener Arm simuliert Einarmigkeit und Ohrstöpsel eine Hörbehinderung. Wer sich traut – kann gleich mehrere Behinderungen kombinieren.


Die Behindertenrecht-Aktivistin Valerie Brew-Parrish kritisierte diese Form des Umgangs mit Behinderung schon vor vielen Jahren:



Behinderung wird in erster Linie als etwas Defizitäres erlebt.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Teilnehmer*innen den Eindruck gewinnen, es sei besser gehen zu können – als zu rollen, besser hören/sprechen zu können – als Gebärdensprache zu verwenden usw. Unterschiedliche Lebensformen werden nicht als gleichwertig verstanden.
Statt Verständnis zu bewirken – wächst das Mitleid für behinderte Menschen. Man ist “froh”, die simulierte Behinderung nach dem Experiment wieder los zu sein.
Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderung werden verfestigt.
Die Gemeinsamkeiten von behinderten und nichtbehinderten Menschen rücken in den Hintergrund – Grenzen und Unterschiede stehen im Fokus.
Die Behinderung an sich wird als Problem empfunden. Die Tatsache, dass einige Menschen nur deshalb behindert sind, weil sie behindert werden – durch fehlende Barrierefreiheit und gesellschaftliche Diskriminierungen – wird vernachlässigt.

Im Gegenteil: Sobald die experimentierende Person aus dem Rollstuhl aufsteht/die verschmierte Brille abnimmt/die Ohrstöpsel entfernt – ist auch ihr temporäres “Behinderungsproblem” mit verschwunden.

Ich stimme Valerie Brew-Parris zu, wenn sie schreibt:



Die Realität sieht so aus: nichtbehinderte Menschen werden niemals nachvollziehen können, was es bedeutet, eine Behinderung zu haben. Für ein paar Minuten in einen Rollstuhl zu springen, eine Augenbinde zu tragen und sich Ohrenstöpsel in die Ohren zu stecken – wird eine nichtbehinderte Person nicht dazu bringen zu verstehen, was es bedeutet, mit einer Behinderung zu leben.


Es geht gar nicht darum, dass ein nichtbehinderter Mensch am eigenen Leib scheinbar erlebt, wie es sich anfühlen könnte, eine Behinderung zu haben.

Das ist eben schlichtweg unmöglich. Und wird im schlimmsten Fall dazu führen, dass nichtbehinderte Menschen erklären, wie bestimmte Behinderungen sich anfühlen – und behinderten Menschen Ratschläge geben, wie sie mit ihrer Behinderung umgehen könnten. Ein Äquivalent zum Mansplaining gegenüber Frauen – ein “Nondisabledsplaining” gegenüber Menschen mit Behinderung.

Es geht vielmehr darum, Diskriminierungen und Barrieren zu identifizieren – und gemeinsam nach Lösungen für ihre Beseitigung zu suchen. Das kann man auch mal ausprobieren und erfahren. Nur sollten eben auch Betroffene und gute Vorbilder dabei sein, die zeigen, dass ein Leben mit Behinderung nicht automatisch Leid, Unglück und Schmerzen bedeuten müssen, wenn man Lösungen für Teilhabe entwickelt.


Wie kann eine Bewusstseinsbildung effektiv stattfinden?

Kein noch so unterhaltsames Selbstexperiment in einer Behinderungen-Simulation – in den meisten Fällen noch in Abwesenheit von Menschen mit Behinderung – wird eine Bewusstseinsentwicklung stattfinden lassen.

Stattdessen sollte man Experten*innen in eigener Sache zuhören: Menschen mit Behinderung – ihre Lebensgeschichten erfahren, ihre Bedürfnisse, Positives und Negatives.

Disability Awareness Days sollten eher Disability Acceptance Days sein und das Ziel haben: Von Menschen mit Behinderung zu lernen, Verbündete*r in Sachen Inklusion zu werden, Vorurteile, Barrieren und Ableism abzubauen und gemeinsam aktiv an Problemlösungen zu arbeiten. Nicht die Behinderung soll als Problem empfunden werden – sondern dass Menschen behindert und diskriminiert werden.


Und wie könnte so ein Disability Acceptance Day dann aussehen?

Das Event sollte sich auf die Barrieren der Umgebung konzentrieren – und nicht zur Unterhaltung Behinderungsarten simulieren oder in eine Art Wettbewerb münden.

Die Veranstaltung könnte zum Beispiel so ablaufen:



Menschen mit Behinderung werden als Experten*innen in eigener Sache (am besten gegen ein Honorar) eingeladen und berichten über Barrieren, Diskriminierungen und Ableism in ihrem Alltag. Eine Ask Me Anything-Runde lässt die Experten*innen und Teilnehmer*innen ins Gespräch kommen und kann mit Vorurteilen aufräumen.
Mit dem neu gewonnenen Wissen machen sich die Teilnehmern*innen auf den Weg durch ihr Schul- oder Bürogebäude, die Stadt oder Kinos und identifizieren Punkte, von denen sie glauben, sie könnten beispielsweise für Menschen im Rollstuhl, mit einer Sinnesbehinderung oder einer kognitiven Einschränkung problematisch oder sogar unerreichbar sein.
Gemeinsam mit den Experten*innen in eigener Sache werden die markierten Punkte in einer zweiten Runde betrachtet und diskutiert, ob es sich tatsächlich um Barrieren handelt – und welche Lösungen gefunden werden können, um diese zu entfernen oder zu überwinden.
Schließlich erstellt man einen gemeinsamen Lösungsplan, den man der Stadt, der Schul- oder der Geschäftsleitung präsentiert.

Dabei bleibt ständig im Fokus:



Die behindernden Situationen, Barrieren und Diskriminierungen sind das Problem.
Die Menschen mit Behinderung sind Experten*innen in eigener Sache.
Auf der Veranstaltung sollen Lösungen entwickelt werden, die zu mehr Barrierefreiheit und weniger Diskriminierungen und Ableism führen.

5 Fragen, die ihr euch, Freunden und den zuständigen Ämtern stellen könnt:

Gibt es in eurem Umfeld inklusive Schulkonzepte?
Welche inklusiven Möglichkeiten gibt es für Arbeitnehmer mit den verschiedensten Behinderungen?
Gibt es barrierefreie Wohnungen? Gibt es Wohnkonzepte für Menschen mit körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderungen, die nicht alleine leben können/wollen? Welche Finanzierungen gibt es für barrierefreie Wohnungen und inklusive Wohnkonzepte?
Wie sieht die Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel aus? Ist auch Menschen mit Behinderungen die Teilhabe am öffentlichen Leben vollständig möglich?
Sind Freizeitgestaltungsmöglichkeiten barrierefrei?

Und jetzt ihr!

Teilt mit uns eure Erfahrungen, wie mehr Akzeptanz stattfinden kann!

Welche Erfahrungen hast du – als Mensch mit Behinderung – diesbezüglich gemacht? Was würdest du dir wünschen?

Hast du – als nichtbehinderter Mensch – schon mal Veranstaltungen geplant und den Aspekt Barrierefreiheit ganz selbstverständlich mit umgesetzt, auch wenn du gar nicht wusstet, ob Menschen mit Behinderung kommen würden? Was ist passiert?

Gibt es in der Kita-Gruppe eurer Kinder auch Kinder mit Behinderung? Und wenn nicht, was könnte man dagegen unternehmen?

Ich freue mich auf euer Feedback!


Weiterführende Links:

“The Wrong Message” – Valerie Brew-Parris’ Kritik an Disability Awareness Days aus dem Jahr 1997 Englisch)
“The Wrong Message – Still” – 7 Jahre später schreibt Valerie Brew-Parris erneut über die Praxis der Disability Awareness Days
‚Disablism‘: A Closer Look von Mary Johnson (Englisch)

Faktencheck bei Inklusionsfakten.de: „Die nichtbehinderten Kinder werden durch den gemeinsamen Unterricht benachteiligt“

(sb)


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Published on May 27, 2017 04:38

May 18, 2017

Post re:publica 17: Love Out Loud!

Kaum begonnen – schon ist sie wieder vorbei: Die re:publica 2017.

Mir geht es wie vielen – es ist jedes Jahr aufs Neue wie ein großes Klassentreffen der digitalen Kontakte. Ich hatte viele spannende und schöne Gespräche mit Bekannten, Freunden und Kollegen. Einige von ihnen treffe ich tatsächlich nur einmal pro Jahr – eben auf der re:publica – und den Rest der Zeit begleiten wir uns digital.


Mein Kopf schwirrt noch von all’ den Begegnungen und Ideen, den Inspirationen und einer Menge Virtual Reality, die ich ausprobierte.


In diesem Jahr habe ich weniger Talks als sonst besucht – habe dafür aber die spannendsten wirklich genossen.


Kübra Gümüşay

Kübra Gümüşay



Allen voran den von Kübra Gümüşay. Schon im letzten Jahr setzte Kübras Talk Maßstäbe und war in Denken, Erfahrung und Analyse uns allen weit voraus.

Sie öffnete uns Horizonte: Was bedeutet es für ein Leben, wenn man tagtäglich mit Hass konfrontiert wird? Einem brutalen, menschenverachtenden, absurden, irrationalen Hassbombardement, das sich nicht einfach wegklicken lässt, nicht einfach löschen und ignorieren.

Hass, dem auch (noch nicht) Betroffene nicht passiv gegenüber stehen sollten – sondern dem wir aktive, “organisierte Liebe” als klare Stellungnahme erwidern können.

Ich traf Kübra nach der letzten re:publica für ze.tt und wir sprachen u.a. über Hass und Zivilcourage.

Fast zeitgleich mit der Bewusstwerdung über den Hass on- und offline u.a. durch Kübras zukunftsweisenden Talk setzte in den folgenden Monaten eine Woge der digitalen Manipulation, Hate Speech, Diskriminierungen und menschenverachtenden Kommentaren und Aktionen in den sozialen Netzwerken ein. Auch ich persönlich erlebte plötzlich, was es bedeutet, einem Hate Speech-Shitstorm ausgesetzt zu sein und wie man dadurch – wenigstens vorübergehend – sein on- und offline Verhalten verändert.

Aus gutem Grund regte Kübras re:publica-Talk “Organisierte Liebe” aus dem Jahr 2016 zum mutmachenden Thema der diesjährigen Veranstaltung an: Love Out Loud!

Auch in diesem Jahr war Kübra uns mit ihrem Talk wieder mindestens einen Schritt voraus: “Die Emanzipation der Gutmenschen”. Ich lege euch allen ans Herz, diesen Talk zu hören.





 

Ein weiterer Vortrag hat mich sehr beeindruckt; meinen Respekt für die Geduld, das Durchhaltevermögen und den starken Magen, praktisch alle AfD-Parteiprogramme gelesen zu haben: Katharina Nocurn und ihr Talk “Der Source Code der AfD”.







"AfD wählen, weil die etablierten Parteien Versagen, ist wie die Wohnung anzünden, weil die Tapete nicht gefällt" @kattascha #word #rp17 pic.twitter.com/zI1Wi0BuF9


— Julian (@julscho) 10. Mai 2017



Außerdem fand ich anregend: “Stop Hatevertising? Why it is impossible for brands to stay apolitical” von meinem Freund Gerald Hensel





 

und “Die Macht der Sprachbilder – Politisches Framing und neurokognitive Kampagnenführung” von Elisabeth Wehling.





Aber am meisten beeindruckt war das Spielkind in mir von all’ den großartigen VR-Projekten, die auf der re:publica präsentiert wurden.




#MeinErstesMal:#VirtualRaulity auf der @republica.#LOVEoutLOUD #rp17 pic.twitter.com/N30ulmWvnB


— Raul Krauthausen (@raulde) 9. Mai 2017



So erforschte ich am Stand des WDR den Kölner Dom aus Perspektiven und in Ecken, die auch Besuchern ohne Rollstuhl bisher verborgen blieben, stürzte beim ZDF in eine virtuelle Häuserschlucht und musste mich in einem virtuellen Escape Room zurechtfinden: Vacate the Room, ein VR-Adventure einer frisch gegründeten kleinen Agentur aus Neubrandenburg. Damit das alles in einem virtuellen Raum stattfinden kann, braucht man allerdings einiges an Equipment. Wer das hat oder weiß, wo er es mitbenutzen kann: Probiert dieses VR-Escape Room Game unbedingt aus, man kann es für kleines Geld auf Steam kaufen.

Wirklich grandios, welche Entwicklungen da in der letzten Zeit stattgefunden haben.


Beim Schlendern über die re:publica hatte ich auch die Gelegenheit, zwei kleine Interviews zu führen. Ich fragte Laura Gehlhaar und Philip Steffan welche ihre erfolgreichsten Social-Media-Posts waren:





 

Für mich war das eine wirklich runde re:publica in diesem Jahr: Tolle Begegnungen mit spannenden und wunderbaren Menschen, inspirierende Ideen und auch Wut erzeugende Erkenntnisse, die nach Taten in mir drängen und unterhaltsame und beeindruckende technische Erfahrungen.




Ausruhen auf der @republica. #LOVEoutLOUD #rp17
(Foto: @revoluzzza) pic.twitter.com/1AXc7BDMLe


— Raul Krauthausen (@raulde) 9. Mai 2017



Vielleicht bin ich im nächsten Jahr auch wieder als Speaker dabei. Ich habe da schon eine Idee… :-)


(sb)


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Published on May 18, 2017 13:25