Raúl Aguayo-Krauthausen's Blog, page 28

February 10, 2018

Was die Behindertenrechtsbewegung von der Frauenrechtsbewegung lernen kann

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Im Januar 2017 wurde ein Gesetz verabschiedet, das die Rechte behinderter Menschen stärken sollte: Das Bundesteilhabegesetz. Während der Entwicklung des Gesetzestextes wurde schnell offensichtlich, dass Behindertenrechtsaktivisten*innen und Politiker*innen jeweils sehr unterschiedliche Vorstellungen diesbezüglich hatten.

Und so gingen 2016 viele behinderte Menschen gemeinsam mit Alliierten auf die Straße und kämpften um ihre Rechte. Die Auswirkungen der Proteste waren allerdings ernüchternd – und so wurde schließlich ein Bundesteilhabegesetz verabschiedet, das Betroffene sehr enttäuschte: Die Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention wurden in dem Gesetz nicht ausreichend umgesetzt.


Für die Behindertenrechtsbewegung heisst es jetzt: Sich sammeln und die nächsten Schritte planen. Der Blick auf die Frauenrechtsbewegung kann dabei helfen, allerdings auch desillusionieren…


Mehr als 200 Jahre sind vergangen, seitdem die Frauenrechtsbewegung sich während der französischen Revolution in Europa formierte. In der Zwischenzeit konnte die Bewegung große Erfolge erringen, es gab und gibt aber auch immer wieder herbe Rückschläge.

Die Behindertenrechtsbewegung ist in Deutschland weitaus jünger – sie hat ihre Ursprünge in den 1960/70er Jahren zeitgleich mit dem “Disability Rights Movement” in den USA und der zweiten Welle der Frauenrechtsbewegung.


Zentrale Themen der Frauenrechtsbewegung und der Blick auf die Rechte von Menschen mit Behinderung:




Wahlrecht

In Deutschland feiern wir in diesem Jahr das 100-jährige Jubiläum des Frauenwahlrechts. Einige Frauen dürfen allerdings bis heute nicht wählen: Insgesamt ca. 85.000 Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung haben nicht das Recht an der Wahl des Parlamentes teilzunehmen – ein Verstoß gegen die UN-Behindertenkonvention. Behindertenrechtsaktivisten*innen demonstrieren schon lange gegen diesen Wahlausschluss und das Deutsche Institut für Menschenrechte bewertet „die Wahlrechtsausschlüsse (als) einen diskriminierenden und unverhältnismäßigen Eingriff in das menschenrechtlich garantierte Recht zu wählen und gewählt zu werden (…)“.

Recht auf Bildung

In Deutschland fand 1908 die sogenannte Mädchenschulreform statt: Mädchen wurde endlich die gleiche Schulbildung wie Jungen ermöglicht. Weltweit sind Mädchen bis heute in vielen Ländern im Bereich der Bildung benachteiligt.

Für Schüler*nnen mit Behinderung soll inklusives Lernen gleiche Chancen schaffen wie für nichtbehinderte Lernende – das fordert die UN-Behindertenrechtskonvention. Obwohl schon vor 10 Jahren das Ende der Förderschulen prophezeit wurde, ist davon heute nach wie vor wenig zu bemerken. Der Begriff Inklusion ist zum Schreckgespenst des Schulwesens geworden. Man hält Inklusion für nicht machbar, zu teuer, fordert Schutz der nichtbehinderten ebenso wie der behinderten Schüler*innen.

Und so bleibt der Bildungsweg vieler Menschen mit Behinderung auf Sondereinrichtungen beschränkt: Von der Förderschule ins Berufsbildungswerk und schließlich in die Behindertenwerkstatt. Zwei Drittel aller Schüler*innen an Förderschulen beenden die Schullaufbahn ohne berufsqualifizierenden Schulabschluss. Internationale Studien beweisen, dass inklusive Bildung behinderte Lernende besser und nachhaltiger auf den Arbeitsmarkt vorbereitet.

Recht auf Arbeit

Erst die Industrialisierung ermöglichte Frauen berufliche Perspektiven. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts standen Frauen einige wenige Berufe offen, unter anderem konnten sie Lehrerin werden. Allerdings nur, wenn sie ledig waren. Sobald sie heirateten, hatte das die sofortige Kündigung zur Folge. Noch bis 1977 durfte eine verheiratete Frau nur dann erwerbstätig sein, wenn “dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar” war.

Selbst mit qualifizierter Berufsausbildung bleibt der erste Arbeitsmarkt Menschen mit Behinderung oft verschlossen, weil sie, laut Diskriminierungsbericht der Bundesregierung, bei der Besetzung von Stellen benachteiligt werden.

Vielen behinderten Menschen bleibt nur die Arbeit in Behindertenwerkstätten. Die UN kritisiert das deutsche Werkstättensystem, weil Menschen mit Behinderung aussortiert werden und ein Jobwechsel an den ersten Arbeitsmarkt durch das System verhindert wird.

Gleichberechtigung

Viele Männer sind der Meinung, dass Frauen heutzutage gleichberechtigt sind und die Frauenrechtsbewegung damit obsolet wurde. Unter anderem #MeToo zeigt uns eindrücklich, dass dies nicht der Fall ist.

Auch Menschen mit Behinderung sind weit davon entfernt, gleichberechtigt in dieser Gesellschaft leben zu können. Teilhabe behinderter Menschen und Barrierefreiheit sind nach wie vor “nice to have” – etwas, das man sich “leisten” kann, wenn es nicht “zu teuer” oder “zu aufwendig” wird.

Behindert werden und behindert sein

Die Philosophin und Feministin Simone de Beauvoir schrieb: „On ne naît pas femme, on le devient.” – „Man ist nicht als Frau geboren, man wird es.“ Eine Erkenntnis, die sich ebenfalls auf Menschen mit Behinderung übertragen lässt.

Ich wurde mit einem Körper geboren, der nicht der Norm entspricht und der in einer Welt, die für genormte Körper gebaut wurde, nicht ohne Hilfsmittel existieren kann. Der entscheidende Punkt ist nicht die Andersartigkeit meines Körpers – sondern die fehlende Barrierefreiheit. Die Gesellschaft entschied bisher, dass eine barrierefreie Umgebung nicht wichtig ist. Würden die mich behindernden Umstände durch Barrierefreiheit wegfallen, hätte das Thema Behinderung keine Relevanz mehr.

Ich wurde nicht nur als behinderter Mensch geboren, ich werde dazu gemacht.


Die nigerianische Autorin und Feministin Chimamanda Ngozi Adichie betont, dass soziale Normen von Menschen geschaffen werden, deshalb sollten Frauen und Mädchen scheinbar biologische Gründe für soziale Normen nicht akzeptieren.





Auch für die Behindertenrechtsbewegung ist dies ein wichtiger Aspekt: Wie oft schon wurde nicht existierende Gleichberechtigung behinderter Menschen auf ihre biologische Unterlegenheit geschoben. Es gibt keine biologische Unterlegenheit von behinderten Menschen gegenüber nichtbehinderten Menschen. Allerdings gibt es gesellschaftliche Werte, die den nichtbehinderten Menschen zur Norm erklären, die alles, was von diesem Maßstab abfällt, als degeneriert, unnormal oder minderwertig bewerten.


Wir Menschen mit Behinderung und unsere Alliierten dürfen dies nicht weiter hinnehmen und müssen klarstellen: Jede soziale Norm kann verändert werden!

So wie Chimamanda Ngozi Adichie zu Recht sagt, dass die menschengemachte Kultur verändert werden muss, wenn diese Frauen nach wie vor benachteiligt, muss ebenfalls unsere behindertenfeindliche, ableistischen und nicht barrierefreie Kultur und Umwelt verändert werden, um allen Menschen gleiche Teilhabe und Rechte zu ermöglichen.

Ich stimme Chimamanda Ngozi Adichie zu: Wir sollten alle Feministen*innen sein. Und möchte ergänzen: Teilhabe und Barrierefreiheit sollten nicht mehr als “nice to have” angesehen werden – sondern als unbedingte Notwendigkeit gleichberechtigten Zusammenlebens.


(sb)


Dieser Artikel ist zuerst, in leicht abgewandelter Form in “neues deutschland” erschienen.



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Photo: Jonas Deister | Gesellschaftsbilder.de


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Published on February 10, 2018 01:17

February 7, 2018

Schnell-Analyse des Koalitionsvertrages aus Sicht der Behindertenpolitik

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Foto: Andi Weiland, Gesellschaftsbilder.de


Offensichtlich wird – sofern uns der SPD-Altersdurchschnitt nicht Lügen straft – Deutschland eine neue Bundesregierung, bestehend aus CDU, SPD und CSU haben. Wir von AbilityWatch haben versucht zügig die relevanten Themen aus Sicht der Behindertenpolitik zusammenzutragen und erste kurze Kommentare unsererseits einzufügen. Für Anmerkungen und Hinweise zu fehlenden Punkte wären wir sehr dankbar. Wir haben hier nur aufgelistet was sich im Koalitionsvertrag wiederfindet und nicht, was darin fehlt – was eine Menge wäre.


// Stand: 07.02.18 – 15:20 Uhr; Dank an Constantin für das gemeinsame Zusammentragen. Der Koalitionsvertrag ist hier abrufbar.



Kinder und Jugendliche:

Erhöhtes Kindergeld um 25€: Dies wird auch auf Eltern zutreffen, deren behindertes Kind über 25 Jahre alt ist und außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. (Zeile 311)
Es soll eine Gesetzesinitiative zum Kinder- und Jugendhilferecht geben. Dies ist höchst relevant für Kinder mit Behinderungen, insbesonderen sogenannten psychischen “Auffälligkeiten”. Zuvor soll es mit der Behindertenhilfe abgestimmt werden. Behindertenhilfe = Anbieter, nicht Betroffene!

“Im Vorfeld einer Gesetzesinitiative werden wir einen breiten Dialog mit Akteuren aus Wissenschaft und Praxis der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Behindertenhilfe und den Ländern und Kommunen führen.“ (Zeile 831)

Bildung:

“Mit der Investitionsoffensive Schule und dem Digitalpakt Schule tragen wir auch zur inklusiven Bildung bei. In der Bildungsforschung soll die inklusive Bildung entlang der gesamten Bildungsbiographie zu einem Schwerpunkt gemacht werden.

Weitere Schwerpunkte in der Bildungsforschung sollen bei der Qualitätsverbesserung des Unterrichts, der Digitalisierung, der sozialen Integration und dem Abbau von Bildungsbarrieren liegen.” (Zeile 1197)

Was genau dies bedeuten soll, erschließt sich nicht sofort.
“Die assistierte Ausbildung, bei der neben den Jugendlichen auch Eltern, Schulen und Unternehmen unterstützt werden, wollen wir bundesweit ausbauen. Gleichzeitig wollen wir das Instrument der ausbildungsbegleitenden Hilfen stärken, um so Unterstützung bei Lernschwierigkeiten oder bei Problemen im sozialen Umfeld zu ermöglichen. “ (Zeile 1285)
“Die Qualitätsoffensive Lehrerbildung von Bund und Ländern wollen wir fortsetzen und um die Schwerpunkte Digitalisierung und Lehrerinnen- und Lehrerausbildung für die beruflichen Schulen erweitern. “ (Zeile 1352)

Hier wäre eine verstärkte Qualitätsoffensive hinsichtlich der Lehrerausbildung im Bereich Inklusion mindestens genauso wichtig gewesen.

Teilhabe von Menschen mit Behinderungen:

“Menschen mit Behinderungen haben einen Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe in allen Bereichen unserer Gesellschaft. Mit dem Bundesteilhabegesetz haben wir einen wichtigen Schritt zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention getan. Seine Umsetzung werden wir in den kommenden Jahren intensiv begleiten und gleichzeitig die Teilhabe weiter fördern.” (Zeile 4331)
“Wir prüfen die Einführung eines Budgets für Ausbildung. Wir wollen zudem die Assistierte Ausbildung um zwei Jahre verlängern und weiterentwickeln. Darüber hinaus wollen wir gemeinsam mit den Akteuren der Arbeitsmarktpolitik klären, wie Teilqualifizierungen einen Beitrag leisten können, auch Menschen mit Beeinträchtigungen, die als nicht ausbildungsfähig gelten, einen schrittweisen Einstieg in eine anerkannte Ausbildung nach § 66 Berufsbildungsgesetz (BBIG) oder § 42m Handwerksordnung (HwO) zu ermöglichen. Inklusionsbetriebe werden wir weiter fördern. Wir wollen die Werkstätten für behinderte Menschen unterstützen, ihr Profil entsprechend neuer Anforderungen weiterzuentwickeln und dem Wunsch der Menschen mit Behinderungen nach Selbstbestimmung Rechnung zu tragen.” (Zeile 4338)

Gute Entwicklung, da bisher das Budget für Arbeit nicht für die Ausbildung ausgelegt ist.
“Gemeinsam mit der Bundesagentur für Arbeit werden wir die Ursachen der überdurchschnittlich hohen Arbeitslosigkeit von Menschen mit Behinderungen genau analysieren und passgenaue Unterstützungsangebote entwickeln. Wir wollen die Meldepflicht an die Arbeitsagenturen für offene Stellen im öffentlichen Dienst, die von einem Menschen mit Schwerbehinderung besetzt waren, wiedereinführen. Das betriebliche Eingliederungsmanagement wollen wir stärken. Für alle Menschen mit Behinderungen, ob im allgemeinen Arbeitsmarkt oder in Werkstätten beschäftigt, wollen wir den vollen Zugang zu medizinisch-beruflicher Rehabilitation verbessern. Wir sehen dabei insbesondere für Menschen mit psychischer Erkrankung einen Nachholbedarf.” (Zeile 4349)
“Unabhängige Teilhabeberatung wollen wir durch eine Weiterführung der Finanzierung verlässlich schützen” (Zeile 4380)

Damit sollte eine Finanzierung auch über die jetzige Periode hinaus sichergestellt sein. Positiv!
“Menschen mit Behinderungen werden besonders häufig Opfer von Gewalt in unterschiedlichster Form. Wir wollen die Aufklärung und Stärkung der Menschen fördern sowie Gewaltschutzkonzepte in Einrichtungen und eine Verbesserung der Unterbringungsmöglichkeiten nach Übergriffen, z. B. in barrierefreien oder mit speziell geschultem Personal besetzten Frauenhäusern.” (Zeile 4390)

Pflege:

“Kranke, Pflegebedürftige und Menschen mit Behinderungen müssen auf die Solidarität der Gesellschaft vertrauen können. Wir werden sicherstellen, dass alle auch zukünftig eine gute, flächendeckende medizinische und pflegerische Versorgung von Beginn bis zum Ende ihres Lebens erhalten, unabhängig von ihrem Einkommen und Wohnort.” (Zeile 4419)

Hier ist nur von Einkommen die Rede! Dies macht zwar durchaus Sinn für “gewöhnliche” Pflegebedürftige im Alter, nicht aber für Menschen mit Behinderungen. Sollte aber tatsächlich die gesamte Einkommenabhängigkeit – zumindest in der Pflege (nicht Eingliederungshilfe!) fallen, wäre dies ebenfalls positiv.
“Um Angehörige besser zu unterstützen, gehören insbesondere Angebote in der Kurzzeit- und Verhinderungspflege sowie in der Tages- und Nachtpflege, die besonders pflegende Angehörige entlasten, zu einer guten pflegerischen Infrastruktur. Wir wollen die o. g. Leistungen, die besonders pflegende Angehörige entlasten, zu einem jährlichen Entlastungsbudget zusammenfassen, das flexibel in Anspruch genommen werden kann. Damit können wir erheblich zur Entbürokratisierung in der ambulanten Pflege beitragen, die häusliche Versorgung stärken und pflegende Angehörige entlasten. Wir werden die Angebote für eine verlässliche Kurzzeitpflege stärken, indem wir eine wirtschaftlich tragfähige Vergütung sicherstellen. Um die Situation pflegender Angehöriger zu verbessern, werden sie einen Anspruch auf medizinisch erforderliche Rehabilitationsleistung nach ärztlicher Verordnung erhalten.” (Zeile 4475)

Gesundheit:

“Wir werden die Medizinischen Dienste der Krankenversicherung stärken, deren Unabhängigkeit gewährleisten und für bundesweit einheitliche und verbindliche Regelungen bei ihrer Aufgabenwahrnehmung Sorge tragen.” (Zeile 4577)

Steuer:

“Wir prüfen zudem eine Anpassung der pauschalen Steuerfreibeträge für Menschen mit einer Behinderung.” (Zeile 2433)

Barrierefreiheit:

“Wir stärken die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen: Investitionen in Ausbau der Barrierefreiheit im öffentlichen Raum und allen Bereichen des Alltags.” (Zeile 494)
“Wir wollen behinderungsgerechten, barrierefreien Wohnungsbau und barrierefreie Mobilität fördern, damit Menschen mit Behinderungen eine Wahl haben, wo und wie sie leben wollen. Wir wollen darüber hinaus Initiativen zu mehr Barrierefreiheit in Entwurf Städten und Gemeinden stärken. Wir wollen Anreize auch durch Förderprogramme zur Verbesserung der Barrierefreiheit in den Kommunen setzen (z. B. Einsatz leichter Sprache und Gebärdendolmetscher, mobile sanitäre Anlagen, barrierefreie Veranstaltungen). Im Rahmen der Weiterentwicklung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) werden wir prüfen, wie Private, die Dienstleistungen für die Allgemeinheit erbringen, angemessene Vorkehrungen umsetzen können.

Ein erster Schritt wird den Gesundheitssektor betreffen. Die Digitalisierung eröffnet neue Teilhabechancen insbesondere für sinnesbehinderte und mobilitätseingeschränkte Menschen. Hier wollen wir einen Schwerpunkt im Nationalen Aktionsplan setzen.” (Zeile 4360)

Leider wird nur von einem Prüfauftrag für die Privatwirtschaft gesprochen und auch nur dann für jene Dienstleistungen, die für die Allgemeinheit erbracht werden. Dies ist eine riesen Enttäuschung und muss kritisch von der Behindertenbewegung begleitet werden.

Medien:

“Wir werden darauf hinwirken, dass die Produzenten der Medien ihren Verpflichtungen nachkommen, zugängliche und barrierefreie Angebote in Film, Fernsehen und Print anzubieten. Dabei haben die öffentlichen Medien eine Vorbildfunktion.” (Zeile 4375)

Leider keine konkrete Maßnahme. Schwach!
“Den Vertrag von Marrakesch zugunsten blinder und sehbehinderter Menschen setzen wir zügig um.” (Zeile 6224)

Arbeit:

“Gemeinsam mit der Bundesagentur für Arbeit werden wir die Ursachen der überdurchschnittlich hohen Arbeitslosigkeit von Menschen mit Behinderungen genau analysieren und passgenaue Unterstützungsangebote entwickeln. Wir wollen die Meldepflicht an die Arbeitsagenturen für offene Stellen im öffentlichen Dienst, die von einem Menschen mit Schwerbehinderung besetzt waren, wiedereinführen. Das betriebliche Eingliederungsmanagement wollen wir stärken. Für alle Menschen mit Behinderungen, ob im allgemeinen Arbeitsmarkt oder in Werkstätten beschäftigt, wollen wir den vollen Zugang zu medizinisch-beruflicher Rehabilitation verbessern. Wir sehen dabei insbesondere für Menschen mit psychischer Erkrankung einen Nachholbedarf.” (Zeile 4349)
“Deutschland soll zu einem führenden Markt für Assistenzsysteme werden, die Inklusion ermöglichen sowie lern- und gesundheitsförderlich sind. Daher wird ein Anwendungsprogramm „Assistenzsysteme für kleine und mittlere Unternehmen“ aufgelegt.” (Zeile 1833)

Erstmals wird im Koalitionsvertrag überhaupt von Assistenzsystemen im Zusammenhang mit Inklusion gesprochen. Offensichtlich sind hiermit aber nur Assistenzmodelle im Zusammenhang mit Arbeit gemeint und die persönliche Assistenz (PA).

Ehrenamt:

“Den Zugang für Menschen mit Behinderungen und für Benachteiligte wollen wir in den Jugendfreiwilligendiensten und dem Bundesfreiwilligendienst ausweiten.” (Zeile 5557)

Sport:

“Wir wissen um die überragende Bedeutung des Sports gerade für die Integration, die Inklusion und den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft. Der Sport erhält auf grund seiner gesellschaftlichen Kraft auch in Zukunft unsere Unterstützung, sowohl im Breiten- wie auch im Leistungssport.” (Zeile 6406)
“Sport leistet einen wichtigen gesamtgesellschaftlichen Beitrag, er verbindet Menschen mit und ohne Behinderung und trägt dazu bei, Barrieren und Vorurteile abzubauen. Bei jeder von Deutschland unterstützten Bewerbung um Austragung olympischer und paralympischer Spiele sowie anderer internationaler Sportveranstaltungen soll der paralympische Sport gleichberechtigt berücksichtigt und gefördert werden.” (Zeile 6440)

Wahlen:

“Unser Ziel ist ein inklusives Wahlrecht für alle. Wir werden den Wahlrechtsausschluss von Menschen, die sich durch eine Vollbetreuung unterstützen lassen, beenden. Wir empfehlen dem Deutschen Bundestag, in seinen aktuellen Beratungen zu Änderungen am Wahlrecht, dieses Thema entsprechend umzusetzen.” (Zeile 4384)

Wird Zeit …

Verkehr:

“Wir wollen deshalb für alle Menschen in Deutschland eine moderne, saubere, barrierefreie und bezahlbare Mobilität organisieren und dabei die gesellschaftlichen Herausforderungen, wie den demografischen Wandel, die Urbanisierung, Anbindung ländlicher Räume und Globalisierung, meistern.” (Zeile 3359)
“Wir werden uns im Mobilitätsbereich an der UN-Behindertenrechtskonvention orientieren. Der Bund begleitet den Prozess zum barrierefreien ÖPNV bis 2022.” (Zeile 3637)

Leider nur ein begleitender Prozess ohne weitere Aussagekraft über tatsächliche Maßnahmen.

Kulturelle Bildung

“Wir wollen ein gesamtstaatliches Bündnis für kulturelle Bildung und Vermittlung so wie Medienkompetenz schließen, um den Zugang zu Kunst, Kultur, Bildung und Medien zu stärken. Kulturelle Bildung hat eine überragende Bedeutung für die individuelle Persönlichkeitsentfaltung wie auch für das Selbstverständnis und die Teilhabe an unserer Gesellschaft. Kulturelle Bildung ist auch ein Schlüsselfaktor der Integration, sie erschließt den Zugang zum gesellschaftlichen Leben. Wir wollen ein gesamtstaatliches Bündnis der inklusiven kulturellen Bildung. Dieses wollen wir mit anderen bestehenden Initiativen zur kulturellen Bildung, wie etwa dem Preis für kulturelle Bildung, wo es sinnvoll ist, bündeln und stärken. Um jedem von Kindesbeinen an Zugang zu kulturellen Angeboten zu ermöglichen, unterstützen wir mit Bundesmitteln die Initiative „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“ mit außerschulischen Angeboten wie Vorlesepaten, Theatern, Musikschulen oder Bibliotheken. Die Mittel für kulturelle Bildung im Kinder- und Jugendplan des Bundes, für das Freiwillige Soziale Jahr Kultur, den Bundes- und den internationalen Freiwilligendienst „Kulturweit“ wollen wir verstärken.” (Zeile 7936)

Wohnen:

“Der soziale Wohnungsbau muss mindestens auf heutigem Niveau und langfristig verstetigt werden. Dafür ist es erforderlich, dass der Bund auch in Zukunft gemeinsam mit den Ländern Verantwortung für die soziale Wohnraumförderung übernehmen kann. Falls erforderlich wird dazu eine Grundgesetzänderung vorgenommen. Ungeachtet dessen werden wir in den Jahren 2020/2021 mindestens zwei Milliarden Euro für den sozialen Wohnungsbau zweckgebunden bereitstellen.” (Zeile 5140)
“Ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen benötigen barrierefreie und barrierearme Wohnungen und ein Wohnumfeld, in dem sie möglichst lange selbstbestimmt leben können. Deshalb wollen wir das KfW-Programm „Altersgerecht Umbauen“ verstetigen. Zugleich wollen wir die Wiedereinführung der Kreditvariante des KfW-Programms „Altersgerecht Umbauen“ mit Bundesmitteln ebenso prüfen wie eine finanzielle Unterstützung des KfW-Programms „Barrierearme Stadt“.” (Zeile 5181)


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Published on February 07, 2018 08:51

January 30, 2018

Eine gute Investition für alle: Bildung für Kinder mit und ohne Behinderungen

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Unterricht in der von einem CBM-Partner errichteten behindertengerechten Schule in Sreepur Union, die auch als Fluchtraum für Flutkatastrophen dient. CBM-Botschafter Raul Krauthausen besucht die Schüler. (CBM/argum/Einberger)


Bundesregierung sollte bei internationaler Finanzierungskonferenz Fokus auf besonders Benachteiligte lenken.

Inklusive Bildung ebnet den Weg für echte Teilhabe und Chancengleichheit. Sie ist der Grundstein für wirksame Armutsbekämpfung. Obwohl eigentlich ein Menschenrecht, bleibt Bildung noch immer viel zu vielen verwehrt. Derzeit können unfassbare 264 Millionen Kinder und Jugendliche weltweit keine Schule besuchen. So prangert es der Weltbildungsbericht 2017 an. Besonders benachteiligt sind dabei Kinder mit Behinderungen.


Als ich selbst in den 90er Jahren in Berlin eine Regelschule besuchte, haben dort Kinder mit und ohne Behinderungen gemeinsam gelernt. Das ist bis heute leider auch hierzulande noch keine Selbstverständlichkeit. Unsere Klasse war damals wirklich bunt, das Miteinander oft auch anstrengend – so wie Schule halt ist. Denn Inklusion heißt die Annahme und die Bewältigung von menschlicher Vielfalt.


Entscheidend ist, dass niemand von vorneherein außen vor oder zurückgelassen wird. Doch in wirtschaftlich ärmeren Weltregionen können laut Schätzungen der UNESCO bis zu neun von zehn Kindern mit Behinderungen keine Schule besuchen. Auch die Weltbank hat kürzlich ermittelt, dass in Entwicklungsländern von rund 65 Millionen Kindern mit Behinderungen weniger als die Hälfte die Grundschule beenden. Die meisten von ihnen lernen weder lesen noch schreiben. Wie kann das sein?


Zu oft werden die Barrieren für die am stärksten Benachteiligten nicht gesehen und folglich auch nicht beseitigt. Dabei ist letztlich sogar egal, ob übersehen oder aktiv weggesehen wird. Denn so oder so verursacht Diskriminierung gewaltige Folgeschäden und Kosten, für Betroffene wie auch für die gesamte Gesellschaft, obwohl sie eigentlich vermeidbar wären. Andersherum profitieren von Inklusion letztlich alle. Sie muss gewollt, gedacht und geplant werden.


Ich habe das beispielhaft in Bangladesch erlebt, wo ich als Botschafter der Christoffel-Blindenmission (CBM) unterwegs war. Gemeinsam mit lokalen Partnern hat die CBM dort in einer Region, in der es oft verheerende Überschwemmungen gibt, eine neue Schule errichtet. Das Gebäude wurde barrierefrei und zudem erhöht gebaut. Wirklich alle Kinder können dort nun lernen und zugleich ist die Schule Zufluchtsort für das gesamte Dorf bei Überschwemmungen. Das ist Inklusion, von der alle profitieren.


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Unterricht in der von einem CBM-Partner errichteten, behindertengerechten Schule in Sreepur Union, die auch als Fluchtraum für Flutkatastrophen dient. CBM-Botschafter Raul Krauthausen besucht die Schüler.(CBM/argum/Einberger)


Anfang Februar richten Senegal und Frankreich gemeinsam eine Finanzierungskonferenz für die so genannte Globale Bildungspartnerschaft (Global Partnership for Education – GPE) aus. Die GPE unterstützt ärmere Länder dabei, mehr Geld in Bildung zu investieren, unter anderem in barrierearme Schulgebäude, barrierefreie Lernmaterialien und die Ausbildung qualifizierter Lehrkräfte sowie bessere Teilhabe für Kinder mit Behinderungen. Gute Fortschritte konnten so in den vergangenen Jahren etwa in Nepal, im Niger, in Kambodscha und auf Sansibar (Tansania) erreicht werden.


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Sofia (rechts) ist blind und geht dank des CBM-Partnerprojekts ARARIWA auf eine Regelschule. Kinder mit Behinderungen haben dort einen persönlichen Lehrer, der als Assistent für den eigentlichen Lehrer fungiert. (CBM/Telemans)


Bei der anstehenden Finanzierungskonferenz sollte diskutiert werden, wie diese Fortschritte ausgeweitet werden können. Braucht es zusätzliche Mechanismen, um die Förderung inklusiver Bildung durch die GPE zu stärken und verbindlicher zu machen? So wie alle Länder, die von der GPE-Förderung profitieren wollen, verpflichtend einen Eigenanteil aus dem jeweiligen nationalen Haushalt erbringen müssen, könnte man auch bindende Kriterien zur Förderung inklusiver Bildung vereinbaren.


Die Christoffel-Blindenmission fordert in einem Kampagnenbündnis mit anderen Hilfsorganisationen und Bildungsgewerkschaften, Deutschland solle 100 Millionen Euro jährlich zur GPE beitragen. Die Bildungskampagne hat diese Forderung angesichts des globalen Bedarfs sowie der Wirtschaftskraft der Bundesrepublik errechnet. Doch bislang belaufen sich die sehr überschaubaren deutschen Beiträge auf weniger als ein Zehntel davon. Die Bundesregierung sollte da dringend nachlegen.


Die Bundesregierung könnte höhere Beitragszahlungen damit verknüpfen, bei der Finanzierungskonferenz den Fokus auf besonders Benachteiligte zu lenken. Denn Kinder mit und ohne Behinderungen sehnen sich danach, gleiche Bildungszugänge zu haben, gleiche Chancen und gleiche Teilhabe.


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Published on January 30, 2018 12:22

December 29, 2017

Jahresendgedanken

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Die Kombination aller Minderheiten ist keine Mehrheit!


sagt ein SPD-Politiker im Deutschlandfunk und ich halte inne.

Üblicherweise geht es um Mehrheiten – Mehrheiten im Bundestag (am liebsten sind da absolute Mehrheiten), die Mehrheitsgesellschaft, die bestimmt, was wichtig und richtig ist.

Minderheiten sind unsexy, man kann mit ihnen nicht wirklich was anfangen. Eine Minderheitsregierung klingt unschön, instabil, riskant. Wieder die SPD warnt fahrlässig, dass eine Minderheitsregierung in Deutschland ganz Europa zum Beben bringen könnte.


Ich gehöre eindeutig zu einer Minderheit – und das wird sich zeitlebens auch nicht mehr ändern. Immer wieder habe ich das Gefühl, dass wir Menschen mit Behinderung auf verlorenem Posten kämpfen: Einen Schritt vor und zwei zurück. Wir wurden zwar endlich mit unseren Forderungen bezüglich des Bundesteilhabegesetzes wahrgenommen – dann mit einer Fassung des Gesetzes abgestraft, die uns im schlimmsten Fall ins Heim zwingen kann, wenn die Heimunterbringung finanziell günstiger ist als das Leben mit Assistenz in den eigenen vier Wänden.

Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit hat uns im Endeffekt keine Verbesserung gebracht.


Das Thema Assistenz wird Menschen mit Behinderung häufig als Privileg ausgelegt – etwas, dass es uns ermöglicht, auf Kosten der Gesellschaft ein bequemes Leben zu führen.

Tatsächlich bewirkt Assistenz lediglich eines: Ein maximal selbstbestimmtes Leben zu leben – relativ nah an den Möglichkeiten nicht behinderter Menschen.

Sobald aber ein Rädchen im System nicht funktioniert, wird es schwierig.

Ich liege momentan im Bett. Mich hat es zum Ende des Jahres erwischt und ein Oberschenkelbruch muss auskuriert werden. Nach dem Unfall, der zum Beinbruch führte, musste ich ins Krankenhaus – und das bedeutete für mich: Kein Recht auf Assistenz.

Sobald ein Mensch mit Behinderung im Krankenhaus ist, wird die Assistenz nicht weiter bezahlt. Man kann sich vielleicht vorstellen, was das bedeutet: Auf Pflegepersonal angewiesen zu sein, das nicht auf die speziellen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung eingestellt ist – in meinem Fall mit einem sehr schmerzhaften und auch potentiell riskanten Bruch. Bei neuen Assistenten kam es bei mir schon manches Mal zum Rippenbruch, weil die Erfahrung im Umgang mit Glasknochen fehlte – wie soll das werden, wenn ich in jeder Schicht von wechselndem Pflegepersonal versorgt werde?

Das Problem endet nicht, als ich aus dem Krankenhaus entlassen werde.

Da ich berufstätig bin, gibt es für mich zum einen Arbeitsassistenz für meine tägliche Zeit im Büro, bei Vorträgen usw. Und so genannte “Hilfe zur Pflege” für alles, bei dem ich Zuhause Hilfe benötige. Die Aufgaben der jeweiligen Assistenten*innen überschneiden sich. So brauche ich Zuhause Hilfe bei der Essenszubereitung – ebenso wie am Arbeitsplatz. Wenn ich nun aber im Bett liegen muss, kann ich nicht ins Büro und eben auch nicht die Arbeitsassistenz wahrnehmen. Die “Hilfe zur Pflege” deckt bei mir aber nur die Vormittags- und Abendstunden ab: Bis 12:00 Uhr mittags und wieder ab 18:00 Uhr. Ihr seht das Problem: In den Stunden, die dazwischen liegen, kann ich nicht essen, nicht auf die Toilette usw.

Wie wenig Assistenz mit Luxus zu tun hat, merkt man besonders, wenn man sie nicht hat. Und wie schnell dann ein relativ selbstbestimmtes Leben zum Erliegen kommen kann, wenn das System nicht funktioniert.

Und das lässt meine Gedanken wieder um einen Punkt kreisen: Dass wir Menschen mit Behinderung oftmals nur als Kostenfaktor gesehen werden.

Dass ich hier tagsüber rumliege ohne Assistenz, mit Wasserflasche (aber bloß nicht zuviel trinken, denn auf die Toilette komme ich mit gebrochenem Bein und ohne Assistenz ja nicht alleine) und Pausenbrot im Bett – ist eine Kostenfrage. So belastend die Situation gerade ist: Sie ist temporär.

Anders als bei Menschen mit Behinderung, die aus Kostengründen ins Heim gezwungen werden sollen. Die noch geschäftsführende Regierung feierte das Bundesteilhabegesetz als großen Erfolg für behinderte Menschen – wir Betroffenen sehen und erleben das vollkommen anders in unserer täglichen Lebensrealität.

Und hier wird und muss unsere Aktivität mit einer neuen Regierung auch weitergehen: Damit es ein Ende hat, Menschen mit Behinderung nur als Kostenfaktor zu sehen, der möglichst gering gehalten werden muss, an dem man schnell nochmal effektiv einsparen kann. Und das vorallem, weil Menschen mit Behinderung nach wie vor systematisch ausgesondert werden und keine Lobby haben. Das wird wieder Mal besonders deutlich, wenn Landesregierungen laut und ohne Scham sagen dürfen: Wir stoppen die (Schul-)Inklusion jetzt.

Und die noch geschäftsführende Bundeskanzlerin diese Schritte rücksichtslos unterstützt.


Im letzten Jahrhundert hat sich in Sachen Behindertenrechte einiges getan, das Bild vom typischen behinderten Menschen in der Öffentlichkeit hat sich stark gewandelt: Vom *Kriegsversehrten”, zum “Sorgenkind” hin zum Menschen, der in der Mitte der Gesellschaft ankommen soll. Das Wort Inklusion wurde gerade im letzten Jahr so oft für alles Mögliche verwendet, dass es seinen Sinn manches Mal schon verloren hat.

Und immer noch glauben viele – auch Politiker*innen -, dass Inklusion irgendwie “nice to have” und “kann man machen, wenn man genügend Geld übrig hat” beinhaltet.

Ignoriert wird dabei, dass Inklusion gleichermaßen Pflicht wie Recht ist.

Die UN-Behindertenrechtskonvention hat klare Anweisungen zum Beispiel zum Thema inklusive Bildung: Im Artikel 24 “garantieren die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen. Der Normalfall soll danach sein, dass Kinder nicht aufgrund von Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen werden” (Artikel 24 Abs.2 a). Das allgemeine Bildungssystem soll jedem zugänglich sein. Ziel ist also der gemeinsame Schulbesuch von behinderten und nicht behinderten Kindern in einer Regelschule als “Normalfall” — es soll keine Ausnahme sein.”

Ein inklusives Schulsystem kommt allerdings nicht nur behinderten Schülern*innen zugute – sondern allen. Und je mehr ich auf die sozialen Probleme unseres reichen Landes schaue, desto mehr denke ich, dass viele gute und kompetente Menschen an Einzelfronten kämpfen: Menschen mit Behinderung, Menschen, die um eine gute Bildung für alle Kinder eintreten, die gegen Kinderarmut aktiv sind, Menschen, die sich gegen Rassismus und gegen Diskriminierung aufgrund religiöser Hintergründe auflehnen. Und immernoch und nach wie vor Menschen, die sich gegen Sexismus stark machen. Es ist an der Zeit, uns alle stärker als Alliierte wahrzunehmen und zu sehen, wo sich unsere Ziele überschneiden und wir zusammenarbeiten können.

Wir müssen von der Frauenbewegung lernen: Nie aufzugeben, einen langen Atem zu behalten, immer wieder in die schwelenden Wunden zu stechen, auch wenn man dafür verhöhnt und niedergemacht wird. Die #MeToo-Debatte und ähnliche Diskussionen zum Thema Sexismus des fast vergangenen Jahres zeigen, wie weit der Weg für Frauen noch ist, wie viel noch erkämpft werden muss und wie weit wir noch von echter Gleichberechtigung entfernt sind.

Und so wie Feminismus allen – auch uns Männern – hilft, bringt Inklusion allen Menschen – ob behindert oder nicht – eine vielfältige und die Eigenheiten jedes Einzelnen wertschätzende Gesellschaft.


Ich denke noch einmal an den Politiker aus dem Deutschlandfunk-Interview und widerspreche: Doch! Minderheiten können zur Mehrheit werden – in einer bunten Gesellschaft.


Lasst uns 2018 zum Jahr der Alliierten machen!


(sb)



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(Foto: Jörg Farys, Gesellschaftsbilder.de)


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Published on December 29, 2017 09:27

December 23, 2017

KRAUTHAUSEN – face to face: Sebastian Urbanski, Schauspieler

In der Sendung “KRAUTHAUSEN – face to face” lade ich als Moderator Künstlerinnen und Künstler, Kulturschaffende und Medienleute mit und ohne Behinderung zum Talk ein. In “face to face”-Gesprächen tausche ich mich mit einem jeweiligen Gast über künstlerisches Schaffen, persönliche Interessen und Lebenseinstellungen aus. Und natürlich geht es auch ab und zu um das Thema Inklusion.


Als zwölften Gast hatte ich den Schauspieler Sebastian Urbanski zu besuch



Zum Video mit Gebärdensprache hier entlang auch Verfügbar mit Audiodeskription (AD).


In dieser Ausgabe: Sebastian Urbanski.

Der erfolgreiche Theaterschauspieler wurde durch seine Arbeit am RambaZamba Theater bekannt. Darüber hinaus verlieh er dem Film Me too – Wer will schon normal sein? die deutsche Synchronstimme von pablo pineda. Im Film “So wie du bist” von Wolfgang Murnberger spielt er mit Juliana Götze. 2015 erschien seine Autobiographie Am liebsten bin ich Hamlet.

Am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus 2017 las Sebastian Urbanski vor dem Deutschen Bundestag den „Opferbrief“ von Ernst Putzki vor, geschrieben im September 1943 aus der hessischen Sterbeanstalt Weilmünster an seine Mutter.

Bei KRAUTHAUSEN – face to face unterhält er sich mit Raul Krauthausen über seine größten Leidenschaften und seinen Weg zur Schauspielkarriere.


Mehr Infos:

Wikipedia


Erstausstrahlung: 16.12.2017, 9.30 Uhr, Sport 1


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Published on December 23, 2017 02:43

Spätabtreibung: Sollten werdende Eltern von behinderten Kindern auch spät noch abtreiben dürfen?

In der Videoreihe Hirnwäsche von funk habe ich mich einem schwierigen Thema gewidmet: Spätabtreibung.

Ich begebe mich auf die Suche nach einer Antwort auf die Frage, wann Leben lebenswert ist:



 

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Published on December 23, 2017 02:35

November 18, 2017

Altersarmut betrifft nur die anderen – oder? #liebernichtarmdran


Für den SoVD – Sozialverband Deutschland e.V. teste ich die individuelle Altersarmutsgefahr möglicher Betroffener und unterhalte mich mit dem Armutsexperten Dr. Johannes Geyer vom Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung e.V. (DIW Berlin).


Arm im Alter? Mach auch Du den Test!

Der Selbsttest vom SoVD stellt die entscheidenden Fragen und nennt zur Orientierung eine Einschätzung und wie man im Fall einer Gefährdung aktiv werden kann.


Zum Online-Check!


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Published on November 18, 2017 09:43

November 13, 2017

Ich möchte nicht geheilt werden!

Warum ich ein Problem mit dem Begriff „Heilerziehungspflege“ habe – und mit den Folgen, die sich aus der Bezeichnung oftmals ergeben.

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Worte bewegen unsere Welt. Worte geben Sinn, bewerten, entwerten, gestalten, können Neues erschaffen und zerstören. Worte sind mächtig.

Und deshalb können Bezeichnungen einen großen Unterschied machen.

In diesem Zusammenhang finde ich den Begriff „Heilerziehungspflege“ äußerst problematisch. Warum das so ist, möchte ich im Folgenden erklären – und zur Diskussion anregen, wie wir gemeinsam vorurteilsfreie Sprache, Begriffe und damit auch wertschätzendes Verhalten entwickeln können.


Was genau ist Heilerziehungspflege (HEP)?

In den Beschreibungen zum Berufsbild der Heilerziehungspflegenden liest man deren Aufgaben: Menschen mit geistiger, körperlicher, seelischer oder mehrfacher Behinderung aller Altersgruppen sollen sozialpädagogisch und pflegerisch in ihrem Leben begleitet, versorgt und erzogen werden.

Außerdem umfasst der Tätigkeitsbereich Beratung in allen lebenspraktischen Fragen, in Rechtsfragen und auch bei sensiblen zwischenmenschlichen Beziehungen. Wenn nötig sollen durch die Heilerziehungspflegenden Planungs-, Unterstützungs- und Assistenzprozesse eingeleitet und voll umfassend begleitet werden – dabei soll dem behinderten Menschen ein möglichst selbstbestimmtes und selbständiges Leben ermöglicht werden.

Nach einer 2-5 jährigen Ausbildung (je nach Bundesland) können Fachkräfte zum Beispiel in Tagesstätten, Wohnheimen, Einrichtungen für betreutes Wohnen, in der persönlichen Assistenz, in Einrichtungen der Psychiatrie, Berufsbildungsbereichen, Werkstätten, Integrativ- und Sonder-Kindertagesstätten und Rehabilitationseinrichtungen arbeiten.


Definition des Begriffes „Heil-erziehungs-pflege“:

„Heil-…“ : Das Wort „Heil“ meint im Zusammenhang mit der Heilerziehungspflege grundsätzlich „Ganzheitlichkeit“.

Kritik: Gleichzeitig findet sich der Begriff „Heilen“ meistens im medizinischen Kontext und bedeutet hier dann: „eine Krankheit beseitigen“. Die Idee einer „Heilung“ im Zusammenhang mit dem Thema Behinderung ist fatal – denn sie suggeriert, dass Behinderung etwas Defizitäres ist, das idealerweise beseitigt werden sollte.
 

„…-Erziehungs-…“ : Das Lexikon Brockhaus definiert Erziehung so:

Unter Erziehung versteht man die pädagogische Einflußnahme auf die Entwicklung und das Verhalten Heranwachsender. Dabei beinhaltet der Begriff sowohl den Prozeß als auch das Resultat dieser Einflußnahme. (Brockhaus Enzyklopädie, Stichwort Erziehung).


Kritik: Dies auf erwachsene Menschen – egal ob mit oder ohne Behinderung – anwenden zu wollen, ist unpassend und paternalistisch.

In Deutschland finden erzieherische Maßnahmen bei Erwachsenen gesellschaftlich akzeptiert lediglich bei der Resozialisierung im Strafvollzug statt – in der Bemühung, dass Straftäter*innen ihr Verhalten ändern und sich den moralischen Vorstellungen der Mehrheitsgesellschaft anpassen.

„…-Pflege“: Bei dem Begriff „Pflege“ geht es um Versorgung und Betreuung von kranken, behinderten oder sterbenden Menschen, die üblicherweise von Pflegefachkräften oder Angehörigen übernommen und so effektiv wie möglich durchgeführt wird.

Kritik: Betroffene nennen es oftmals: „Hauptsache satt, sauber, trocken“. Der behinderte Mensch erscheint hierbei passiv. Allerdings ist die Grundidee vom Umgang mit behinderten Menschen, die Hilfe bei alltäglichen Tätigkeiten benötigen, so viel Selbständigkeit auch im hygienischen Bereich zu erhalten oder zu entwickeln.

Der Balance-Akt:

Der Aufgabenbereich von Heilerziehungspflegenden reicht oft stark in die Privatsphäre der behinderten Menschen hinein. Es wird schnell klar, dass hier besonders viel Empathie gefragt ist. Gerade auch bei Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen muss immer im Vordergrund stehen, den Willen und die Wünsche des*r Einzelnen als Priorität zu sehen. Nicht die Vorstellung des*der Heilerziehungspflegers*in, was seiner*ihrer Meinung nach für den behinderten Menschen das Beste wäre, ist entscheidend – sondern die Wünsche des*der Betroffenen. Auch wenn es Zeit und Geduld kosten mag, diese herauszufinden und zu verstehen, sollte dieser Aspekt immer maßgebend für Heilerziehende sein.

Eines ist klar: Lebensbegleitung heißt nicht Bevormundung, sondern Unterstützung, wo es notwendig wird, Förderung, wo es möglich ist und aktives Eintreten gegen Benachteiligungen durch mangelnde Teilhabe. Das kann nur gelingen, wenn Heilerziehungspfleger*innen gelernt haben, Beeinträchtigungen, Ursachen und Auswirkungen richtig einschätzen zu können, Fähigkeiten und Ressourcen zu erkennen und zu aktivieren. Oft sind es Strukturen und Barrieren der Umwelt, die behinderten Menschen eine volle Teilhabe verwehren, wie zum Beispiel fehlende Rampen oder Aufzüge, nicht vorhandene Blindenleitsysteme oder nicht stattfindende Gebärdensprachdolmetschung und keine Texte in leichter Sprache.

Anstatt behinderte Menschen therapieren, normalisieren oder in Sondereinrichtungen stecken zu wollen, sollte immer zuerst der inklusive Weg gesucht werden.

Heilerziehungspflegende sollten hier kooperativ und interdisziplinär denken und handeln – und mit anderen Berufsgruppen, Fachdiensten und Regelschulen Lösungen entwickeln. Gemeinsam mit den Betroffenen sollte über Ziele, Inhalte und Formen jeder Aktivität diskutiert und gemeinsam die bestmögliche Lösung gefunden werden. Das Ziel muss immer sein: Jeder Mensch sollte ein für sich sinnvolles und erfülltes Leben führen und als Teil der Gesellschaft aktiv sein können.


Das Problem:

In Gesprächen oder bei Online-Diskussionen mit Heilerziehungspflegenden habe ich immer wieder den Eindruck, dass ein großer Teil ihrer beruflichen Motivation ist, „gute Taten“ für hilfsbedürftige Menschen zu vollbringen. Und das „gute Gefühl“, sich um scheinbar hilflose Individuen kümmern zu können, über allem steht. Viele „lieben“ ihren Beruf und finden, dass es „nichts Schöneres gibt als behinderten Leuten zu helfen“. Ihre „Patienten sind immer so fröhlich und dankbar“.

Wenn ich Vorträge vor Heilerziehungspflegern*innen halte und mit Vertretern*innen dieser Berufsgruppe diskutiere, wird mir immer wieder erzählt, wie befriedigend dieser Beruf ist, wie gut es sich anfühlt, gebraucht zu werden und helfen zu können – und wie sehr die Dankbarkeit der behinderten Menschen die Anstrengungen im Job vergessen lassen.

Mir wird bei derartigen Beschreibungen nicht selten mulmig: Viel zu oft geht es um die guten Gefühle, die Heilerziehungspflegende empfinden. Und zu selten liegt der Fokus bei den Menschen mit Behinderung. So schön es ist, wenn man durch den Beruf Befriedigung empfindet – sollte diese nicht durch die Hilfsbedürftigkeit und Dankbarkeit der zu versorgenden Menschen entstehen.

Jede*r Heilerziehungspfleger*in sollte regelmäßig seine*ihre Motivation für die Berufswahl hinterfragen.

Generell finde ich die wiederkehrende Beschreibung „sie sind so dankbar“ höchst bedenklich. Die Heilerziehungspflegenden sind für die behinderten Menschen mit Assistenzbedarf da, hierfür werden sie ausgebildet und bezahlt. Wenn hier Dankbarkeit seitens der Betroffenen ins Spiel kommt – läuft etwas schief, stimmt die Balance nicht, findet die Zusammenarbeit nicht auf Augenhöhe statt.

Statt behinderte Menschen zu fördern oder zu empowern, werden sie nicht selten separiert und abhängig gehalten, um sich – im schlimmsten Falle angetrieben von einem Helfersyndrom – das befriedigende Gefühl gebraucht zu werden, aufrecht erhalten zu können.

Leider unterstützt so manche Beschreibung des Heilerziehungspflegeberufes diese Vorstellungen. Man liest zum Beispiel:


Du wirst sehr viel Verantwortung für deine Schützlinge auf dich nehmen müssen, denn diese sind immer auf dich angewiesen und vertrauen auf deine Unterstützung. Möchtest du einen Beruf ausüben, in dem du sehr viel mit hilfsbedürftigen Menschen zu tun hast, echte Herausforderungen zu bewältigen hast und wo du wirklich gebraucht wirst, dann ist eine Ausbildung zum Heilerziehungspfleger bestimmt das Richtige für dich!.

(Quelle: ausbildung.de)


Oder:


Du arbeitest mit Menschen und kannst die positiven Auswirkungen auf die von dir betreuten Menschen direkt erleben. (…) Ich finde es gut, enge Beziehungen und Freundschaften zu den betreuten Menschen aufzubauen.

(Quelle: Zukunftsberuf Pfleger)


Es wird von „Berufung“ (Quelle: Campus Berlin), „fürsorglichem“ Charakter (Quelle: azubiyo) und der hohen Anerkennung des Berufes durch die Gesellschaft (Quelle: Gesellschaft für Pflege- und Sozialberufe gGmbH) geschrieben.

Behinderte Menschen werden auffällig häufig auf verschiedenen Ausbildungs-Portalen als „Schützlinge“ bezeichnet – eine Zusammenarbeit mit den Betroffenen auf Augenhöhe ist in diesen Konzepten offensichtlich nicht angedacht. Paternalismus pur.

Wenn ich bisher das Thema Heilerziehungspflege kritisch aufgriff, gab es u.a. online heftige, zuweilen gekränkte oder auch einfach uneinsichtige Reaktionen von Heilerziehungspflegenden.

Einige Beispiele:


Du willst nicht geheilt oder gepflegt werden, interessant…… also manche Denkensweisen von Menschen mit Behinderung muss ich echt nicht verstehen. Jeder will so leben, wie er es möchte, aber diese Selbstbestimmungnummer, die kann man auch echt übertreiben.

(Quelle: Facebook-Kommentar)


Ich lasse mir wegen einer Berufsbezeichnung nicht madig machen, dass ich bestimmte Werte vertrete. Und ja – auch muss in meinem Alltag erziehen und pflegen. Das stellt nun mal einen Teil meines Berufes dar und das ist nicht zu verleugnen

(Quelle: Facebook-Kommentar)


Würde viele meiner Bewohner auch lieber im ambulant betreuten Wohnen sehen. Aber dieses ist nunmal bei vielen Behinderungsbildern nicht möglich.

(Quelle: Facebook-Kommentar)


Es ist nunmal Fakt, dass es bei schweren geistigen Behinderungen eine Grenze in den Möglichkeiten der Förderung gibt. Muss man darüber wirklich diskutieren?

(Quelle: Facebook-Kommentar)


Ein Lösungsansatz:

Auch Menschen mit Behinderung, die selbst nicht wissen, welche Assistenz sie genau benötigen, haben einen eigenen Willen, der respektiert werden muss. Mehr noch: Der Wille sollte nicht nur respektiert werden, sondern er ist als Willensbekundung umzusetzender Arbeitsauftrag.

Es steht Heilerziehungspflegenden nicht zu, die eigenen Maßstäbe für das Leben anderer Menschen anzulegen. Stattdessen ist es ihre Pflicht, zu prüfen, wie die Wünsche des*der Betroffenen gewahrt und umgesetzt werden können. Entsprechende Ansätze bietet das Prinzip des Personenzentrierten Denkens und der Persönlichen Zukunftsplanung. Dies ist eine Methode zur Unterstützung von Menschen mit hohem Assistenzbedarf. Die individuelle Planung von Perspektiven im Dialog mit den betroffenen Menschen und ihren Angehörigen orientiert sich an den Wünschen und den Zielen des betroffenen Menschen in allen Lebenssituationen (Schule, Beruf, Freizeit, Hobby). Der Ansatz fragt konkret danach, was der Einzelne braucht und will, um sein Leben mit Zufriedenheit und Wohlbefinden führen zu können. Hier wird mit Selbstbestimmung, Empowerment und Kompetenzen gearbeitet.

Der Empowerment-Ansatz geht davon aus, dass der Mensch mit Behinderung immer auch Experte in eigener Sache und dass der Status des Erwachsenseins anzuerkennen und zu würdigen ist. Selbst dann, wenn diese Lebensweise nicht die wäre, die der*die Heilerziehungspflegende Fachkraft für sich selbst als „richtig“ empfinden würde.

Behinderte Menschen wollen nicht geheilt, erzogen und gepflegt werden – sondern wünschen sich Assistenz und Unterstützung, um so selbständig wie möglich zu sein und nach ihren eigenen Vorstellungen leben zu können. Der Mensch mit Behinderung definiert selbst, was er*sie braucht – ganz egal, welche Behinderung vorliegt. Über die individuellen Bedürfnisse von behinderten Menschen sollte nicht das Personal entscheiden.

Aber nicht nur ein neues Bewusstsein und neue Aufgabenstellungen bezogen auf den Berufsstand der Heilerziehungspflegenden sind nötig – auch eine andere Bezeichnung muss her. Eine treffende, wertschätzende, auf Respekt basierende, die den Assistenz-Charakter der Tätigkeit hervorhebt.


In diesem Sinne schlage ich als neue Berufsbezeichnung für die Heilerziehungspflege Inklusionsassistenz vor; als Anwälte*innen/Alliierte*innen der Betroffenen unterstützend aktiv zu werden – und nicht als Vormund.


Fragen, die ich zum Thema Heilerziehungspflege mit euch diskutieren möchte:

Gibt es Ausbilder*innen mit Behinderung?
Wie inklusiv ist die Ausbildung der Heilerziehungspflege eigentlich?
Gibt es behinderte Menschen, die diesen Beruf ausüben? Und wenn nein, warum nicht?
Wird das medizinische oder das soziale Modell von Behinderung gelehrt?
Wie kann verhindert werden, dass die Paternalismus-Falle zuschlägt?
Welche Ideen, Anregungen und Vorschläge habt ihr zu dem Thema?

(sb)


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(Foto: JD, Gesellschaftsbilder.de)


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Published on November 13, 2017 01:13

October 27, 2017

Ein Plädoyer für eine vielfältige, inklusive Gesellschaft

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Immer wieder erlebe ich es, dass Menschen in ihrem Alltag – auf der Straße, im Supermarkt, im Café innehalten, weil ihr Blick auf mich fällt. Plötzlich sind sie aus dem Konzept gebracht: Sie schauen neugierig, irritiert oder auch zuweilen offen voyeuristisch.

Ich sehe die Fragezeichen in ihrem Gesicht: “Was hat er?”, “Ob er vielleicht Schmerzen hat?”, “Ist das eine Krankheit?”.


Nicht selten werden diese Gedanken sogar direkt laut ausgesprochen. In Vorträgen erzähle ich immer mal wieder von der mir unbekannten Dame, die mich unvermittelt in der Bahn ansprach:


Bei wem sind Sie in Behandlung?


Eindeutiger kann man einen Menschen wohl kaum auf seine Diagnose, seine scheinbare Krankheit, seine Behinderung reduzieren.

Eine größere Anzahl beliebter TV-Formate basieren auf der Empfindung, die viele Menschen beim Blick auf Behinderung oder scheinbares Leid haben: “Gut, dass ich nicht betroffen bin! Im Gegensatz zu ihm*ihr geht es mir ja noch gut!”

Woher rührt diese defizitäre Sichtweise?


Es gibt zwei populäre Ansätze zum Thema Behinderung: das medizinische und das soziale Modell. Beide unterscheiden sich komplett voneinander.


Das medizinische Modell von Behinderung ist der klassische Ansatz, der seit jeher den Blick auf behinderte Menschen prägte.

Hier wird Behinderung als Problem empfunden, als ein Zustand, der behandelt und im Idealfall beseitigt werden kann. Wenn eine Beseitigung nicht möglich ist, dann wäre wenigstens eine Optimierung des behinderten Menschen wünschenswert, um ihn möglichst schnell wieder zu einem “funktionierenden” Mitglied der Mehrheitsgesellschaft zu machen und wieder in den Arbeitsmarkt einzugliedern.

Der behinderte Mensch wird auf sein “Defizit” reduziert: Der Mensch und seine Behinderung ist das Problem – behindernde Faktoren werden außen vor gelassen.


Besonders bedenklich finde ich an diesem Modell, dass Behinderung problematisiert wird. Die Lösung des Problems wird vom behinderten Menschen und seinem familiären Umfeld erwartet.

Dass durch die nicht-behinderte Mehrheitsgesellschaft behindernde Faktoren geschaffen und beibehalten werden (u.a. mangelnde Barrierefreiheit), die die Behinderung erst zu einem Problem machen – wird dabei nicht mit einbezogen.


Um es klar zu sagen: Nicht Laufen zu können, macht nicht automatisch unglücklich – wohl aber durch nicht vorhandene Barrierefreiheit – Treppen, nicht funktionierende Aufzüge, keine Gebärdensprachdolmetuschg, fehlende Leitsysteme für Blinde usw. – vom gesellschaftlichen und beruflichen Leben ausgeschlossen zu werden.

Dies zu verändern liegt weder in den Möglichkeiten, noch in der Verantwortung des einzelnen behinderten Menschen. Sondern ist eine Aufgabe, die gesamtgesellschaftlich angegangen und gelöst werden muss – zum Nutzen aller. Denn zum einen haben auch nicht-behinderte Menschen ein Anrecht darauf, mit behinderten Menschen zusammen zu leben. Und zum anderen stimme ich wenigstens einer Sichtweise des medizinischen Modells zu: Behinderung ist nicht notgedrungen ein statischer Zustand. Aber nicht in Richtung Heilung und Optimierung – stattdessen kann jeder nicht-behinderte Mensch schnell und unerwartet eine Behinderung erwerben. Statistisch gesehen ist das sogar weitaus häufiger der Fall, als dass eine Behinderung geheilt wird.


Das soziale Modell sieht das Problem nicht in der behinderten Person selber, sondern in gesellschaftlichen Bedingungen, die verbessert werden müssen. Ganz simpel zusammengefasst: Während beim medizinischen Modell der Mensch und seine Behinderung das Problem ist, wenn er*sie beispielsweise eine Veranstaltung nicht besuchen kann, weil der Zugang nur über eine Treppe möglich ist – sieht das soziale Modell das Problem hier in der fehlenden Rampe, also der nicht barrierefreien Umgebung und wendet sich der Problemlösung zu.


Das soziale Modell berücksichtigt eine große Anzahl an Aspekten, denn hier wird davon ausgegangen, dass die durch die Umwelt konstruierte Behinderung in allen Lebensbereichen stattfindet.

Durch das im Jahre 2009 in Kraft getretene Übereinkommen der Vereinten Nationen der Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN BRK) sollte die Sicht des sozialen Modells von Behinderung in der Gesellschaft übernommen werden. Acht Jahre später muss man leider sagen, dass nach wie vor die defizitorientierte Sicht auf Menschen mit Behinderung in Gesellschaft, Medizin und Politik dominiert.


Gesellschaftlich ist die Durchsetzung des sozialen Modells besonders aus einem Grund erschwert: Menschen mit und ohne Behinderung haben im Alltag kaum Berührungspunkte. Behinderte Menschen sind auf dem ersten Arbeitsmarkt selten anzutreffen, die Inklusion in der Schule findet viel zu selten statt, so bleiben behinderte Schüler*innen an Förderschulen unter sich, der Wohnungsmarkt ist kaum barrierefrei und Menschen mit Behinderung wohnen oft in Wohngruppen oder Heimen, die ihnen zwar Barrierefreiheit ermöglichen – aber kein Zusammenleben mit nicht-behinderten Menschen. Der Lebensweg vieler Menschen mit Behinderung entwickelt sich häufig von einer Sonderschule hin zur Werkstatt mit angeschlossener Wohngruppe (die oft am Stadtrand liegen und mit öffentlichen Verkehrsmitteln schwer erreicht werden können, nicht selten nicht barrierefrei gestaltet sind) – Überschneidungen mit der nicht-behinderten Mehrheitsgesellschaft gibt es kaum.

So sind nicht-behinderte Menschen oft ahnungslos, Fragen wie “Wie lebt die Person?” oder “Wie gestaltet sie ihr Leben?” können nicht kommuniziert werden, Freundschaften in der Schule und am Arbeitsplatz zwischen behinderten und nicht-behinderten Menschen können erst gar nicht entstehen – durch die behinderte und nicht-behinderte Gesellschaft zieht sich ein Spalt.


Als problematisch betrachte ich, dass Menschen mit und ohne Behinderung von Anfang ihres Lebens an getrennt aufwachsen und größtenteils unterschiedliche Bildungsinstitutionen besuchen. Dabei könnten wir die kindliche Unvoreingenommenheit nutzen, um schon in jungen Jahren in Beziehung zueinander zu treten und uns zu einer Wir-Gesellschaft zu entwickeln – Behinderung lediglich als ein Problem der behindernden Umwelt verstehen lernen, das gemeinsam gelöst werden kann. Kinder mit und ohne Behinderung sollten von Beginn an zusammen leben, lernen, spielen und Spaß haben – sie sollten gemeinsam aufwachsen dürfen.


“Es ist normal, verschieden zu sein”, singt der Rapper Graf Fidi. Auch wenn diese Aussage in den vergangenen Jahren immer populärer geworden ist, spiegelt sie sich immer noch nicht ausreichend in unserem Gesellschaftsleben wider.

Es gibt Menschen mit Behinderung, die viel Energie darauf verwenden, sich den Normen der nicht-behinderten Mehrheitsgesellschaft anzupassen. Eine Normalität, an der sich die Mehrheit der Gesellschaft orientiert, selbst wenn sie für einen behinderten Menschen aufgrund seiner Beeinträchtigung unerreichbar ist.

Ein Beispiel: Wenn ein Mensch ohne Arme auf die Welt kommt, ist die übliche Reaktion, dieses “Defizit” durch Prothesen ausgleichen zu wollen (offensichtlich das medizinische Modell). Aber kann dieser Mensch nicht auch ohne Arme als vollständig empfunden werden? Kann es nicht zu seiner Individualität gehören dürfen, seinen eigenen Weg zu entwickeln und zu finden?

Wenn wenn wir barrierefrei und vielfältig leben und denken würden – gäbe es dann noch eine Verwendung für den Stempel normal und nicht-normal? Ist es nicht endlich an der Zeit, jeden Menschen in seiner Verschiedenheit wahrzunehmen und zu akzeptieren?


Wir sollten aufhören, den Menschen der Gesellschaft und selbst gestalteten Umwelt anzupassen. Stattdessen sollten wir gemeinsam an einer Gesellschaft arbeiten, die Vielfalt und Inklusion ermöglicht, in der jeder Mensch sich in seiner Individualität verstanden und aufgehoben fühlt, in der niemand um soziale Teilhabe kämpfen muss. Und wir sollten unsere Umgebung so gestalten, dass Barrierefreiheit zur Norm wird.


(sb)


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Published on October 27, 2017 07:43

October 21, 2017

KRAUTHAUSEN – face to face: Mischa Gohlke, Musiker

In der Sendung “KRAUTHAUSEN – face to face” lade ich als Moderator Künstlerinnen und Künstler, Kulturschaffende und Medienleute mit und ohne Behinderung zum Talk ein. In “face to face”-Gesprächen tausche ich mich mit einem jeweiligen Gast über künstlerisches Schaffen, persönliche Interessen und Lebenseinstellungen aus. Und natürlich geht es auch ab und zu um das Thema Inklusion.


Als elften Gast hatte ich den Musiker Mischa Gohlke zu besuch



Zum Video mit Gebärdensprache hier entlang auch Verfügbar mit Audiodeskription (AD).


In dieser Ausgabe: Mischa Gohlke.

Musiker. Freigeist. Inklusionsbotschafter. Die Reihe könnte man endlos fortsetzen. Der Hamburger Bluesgitarrist Mischa Gohlke ist facettenreich und ebenso seine erstaunliche Biographie. Mit einer an Taubheit grenzenden Hörschädigung ist er erfolgreich den Weg als Profimusiker gegangen. Bei KRAUTHAUSEN – face to face unterhält er sich mit Raul Krauthausen über Talente, die in jedem von uns schlummern, Aktivismus und natürlich das Musikmachen.


Mehr Infos: http://www.grenzensindrelativ.de/


Erstausstrahlung: 21.10.2017, 9.30 Uhr, Sport 1


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Published on October 21, 2017 01:30