Maximilian Buddenbohm's Blog, page 403
October 26, 2012
Gelesen – Hans-Ulrich Treichel: Der Felsen, an dem ich hänge
Es passiert mir nicht allzu oft, dass ich ein Buch aus Versehen doppelt kaufe, und noch seltener passiert es, dass ich das Buch dann einfach noch einmal lese, obwohl ich doch weiß, dass ich alles schon kenne. Hier war das der Fall. Und ich möchte auch nicht ausschließen, später noch einmal hineinzusehen. Essays und Vorlesungen über das Schreiben, über deutsche Familiengeschichte, über Musik und das ewige Rätsel des Selbst. Feinsinnig, gebildet, elegant, lehrreich. Und amüsant, mehr kann man ja quasi nicht bestellen.
„Und wenn ich mich heute fragen würde, warum ich schreibe, dann würde ich sagen, daß ich auch deshalb schreibe, weil ich es nicht ertrage, noch immer aus dem imaginären Fenster meines Zimmers im ostwestfälischen Elternhaus auf die nur mäßig befahrene Kreuzung, die Apotheke, den Eisenwarenladen und den neben der Bushaltestelle angebrachten CVJM-Mitteilungskasten zu schauen, dabei von der bodenlosen Traurigkeit eines Zwölfjährigen erfüllt zu sein und diese mit niemandem teilen zu können.“
Für Menschen, die in Blog oder Buch über sich selbst schreiben: sehr empfehlenswert. Für alle anderen mit Interesse an Literatur natürlich auch. Und wenn man schon dabei ist – gleich auch seine Romane lesen.
Bei Amazon: Hier.
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Bauarbeiten
Wir werden ab heute Abend und übers Wochenende ein wenig am Blogdesign arbeiten. Da solche Arbeiten mit kleinen Kindern im Hintergrund aber etwas unkalkulierbar sind, kann es hier zwischendurch durchaus etwas seltsam aussehen.
Falls also plötzlich alles hier krumm und schief ist, zwölfspaltig oder über Kopf, von Animationen galoppierender Einhörner mit Glitzer überlagert oder auch nur mit seltsam verzerrten Bildern in jedem Artikel, obskuren Schrifttypen oder abartigen Hintergrundfarben – das findet sich alles wieder.
Glaube ich.
October 25, 2012
Nachlese
Unser großartiger Tonmeister la23ng (vielen, vielen Dank!) hat die Mitschnitte der Texte aus der Lesung gestern bereits wieder in Nachtarbeit online gestellt.
Torsten W. Schneider: “Um fünf schon dunkel”
Torsten W. Schneider: “Frau Grabow und ich”
Maximilian Buddenbohm: “Die Geschichte vom Mantelmännchen gibt es nicht”
(kein Bild – ich muss mit der Herzdame noch einmal ein ernstes Wort zum Thema Fokus wechseln)
Isabel Bogdan: “Rhönrad”
Isabel Bogdan: “Chinesische Massage”
Cenk Bekdemir: “Pfefferkörner”
Cenk Bekdemir: “Zum Ende”
Cenk Bekdemir: “Affe und Esel”
Danke auch an die Moderatorin Friederike Moldenhauer, die zahlreichen Gäste, an Le Kaschemme und an Kid37 für den geschickt eingefädelten und ganz besonderen Sound-Effekt. Was ein schöner Abend!
Und das war übrigens die zehnte Lesung, die Isabel Bogdan und ich (unten Symbolbild) veranstaltet haben. Und wir haben vergessen uns Blumen zu schenken. Holen wir dann bei Nummer zwanzig nach.
Jetzt die Frühlingslesung vorbereiten. Es bleibt sportlich.
Home-Office
Sohn I schwächelt. Bauchweh, Schlafmangel, allgemeines Unwohlsein. Dräuender Wetterumschwung, Unlust, alles finstere Gebrechen, da muss man Verständnis haben, da kann das Kind natürlich nicht in den Kindergarten. Die Herzdame hat einen Kundentermin und kann sich nicht kümmern. aber ich kann Home-Office machen, gar kein Problem. Ich muss nur erst ins Büro und mein Notebook holen, das leider noch dort im Schrank liegt. Sohn I trottet hinter mir her und wundert sich am Bahnhof sehr, wo denn die ganzen Leute hinwollen? Die ist ja irre voll, die Bahn? Die gehen alle zur Arbeit, mein Sohn. Gucken die denn deswegen so schlechtgelaunt? Ja, das kann man wohl annehmen. Aber Du guckst nicht so schlecht gelaunt? Nein, meistens tatsächlich nicht.
Ob das denn alles meine Kollegen sind, will er dann noch wissen. Nein, nicht alle, aber doch ein paar davon, der da ganz hinten zum Beispiel. Sohn I sagt, er will im Büro alle meine Kollegen begrüßen, denn er sei ja jetzt gar nicht mehr schüchtern, so wie damals, als er noch klein war, also ganz, ganz damals, oder wann das war. Beim letzten Besuch Ich stelle mir vor, wie er bei etwa dreihundert Schreibtischen die Parade abnimmt, da würde man dann vermutlich sofort merken, welche Kollegen selbst Kinder haben und welche nicht.
Ich arbeite eine halbe Stunde im Büro, Daten auf das Notebook ziehen, Mails beantworten. Sohn I malt neben mir etwas herum und fragt die Kollegen ringsum sehr freundlich nach Tacker, Locher und Stiften, er ist jetzt tatsächlich nicht mehr schüchtern. Als ich mir einen Kaffee hole kommt er mit und sieht die Snackbox neben der Kaffeemaschine, eine offene Holzkiste voller Schokoriegel und Gummibärchen. Ein phantastischer Anblick, der bei ihm zu einer Spontanheilung führt. Kein Bauchweh mehr, Beschwerden wie weggeblasen, ein Wunder. „Halleluja!“ rufe ich und preise die Wirkung der Wunderkiste.
Mein Chef kommt und begrüßt den Nachwuchs, der versteckt sich bei so direkter Ansprache dann doch lieber unter dem Schreibtisch. Fragt von da aus leise, als die Luft wieder rein ist:
„Papa, warum bist Du nicht Chef?“
„Na, dann hätte ich ja viel weniger Zeit für Dich. Chefs arbeiten immer länger als andere.“
„Ach, die haben keine Zeit? Warum will dann überhaupt jemand Chef werden?“
Notebook einpacken und nach Hause fahren. Sohn I vertieft sich in Legobauten, ich in Telefonkonferenzen. Ab und zu helfe ich ihm ein wenig mit den bunten Steinen, ab und zu sieht er sich meine bunten Exceltabellen auf dem Bildschirm an und nickt kollegial zustimmend.
Ich telefoniere, ich sage einem Kollegen, dass wir das Spiel schon noch gewinnen werden, was man geschäftlich eben so redet. Sohn I hält mir an der Stelle mit fragendem Blick seine Spielzeugpistole hin. Ob ich die vielleicht gebrauchen könne? Auf seine Unterstützung kann ich immer zählen, das ist ein schöner Gedanke. Dann schläft er am Tisch ein und ich höre lieber auf zu telefonieren. Geht auch alles per Mail.
Es wäre doch etwas lästig, jedem Anrufer das laute Schnarchen neben mir zu erklären.
October 24, 2012
Heute!
October 23, 2012
Jetzt ans Schenken denken
Ohne jemanden unnötig erschrecken zu wollen, aber in 62 Tagen ist Weihnachten, das ist quasi schon ein Fall von es könnte wieder knapp werden. Immer gut, wenn man alles frühzeitig erledigt, das schont die Nerven und entspannt die Adventssonntage. Prima Geschenke zum Beispiel muss man gar nicht lange suchen, prima Geschenke bekommt man auch hier, direkt bei mir.
Vier Bücher zur Auswahl, siehe rechte Randspalte. Gute Bücher, beidseitig bedruckt, reell gebunden, tadellose Ware. Angaben zum Inhalt finden Sie bei Amazon und auf ähnlichen Seiten. Bestellt werden können die Bücher gerne auch mit persönlicher Widmung, frommen Wünschen oder „für Onkel Karl“, ich bin da flexibel. Bei der Order „Schreiben Sie einfach was Kreatives rein“ bekomme ich allerdings regelmäßig komatöse Zustände ohne nennenswerte geistige Regungen, aber sonst, wie gesagt, ist alles drin. Bei Bedarf signieren auch die Söhne und die Herzdame, es ist alles machbar – nur eher nicht mehr viertel vor Heiligabend, das wird dann alles zu hektisch.
Aber jetzt oder in den nächsten zwei, drei Wochen mal eben eine Mail an mich – maximilian.buddenbohm at gmx.de – und alles läuft easy und wie nebenbei. Ich signiere, die Herzdame tütet ein, Sohn II biegt die Flachkopfklammer, Sohn I bringt die Ware zum Briefkasten, so läuft das im Familienbetrieb. Bezahlung und Versandmodalität erkläre ich dann gerne per Mail.
Vielen Dank.
October 22, 2012
Woanders – heute über Handys im Kindergarten, Allerheiligen, irische Mütter, das Feuilleton und anderes
Patsy Jones über – ach, auch egal. Einfach lesen.
Kiki schreibt gegen Radikalität an.
Kürzlich las man irgendwo die Forderung nach der Abschaffung des Feuilletons, hier im European nun die Forderung nach der Abschaffung aller anderen Teile der Zeitungen. Richtig so, ich klicke mich morgens auch durch alle wichtigen Feuilletonseiten, nicht aber durch die News-Bereiche. Nicht aus Bildungsdrang, aber im Feuilleton wird einfach mehr und eigenständiger gedacht und das macht einfach mehr Spaß. Die übliche Agenturmeldungsabschreiberei kann man quer lesen, reicht völlig aus, eine Theaterezension ist aber meist noch ein Text, auf dem jemand etwas länger herumüberlegt hat, da lohnt sich der Becher Kaffee dabei wenigstens.
Ein Anwalt schreibt über die rechtlichen Aspekte von Produktzusendungen an Blogger. Könnte der eine oder andere ja mal brauchen.
Giardino über Kinder in Deutschland und eine irische Mutter.
Novemberregen über Handynutzung in Kindergärten unterhalb der Mittelschicht.
Ein Text über Menschen ohne Strom in Athen. Und Schulen ohne Heizung und Licht. In der EU. Quasi ein paar Meter weiter.
Sachdienliche Hinweise zum vollsten Vertrauen.
Judith Holofernes mit drängenden Fragen zum Maki.
Sven erzählt seinem Kind strukturierte Geschichten mit übersichtlicher Handlung. Sehr löblich.
Allerheiligentraditionen sind mir gänzlich fremd. Hier einige spannende Einblicke in die Rituale süddeutscher Brüder und Schwestern.
Leo Gutsch über E-Zigaretten und das Leben ohne Kick.
Mal was anderes
Man fährt natürlich am Wochenende aufs Land, damit dort alles anders ist. Warum auch sonst. Die Luft, die Ruhe, die Landschaft, die Tiere, die Menschen, alles anders. Und das Wetter auch, das ist da ebenfalls ganz anders. Deswegen hat fast ganz Deutschland ein Wochenende im Rekordsonnenwetter verbracht, nur der neunmalkluge Herr Buddenbohm nicht, der sich dachte, ach, so ein Bombenwetter, da fahr ich doch mal eben an die Nordsee, ist ja um die Ecke und was ist schon dabei. Und sich ins Auto setzte, die Familie einpackte, etwas von Strand faselte und losfuhr. Nur um festzustellen, dass es an der Nordsee verdammt kühl war, regnerisch, grau und trübe. Hinter dem Nord-Ostseekanal wurde es plötzlich dunkel, als hätte jemand einen Schalter bedient, willkommen in Nordfriesland, das Licht geht leider nicht. Wir können alles, außer wolkenlos.
Nachmittags auf einer Webcam nachgesehen, wie sich die Menschen in Hamburg vor unserer Haustür an der Alster in der ungewohnten Oktobersonne räkelten, entspannte Gestalten in goldenem Licht, die Bäume in unwirklich schönem Bunt an den Ufern – ich starrte missmutig den Bildschirm meines Notebooks an. Dann sah ich wieder aus dem Fenster des Hauses am Deich: Hochnebel, Niedernebel, Schlamm, Modder und Novemberdunst. Es tropfte schwer vom Reetdach. Voll schön. Die Hausherrin fragte, ob wir auch einen Grog trinken wollten, das sei ja jetzt die Jahreszeit dafür.
Am Sonntag wieder zurückgefahren, mit jedem Meter Richtung Hamburg wurde es heller und freundlicher. In der kleinen Stadt Tönning plötzlich ein Schild am Straßenrand gesehen und kurzentschlossen abgebogen, so etwas, sagte ich zur Herzdame, habe ich ja seit zehn Jahren nicht mehr von innen gesehen, vielleicht auch noch länger. Ja, sagte die Herzdame, ich auch nicht, das sehen wir uns jetzt mal an, fein. Wir leben in Hamburg Mitte, wir haben fast alles, aber solche Läden, die haben wir nicht, das kommt hier einfach nicht vor, so etwas kennen wir nur noch gerüchtehalber. Zuletzt habe ich so etwas betreten, als ich noch in erster Ehe auf dem Land wohnte, das war in einem anderen Leben. Und nun lag so ein Laden einfach auf der Strecke, im Gewerbegebiet vor Tönning. Saisonale Öffnungszeiten, also gab es noch Sonntagsöffnung in der Nordseeregion und direkt vor dem Laden gab es sogar freie Parkplätze. Und links neben dem Laden gab es auch welche und rechts daneben und dahinter und auch vor den benachbarten Läden, überall freie Parkplätze. Hunderte freie Parkplätze. Das ist ein Anblick, den man als Hamburger kaum noch verkraften kann, zu viel des Guten macht einen auch irgendwie fertig, das geht einem an die Nerven. Ich parkte schwungvoll direkt vor der Eingangstür ein, setzte dann zurück und parkte zwei Parkplätze weiter noch einmal ein. Einfach weil es ging. Und dann noch einmal und noch einmal, es war ja alles frei, wann kann man schon einmal einfach so einparken? Legal? Das muss man ausnutzen. Den Wendekreis austesten wie beim Autoscooter und überall hinpassen, was für ein Gefühl. Ich hatte plötzlich Lust, so etwas wie „Brummbrumm, parkiparki“ zu sagen, mich überkam eine tiefe, kindliche Freude am Einparken. Einparken ist eigentlich sehr schön, wenn alles frei ist, eine ästhetische Angelegenheit. Ich setzte noch einmal zurück und peilte in einem langen Schwung rückwärts eine andere Parkbucht an, einmal quer über das ganze Gelände. Wun-der-schön.
Bis die Herzdame mich antippte und leise daraufhin wies, dass Sohn II schon grün im Gesicht sei und Sohn I verzweifelt an der Autotür kratze und man allmählich auch einmal aussteigen könne. Sie sprach langsam und dezent, wie man mit Irren eben spricht, sie hat ein wirklich feines Gespür für merkwürdige Zustände bei mir. Ich machte den Motor aus und folgte der Familie in den Laden.
„Wir brauchen nur ein Sixpack Wasser“, sagte die Herzdame als wir durch die Tür gingen und kurz darauf nannte die Kassiererin einen dreistelligen Betrag und ich schob einen sehr vollen Einkaufswagen zum Auto, mit genug Vorräten für den ganzen Winter. Ich weiß nicht genau, wie das passieren konnte, zwischen „Wir brauchen nur einen Sixpack Wasser“ und dem Lächeln der Kassiererin fehlt mir ein Stück Erinnerung an rauschhafte Minuten, aber ich weiß noch, ich hatte sehr viel Spaß beim Einsammeln der Waren. All die Sachen, die es so nirgends sonst gibt, nur hier. Endlich einmal ein ganz anderes Angebot! Und alles so günstig!
Und jetzt habe ich also sehr viele Nudeln. Genug bis etwa März 2013. Und Reis. Und Lebkuchen. Und Erdnüsschen. Und so. Sollten Sie übrigens keinen Spaß haben, wenn Sie zum Aldi gehen: Einfach mal zehn Jahre aussetzen, das hilft ungemein. Nach zehn Jahren Pause macht Aldi wieder richtig Spaß.
Und in Hamburg war dann auch noch eine Stunde Sonne. Eigentlich ein schönes Wochenende, wenn man es recht betrachtet.
October 20, 2012
Astronomie
Sohn I: „Papa, über uns ist doch der Weltall, oder?“
Ich: „Ja, über uns ist das Weltall. Und unter uns. Und überhaupt.“
Sohn I: „Unter uns?!“
Ich: „Ja. Worauf leben wir?“
Sohn I: „Na, auf der Erde.“
Ich: „Und die Erde ist eine…?“
Sohn I: „Eine Kugel, weiß ich doch.“
Ich: „Eine Kugel, genau. Eine Kugel im Weltall. Überall um uns rum Weltall. Um die ganze Kugel rum. Oben und unten.“
Sohn I: „Papa, wenn um die Kugel nix ist, das heißt ja…, das heißt ja, es ist auch NEBEN uns.“
Ich: „Genau. Schlaues Kind, sehr gut verstanden. Toll.“
Sohn I: „Guck mal schnell da, zwischen den Bäumen!“
Ich: „Ja?“
Sohn I: „Da ist es auch!“
Und den Rest des Tages gehen wir einfach ein wenig durch die Gegend und sehen nach, wo es noch überall herumhängt, das Weltall. Es kann sich noch so gut verstecken – Sohn I findet alles.
October 19, 2012
Kindheit in Scherben
Nachdem mein Bruder hier drüben einen Blogeintrag „Die Geschichte hinter den Scherben“ genannt hat, breche ich doch einmal meinen guten Vorsatz, nicht aus meiner früheren Kindheit zu erzählen. Sehr praktisch übrigens, diese bloggenden Familienangehörigen, man kann Geschichten einfach anlegen, quasi Erzähldomino, so kann man die Spielrunden aus der Kindheit auch fortsetzen. Eigentlich wollte ich gar nicht über die ersten 12 Jahre meines Lebens schreibe, weil meine größeren Geschwister das alles viel besser wissen als ich, aber diese Ausnahme muss doch sein. Das ist nämlich eine Geschichte, die ich schon seit Jahren einmal erzählen wollte, ich bin nur immer wieder davon abgekommen, vermutlich sogar schon neun Jahre lang, wenn ich es recht bedenke. Habe sie zwischendurch vergessen, und wenn sie mir wieder einfiel, hielt mich wieder irgendetwas ab, dann war sie wieder weg. Dafür hat sie mittlerweile eine bessere Pointe, als sie noch vor neun Jahren hätte gehabt haben können, diese letzte Nebensatzendung bitte bei Gelegenheit in „Deutsch für Ausländer“ vorlegen, danke.
In der Zeit vor Travemünde, als meine Eltern noch nicht geschieden waren, lebten wir in Lübeck.
Mein Vater war Glaser. Sein Vater war auch Glaser und dessen Vater vermutlich auch und die anderen Vorfahren, auch die meiner Mutter, waren zu einem großen Teil ebenfalls irgendetwas mit Glas. Glasbläser, Glaser, sogar Glashüttenbesitzer, die Branche wurde ganz gut abgedeckt. Obwohl sich der Stammbaum meiner Familie wegen der schlechten Quellenlage nicht recht erschließt und auch nicht allzu weit reicht, ist er gewissermaßen doch eine glasklare Sache.
Wir lebten in einem Wohnhaus, das ringsum von den Werkstätten, Lagerhallen und Garagen des Betriebes umgeben war. Der Hof asphaltiert, am Rand eine wenig Garten, das meiste aber eindeutig Gewerbe. Für ein Kind ein großes Gelände, abwechslungsreich gestaltet. In jeder Garage war etwas anderes, Feuerholzberge oder Werkzeuge bis hin zu Kreissägen, dann wieder großes Baugerät oder einfach Krempel, alte Möbel. Eimerbatterien voller Kitt, da brauchte man dann keine Knete mehr. In den Werkstätten große Maschinen zur Glasbearbeitung, eine Halle nur für die Schleifmaschinen, ohrenbetäubend laut, immer nass und kühl. Hier stand Toni, der polnische Schleifer, mit Lärmschutz auf den Ohren. Mit Toni konnte man nicht recht reden, er verstand einen nicht, wegen des Gehörschutzes, und er sprach nicht gut Deutsch. Dennoch sind ein paar Lebensweisheiten von ihm in meiner Erinnerung geblieben: „Wenn scharf – Du essen Brot, dann scharf weg.“ Das murmeln wahrscheinlich heute noch alle Familienmitglieder vor sich hin, wenn sie auf eine überraschend scharfe Peperoni beißen.
Maschinen um durch Glas zu bohren. Große Schneidetische, Maschinen für irgendetwas anderes, ich weiß es gar nicht genau, ich war zu klein. Das Büro meines Vaters mit dem großen Drehstuhl, das Büro meiner Mutter mit dem kleineren Drehstuhl und ihrer Schreibmaschine, verschiedene Keller. Der Keller für die Angestellten mit dem Kasten Bier auf dem Fußboden. Lück, das Bier aus Lübeck, kennen heute nur noch wenig. Laderampen für LKWs, Gabelstapler, Lieferwagen, riesige Kisten voller Glas. Große Glasscheiben, kleine Glasscheiben, sehr kleine Glasscheiben. Die Glasscheiben, die damals im Supermarkt zwischen Schokoriegeln und Bonbons die Regale trennten, die wurden da verarbeitet, zigtausendfach.
Mein Bruder und ich, wir spielten da auf dem Hof. Damals gab es noch keine Rundumbetreuung und keine Kinderspezialbereiche, damals lief man eben so mit. Die Eltern waren irgendwo in der Nähe, wo genau war unerheblich, es war ja sowieso generell besser, nicht gesehen zu werden, dann konnte man viel spannendere Sachen machen. So lange wir auf dem Hof blieben war alles in Ordnung. Ausflüge waren nur zu einem der Nachbarn gestattet, bei dem wurden Getränke abgefüllt. Brause mit Waldmeistergeschmack oder Himbeer. Ratternde Flaschenbataillone am Fließband, ein süßer Geschmack, an den ich mich heute noch erinnere.
Es gab keinen Bereich auf unserem Hof, in den wir nicht durften, es gab keine besonderen Sicherheitsmaßnahmen. Die Vorstellung, dass man eines Tages Tischecken mit Schaumgummi abpolstern könnte, damit sich Kinder ja nicht nicht mehr stoßen können, die hätte damals unter den Erwachsenen für beträchtliche Heiterkeit gesorgt. Natürlich war alles voller Scherben, wie auch anders. Klare Scherben, matte Scherben, bunte Scherben, Drahtglasscherben mit herausstehendem Metall. Scheiben mit Sprung standen an den Wänden herum, Scheiben in Scherben in den Kisten, auf dem Boden, auf den Werktischen. Abends wurde alles gefegt, das machten oft wir Kinder, Scherben zusammenfegen. Und dann in den Müllcontainer, der schon randvoll mit Scherben war. Der war dann so schwer, den konnte man kaum noch rollen.
Im Garten ein großer Brocken Glas unter einem Busch, ungeformt ausgehärtetes Rohglas, türkis schillernd. Löcher und Scharten darin, Krater und Spalten, darin hausten Ameisen und Käfer. Ein Kristallpalast für Sechsbeiner, da habe ich manches Königreich versinken sehen, heroische Kriege beobachtet und gebannt wahnwitzige Heldentaten einzelner Ameisen verfolgt, die sich an der Nordwand hochkämpften, um oben die Marienkäfer-Prinzessin zu retten, die ein Problem hatte, weil ich in meiner Eigenschaft als finsterer Drache den Finger auf das Loch hielt, in das sie aus Neugier gekrabbelt war. Wenn ich den Palast ein wenig anhob, was ich natürlich konnte, weil ich ein sehr starker Drache war, dann brachen darunter finstere Asseltruppen in Panik hervor, die der Geschichte eine ganz neue Wendung gaben. Ich holte mir einen Strohhalm und gab einzelnen von ihnen wild pustend eine Paraderolle im Actionkracher „Kriegselefanten im Sturm“.
Das war in Wahrheit nur ein kleiner Klumpen Glas, dieser Kristallpalast im Mittelpunkt all der Heldensagen, ich habe ihn dann als Erwachsener einmal wiedergesehen, wirklich verblüffend klein, das Ding. Man hätte es mit einem Fuß wegkicken können, das ganze Imperium.
Das Glas wurde uns in Kisten geliefert, die aus rohem Holz gezimmert waren. Aus den Kisten konnte man Häuser bauen, Burgen, Schlösser, Abenteuerspielplätze. Wenn man sich dem Holz auch nur auf einen Meter näherte, hatte man schon Splitter in den Fingern, sie flogen einem förmlich entgegen, da mussten wir durch. Die Splitter wurden dann abends von der Mutter mit einer über einer Kerzenflamme sterilisierten Stecknadel wieder aus der Haut operiert, das war der verdammt hohe Preis für den Spielspaß mit dem Holz. Zwischen den Glasscheiben in den Kisten Holzwolle, Unmengen von Holzwolle, die ist als Polsterung zwischenzeitlich vermutlich ausgestorben. Damals konnten wir damit noch Verstecke auskleiden..
Die Flachglaslieferungen kamen einmal sogar aus Russland, als Handelsbeziehungen dahin noch vollkommen exotisch waren. Ein gigantischer Lastwagen, der in Lübeck um keine Kurve kam, und der wollte tatsächlich zu uns. Russische Fahrer, die kein Wort Deutsch konnten, deutsche Geschäftspartner, die kein Wort Russisch konnten. Nach ein paar Stunden mit den Fahrern konnte ich „Guten Morgen“ und „Scheiße“ auf Russisch, sie konnten verblüffend gut „Moin“ sagen, das war meine erste Erfahrung mit der Völkerverständigung, das lief soweit gut.
Ich habe mich nie – wirklich nie – an Glas geschnitten. Ich habe Glastrümmer zusammengefegt, ich habe manchmal, wenn es bei den Aufträgen auf jede Stunde ankam, auch mit meinem Bruder die Maschinen bedient. Glasscheiben sortiert und verpackt. Ich habe jeden Tag zwischen Glasern verbracht, mein ganzer Alltag war umgeben von riesigen, messerscharfen Scherben und kleinen, hundsgemeinen Glassplittern. Ich war immun. Ich lebte da auch tatsächlich in dem festen Glauben, das mir nichts passieren könne, ich war ja aus einer Glaserfamilie. Gelegentlich gab es spektakuläre Unfälle der Angestellten, blutige Szenarien mit unschönen Wunden, aber die kamen ja auch nicht aus unserer Sippe, die Armen, die waren nur angelernt. Immunität kann man nicht lernen. Glas ist ein wirklich gefährlicher Werkstoff, für mich aber war Glas wie unser Schäferhund – eine Gefahr nur für andere. Ich durfte zu dem Hund in die Hütte, ich durfte auch mit Glasscherben spielen.
Auf einem meiner Kindergeburtstage hatte meine Mutter die Idee, die eingeladenen Kinder Bilder aus bunten Glasscherben kleben zu lassen, Mosaikkunst für Kleine. Nach einer Weile gab sie erst ein Pflaster aus, dann noch eines, dann noch eines, und die Mütter der anderen Kinder waren später etwas verstört wegen der zerschnittenen Finger ihrer Kinder. Ich bekam danach nicht mehr sehr viel Besuch. Die Glasbilder waren dennoch erstaunlich schön, wenn auch etwas blutig.
Als meine Mutter und ich da dann auszogen, habe ich mich auch danach nie an etwas geschnitten. Ich habe nie Glas zerworfen, Scheiben kaputtgemacht oder Trinkgläser fallenlassen. Das ist sehr vielen Menschen um mich herum dauernd passiert, mir nicht, und das fand ich auch ganz logisch. Immun war immun, warum sollte sich das im Laufe des Lebens ändern.
Als ich schon Mitte dreißig war, zog eine Freundin von mir um, ich half ihr beim Tragen der Möbel. Da gab es einen Schreibtisch mit ziemlich großer Glasplatte, an die sich keiner der Helfer recht herantraute. Ich sagte „Lasst mich, ich komme aus einer Glaserei, da kann nix passieren.“ Ich hob die Platte schwungvoll an und sie zersprang in meinen Händen in tausend Teile. Ich stand irritiert da, tropfte größere Mengen Blut auf den vormals weißen Teppich und staunte über die plötzlich veränderte Lage.
Am nächsten Tag ging ich in meine damalige Stammkneipe. Auf dem Weg zu meinem Stammplatz wischte ich mit dem Mantelsaum gleich drei gläserne Kerzenhalter auf einmal von den Tischen, die klirrend auf dem Boden zersprangen. Ich sagte der Wirtin, dass das eigentlich gar nicht sein könne, nicht bei mir, und dass so etwas wirklich merkwürdig sei. Ich bat um ein Bier und ließ es prompt fallen, eine zerschellende Flasche genau zwischen meinen Füßen. Es ging wochenlang so weiter, ich war wandelnder Glasbruch.
Heute habe ich ein ganz normales Verhältnis zu Glas, nur ab und zu geht eben etwas zu Bruch. Nicht seltener und nicht häufiger als bei anderen Menschen, glaube ich. Wahrscheinlich hätte es ich niemals laut sagen dürfen, dass bei mir nichts passieren kann, wahrscheinlich wäre ich dann immun geblieben, bis zum heutigen Tag. Ein dummer Fehler, so etwas lernt man doch schon durch Märchen, dass man so etwas niemals sagen darf, weil der Zauber sonst bricht, das weiß doch eigentlich jeder. Aber vorbei ist vorbei, es gibt kein Zurück. Mein Bruder hat als ältester Sohn die Glaserei übernommen, ich arbeite nur mit Zahlen und Buchstaben, das ist so ganz gut verteilt.
Die Söhne haben sich bisher beide noch nie an Glas geschnitten.
Spannend eigentlich.
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