Maximilian Buddenbohm's Blog, page 401

November 14, 2012

Der Rest von Hamburg (1) Borgfelde

Ein Gastbeitrag von Isabel Bogdan.


“Wo wohnt Ihr?“


„In Borgfelde.“


„Was wollt Ihr denn da?“


So viel zum Image von Borgfelde. Borgfelde ist der kleinste Stadtteil Hamburgs. Er liegt zwischen St. Georg und Hamm und umfasst – im Uhrzeigersinn, angefangen auf elf Uhr – das Gebiet zwischen Bürgerweide, Burgstraße, Grevenweg, Wendenstraße, Normannenweg, Anckelmannsplatz, Bürgerweide. Dieser Bereich wird wiederum in zwei Hälften geteilt: Oben-Borgfelde und Unten-Borgfelde. Praktischerweise ist „oben“ die nördliche Hälfte, also auch auf der Karte oben, und „unten“ ist die südliche Hälfte, also alles, was südlich der Borgfelder Straße liegt.


Unten-Borgfelde ist vor allem Gewerbegebiet. Da ist die Kfz-Zulassungsstelle, ein paar Berufsschulen, eine erstaunliche Menge von Neu- und Gebrauchtwagenhändlern, und unmittelbar hinter der Stadtteilgrenze finden sich Wertstoffhof und Straßenstrich.


Nördlich der Borgfelder Straße liegt Oben-Borgfelde, was auch tatsächlich ein paar Meter höher liegt. Hier ist reines Wohngebiet – vor allem die Klaus-Groth-Straße, die sich einmal quer durch den Stadtteil zieht, vom Berliner Tor bis zur Burgstraße, und ihre Nebenstraßen. Dann ist schon Schluss, so klein ist Oben-Borgfelde. Irgendwo hier wohne ich.


Der größte Teil dieses Viertels wurde im Krieg zerstört. Es gibt Bilder, auf denen quasi ganz Oben-Borgfelde ein einziges Trümmerfeld ist. Ein paar vereinzelte Häuser sind stehengeblieben – unter anderem das alte AOK-Gebäude aus den Zwanzigerjahren, in dem jetzt Wohnungen und eine Kita sind. Der große Rest ist Wohnbebauung aus den Fünfzigerjahren, die Häuser und Straßen verströmen eine beinahe schmerzhafte Normalität und Durchschnittlichkeit. In der Klaus-Groth-Straße gibt es ein paar Ladenlokale aus den Fünfzigern, die haben immerhin einen gewissen Charme, und darin befinden sich: eine türkische Bäckerei mit zugeklebten Scheiben, durch die man nichts sieht, die Büro- und Lagerräume eines Malerbetriebs, ein Nagelstudio und ein Büro, in dem Laufveranstaltungen geplant und beworben werden. Nichts, was den Charme dieser Ladenlokale irgendwie in die Straße bringen würde. Man könnte dort sehr schön ein kleines Café haben, der Bürgersteig ist breit genug, man könnte Tische draußen hinstellen und daneben vielleicht eine Buchhandlung und einen Blumenladen … jaja, schon gut. Das ist kitschig, aber es wäre halt hübsch.


Was tatsächlich hübsch ist, ist weiter vorne das Café Smögen. Daneben ist noch ein Metzger und Hamburgs kleinster Biobäcker, der macht sehr gute Franzbrötchen. Zum Einkaufen gibt es ansonsten einen Penny-Markt, der zwar innen kürzlich neu gestaltet wurde, aber das sieht man nicht wirklich.

Anders gesagt: besonders schön ist er nicht.


Und das war es dann auch schon fast mit Borgfelde. Die beiden einzigen Prominenten, die aus diesem Stadtteil kommen, heißen so, wie es sich für einen solchen Stadtteil gehört, nämlich Schmidt, und tot sind sie auch. Nämlich Loki Schmidt, die die Reformschule an der Burgstraße besuchte – da hieß sie aber noch nicht Schmidt – und Arno Schmidt, der aber gar nicht in Borgfelde wohnte, sondern in Hamm. Nun ja. So hat dieser durch und durch durchschnittliche und farblose Stadtteil nicht mal Promis, die Schmidt heißen. Farbe bringen die buntgekleideten Afrikanerinnen, die am Sonntag den afrikanischen Gottesdienst in der Erlöserkirche besuchen, und das Sprechwerk, ein Off-Theater mit einem ganz interessanten und sehr gemischten Programm von Theater über Musik bis Tanz.


Leben ist hier auch sonst: wahrscheinlich wohnen in Borgfelde ungefähr so viele Kaninchen wie Menschen. Wenn man in der Abenddämmerung beispielsweise

über den Spielplatz zwischen Bethesdastraße und Burgstraße geht, muss man fast lachen, weil es so viele sind. Außerdem haben wir hier reichlich Eichhörnchen, und ein besonderer Spaß sind die Blattläuse auf den Linden in der Bethesdastraße. Auf Linden leben traditionell viele Blattläuse, und das führt dazu, dass die darunterstehenden Autos stets innerhalb kürzester Zeit aussehen wie Sau. Der korrekte Euphemismus für dieses Phänomen lautet „Honigtau“, die Wahrheit ist: Läusepipi. Der zweite Effekt, den diese Läuse haben, sind die Marienkäfer. Den Marienkäfern geht es den ganzen Sommer über prächtig auf den Linden, bei den Läusen. Sie futtern sich rund und verlassen die Bäume nicht; man merkt den ganzen Sommer über nicht mal, dass Marienkäfer dasind. Aber Ende Oktober, wenn die Linden innerhalb weniger Tage alle Blätter auf einmal abwerfen, sind die Marienkäfer plötzlich auf Wohnungssuche und kommen rein. Man kann dann knapp eine Woche lang nicht lüften, weil sonst die ganze Wohnung voll Marienkäfer ist. Sie sind dann für ein paar Tage mal nicht so niedlich, aber sonst gilt natürlich: ganz hoher Niedlichkeitsfaktor in Borgfelde. Kaninchen, Eichhörnchen, Marienkäferchen.


Zum Wohnen ist es hier perfekt, die Wohnungen dürften noch erschwinglich sein, weil das Umfeld eben nicht so richtig sexy ist. Es gibt natürlich Kitas und eine Grundschule, auch alles, was man braucht, Penny, Budni, Apotheke, aber es ist halt nicht wie St. Georg. Man fällt nicht aus der Haustür und hat eine Auswahl von netten Lädchen und Cafés und Restaurants und Flair. Aber man sagt ja, wenn es um die Immobiliensuche geht, gibt es nur drei Gründe, die für oder gegen eine Wohnung sprechen, nämlich die Lage, die Lage und die Lage. Und die Lage ist zwischen St. Georg und Hamm, zwischen U2 Burgstraße, S1 Landwehr und verschiedenen U- und S-Bahnlinien am Berliner Tor wirklich optimal. Man ist in weniger als 10 Minuten mit dem Fahrrad in der langen Reihe, in etwas über 10 Minuten am Hauptbahnhof. Oft genug bin ich die Strecke auch schon zu Fuß gegangen, es liegt also wirklich zentral. Und in der Klaus-Groth-Straße wurden gerade lauter neue Wohnblöcke gebaut (und dafür Gewerbebetriebe abgerissen), vielleicht sorgen die zusätzlichen Leute ja dafür, dass die kleinen Ladenlokale auch wieder als Ladenlokale genutzt werden.


Zieht mal ruhig hierher. Wir sind hier, und die ichichichs sind hier. Wir würden uns das schon schön machen. Wir könnten beispielsweise einen literarischen Salon veranstalten und ihn „Schmidtchen“ nennen.






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(Flattr-Einnahmen für diesen Eintrag werden selbstredend mit Isa gemeinsam in ein Kreativtrinken umgesetzt.)


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Published on November 14, 2012 09:54

November 11, 2012

Hallamati 2012

Die Stammleserschaft wird diesen Eintrag schon erwartet haben, wer hier aber vergleichsweise neu ist und nicht weiß, um wen oder was es sich bei dem Hallamati überhaupt handelt, der kann hier in der historisch korrekten Reihenfolge die Artikel aus den Jahren 2009, 2010 und 2011 nachlesen, das erklärt dann restlos alles. Es handelt sich also gewissermaßen um eine Pflichtübung, die Reihe endet auch mutmaßlich erst, wenn beide Söhne der Kita entwachsen sind, das dauert noch ein paar Jahre.



Das Ritual des Hallamati ist natürlich jedes Jahr mehr oder weniger gleich, die Musik ist gleich, die Laternen sehen ähnlich aus, der Typ auf dem Pferd vorneweg, die Weckmänner, die geteilt werden müssen, die Wurst vom Grill, der Glühwein für die Erwachsenen und so weiter und so weiter. The same procedure, nächste Station Nikolaus. Zur Abwechslung haben wir den Ablauf daher in diesem Jahr mit einem weiteren Highlight versehen, wir waren nämlich, wo wir sonst nie sind, in einem katholischen Gottesdient. Ich bin normalerweise als nichtreligiöser Mensch auch nicht gerade Stammgast in evangelischen Gottesdiensten, da unsere Gemeinde aber sehr viel mit Kindern macht, bin ich da dann doch alle paar Wochen in der Kirche. Im katholischen Dom war ich heute aber tatsächlich zum ersten Mal. Ein Kindergottesdienst zu Ehren von Sankt Martin, mit Kindervorführung, Gesang und womöglich auch Gebet, ich kann das alles nur ahnen, denn verstanden habe ich kein Wort. Ich habe in der Mitte der Kirche gesessen, da kam schon keine Silbe mehr an. Dafür, dass die katholische Kirche seit über 1.000 Jahren von bombastischen Inszenierungen lebt, hat sie von Akustik wirklich bemerkenswert wenig Ahnung. Das war, was die Show angeht, allerhöchstens Kreisliga, ganz erstaunlich.


Sohn II saß unwillig auf meinem Schoß, weil er natürlich auch nichts verstand, außerdem war er beleidigt, weil ich ihm die Heiligendarstellungen ganz vorne nicht recht auf den ersten Blick erklären konnte, er mag das gar nicht, wenn man sich nicht auskennt. Er grummelte vor sich hin, sah nur mäßig interessiert der Vorführung der Mantelteilung des Ritters zu und dachte dabei schlecht gelaunt über die Geschichte nach, die da vorgeführt wurde. Die kam nämlich in seiner Kitagruppe nicht so gut an, weil es in diesem Jahr leider ein kleines Missverständnis gegeben hat. Obwohl die Erzieherinnen sich sicherlich die größte Mühe mit der korrekten Vermittlung gegeben haben, haben die Kinder verstanden, dass der Heilige Martin dem armen frierenden Mann am Straßenrand zwar seinen Mantel vom Pferd aus gegeben hat, bis dahin alles super und kirchenkonform – dann allerdings kam Jesus und hat dem armen Mann den Mantel wieder weggenommen. Nicht nett von ihm. Wie es zu dieser Interpretation kam, das lässt sich so leicht nicht mehr rekonstruieren, aber es ist einigermaßen schwer, Dreijährige wieder auf den rechten Pfad der Abläufe zu führen, wenn sich einmal etwas verhakt hat.


Sohn II jedenfalls hatte in der Kirche, während vorne in äußerst dezenter Lautstärke gesungen wurde, die Erkenntnis, dass Jesus wahrscheinlich für diesen Manteldiebstahl aufgehängt wurde, und er zeigte dabei auf das große Kreuz mit der Figur des Gekreuzigten. Tragisch, aber nicht ohne Logik, das kann man so weit zugestehen. Wir haben ein Jahr Zeit, das wieder zu korrigieren, das kann man also entspannt betrachten. Bei der abendlichen Buchlektüre am Bettrand gab es heute ein Bilderbuch über Dinosaurier, ich fand es zweckmäßig, von den Heiligenlegenden zunächst einmal wieder abzulenken.


Ich: „Und was ist dann mit den Dinosaurien dann passiert? Warum gibt es die nicht mehr? Das weißt Du schon, oder?“

Sohn II: „Die sind ausverstorben. Wie Jesus. Und der Martin.“


Schalten Sie auch nächstes Jahr wieder ein, wenn der Hallamati wieder durch unser kleines Bahnhofsviertel reitet. Durch Frost und Wind, oder wie es heißt.






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Published on November 11, 2012 11:56

November 10, 2012

Szenen aus Sankt Georg (1): Charles Aznavour kauft eine Aubergine

Der Steindamm ist eine der beiden Hauptstraßen von Sankt Georg, die nicht so feine Meile, der man noch auf den ersten Blick ansieht, dass das hier schon seit langer Zeit ein Bahnhofsviertel ist. Sexshops, Spielcasinos, Sportwetten, und in den Nebenstraßen stehen Damen am Straßenrand, die in Blankenese nicht als Damen durchgehen würden. In den Mülleimern wühlen menschliche Wracks mit leerem Blick, die Trinker-Szene vom Bahnhof sucht nach Pfandflaschen und kauft hier Nachschub ein, die öffentliche Methadon-Ausgabe ist auch nicht weit weg. Touristen aus beschaulichen Kleinstädten beschweren sich in den anliegenden Hotels regelmäßig über das Umfeld, das habe man ja vorher nicht gewusst, in was für einer Gegend man da lande, da sei ja, also wirklich.


Was man als Tourist aber natürlich nicht sieht: Auch hier schwindet der schmuddelige Anteil langsam, auch hier steigen die Mieten. Prostitution ist nicht mehr statthaft, das war sie eigentlich noch nie, aber jetzt geht man auch dagegen vor. Wer so unvorsichtig ist, eine der Damen in Sichtweite eines Polizisten anzusprechen, der zahlt. Und die Damen zahlen auch, das ist an sich nicht der Zweck der Übung in ihrem Beruf. Die sozialen Hilfsangebote für die Damen werden gestrichen und geschlossen, sollen sie alleine sehen, wie sie überleben. Man kann bei dem Thema in Hamburg ganz offenherzig unmenschlich sein, das stört hier keinen. Ab und zu gibt der Bezirk stolz bekannt, wie viel Geld er durch die Strafgebühren zusätzlich eingenommen hat. Wo das Gewerbe denn hin soll, das ist egal, hier gilt das Sankt-Florians-Prinzip, Hauptsache nicht hier, Hauptsache weg. Sollen die sehen, wo sie vor die Hunde gehen, die neureichen Nachbarn aus den aufgehübschten Häusern ein paar Straßen weiter möchten dabei lieber nicht zusehen. Da wird auch gerne mit Kindern argumentiert, die Kinder dürfen das alles um Gottes willen nicht sehen. Wenn die Kinder das nicht sehen, dann gibt es das auch nicht.


Die ganze Straße wehrt sich neuerdings gegen neue Casinos und Sexshops, jede Ansiedlung eines normalen Geschäftes wird jetzt gefeiert, es ändert sich etwas. Aber der Wandel geht hier sehr viel langsamer vor sich als hinten an der Alster, diese paar hundert Meter ins Innerstädtische hinein machen tatsächlich etwas aus. Der Steindamm ist immer noch eine Straße, wie man sich so einen Boulevard, denn das ist er eigentlich, mitten in einer Millionenstadt vorstellt, man sieht ihm an, was er einmal war. Obwohl es die zahlreichen Kinos nicht mehr gibt, die hier früher waren, obwohl es nur noch zwei Theater gibt, obwohl die Stundenhotels langsam den immer gleichen Drei-Sterne-Hotels der großen Ketten weichen. Auf dem Steindamm gab es damals die erste Hamburger Leuchtreklame, hier war früher schwer was los, auch nachts, hier ging man aus. Lange her.


Heute gibt es alle paar Meter einen Lebensmittelladen oder ein Imbissrestaurant. Sehr, sehr viele Läden und sehr viele Imbisse. Türkisch, arabisch, persisch, afghanisch, indisch, pakistanisch, vietnamesisch, chinesisch, italienisch, deutsch, ja, ganz vereinzelt auch deutsch. Na, im Grunde ist das nur eine Bäckerei, das zählt gar nicht. Wenn man auf den Steindamm geht, ist man in einem Ausmaß im multikulturellen Bereich, wie es die meisten Menschen in Deutschland bisher gar nicht kennen, hier kann man die halbe Straße entlanggehen und dabei Menschen aus wie vielen? zehn, fünfzehn, zwanzig oder noch mehr Nationen treffen. Hier ist es im wahrsten Sinne des Wortes bunt, man muss nur die Afrikanerinnen ansehen, die hier entlanggehen, in Mustern, die man bei H&M nie gesehen hat, bunter geht es überhaupt nicht. Und das Bunte wogt die Straße hinunter, unter dem gnadenlos grauen Hamburger Himmel und man sieht dem Bunten an, wie anders ein Land sein muss, damit dort so eine Mode getragen wird. Und wie das Wetter da sein muss, das sieht man auch, aber wer kann sich das schon wirklich vorstellen, wenn er aus Norddeutschland kommt. Und die Frauen in den bunten Kleidern lachen laut und sind ungeheuer vergnügt, und dann singen sie ein wenig und machen angedeutete Tanzschritte, vielleicht sprechen sie über irgendeine Inszenierung, und dann bleiben sie wieder stehen und lachen sich lauthals kaputt, da kann der Himmel noch so grau sein.


Sehr bunt und sehr laut ist es hier, auch die arabischen Männer am Straßenrand reden lauter als Deutsche, sie schreien, sie rufen, sie brüllen, sie geraten leicht in Ekstase. Schon wenn sie einen Bekannten treffen, der stets mit theatralischen Umarmungen begrüßt wird, geht es hoch her und wenn eine dieser Gruppen eine andere Gruppe trifft, dann dauert es eine ganze Weile, bis sich alle ausreichend umarmt und geküsst haben. Da eine Gruppe verlaufener Japaner, klischeegerecht alle mit Kamera, da Frauen in Burkas, hier türkische Jugendliche, afghanische Senioren vor einem Café, indische Verkäufer vor einem Laden, russische Jugendliche vor einem Wettbüro. Rumänische Bettler mit Akkordeon, vielleicht auch aus Bulgarien, Mazedonien, Slowenien, weiß der Kuckuck. Die Straße könnte auch durch New York führen, so, genau so stellt man sich das Zentrum von Millionenstädten abseits der reichen Einkaufsmeilen vor. So sieht es aber sonst nirgendwo aus in Hamburg, das ist nur auf genau diesem Stück so, nur ein paar hundert Meter lang. Einmal um die Ecke gebogen und der ganze Zauber ist vorbei, das ist auch wie in New York, wo Gegenden wie Chinatown sich nicht langsam im Stadtbild aufbauen, sondern präzise an einer Ecke beginnen. Nur der Steindamm ist wie der Steindamm, einmal abgebogen und man ist wieder in Deutschland und die beigefarbenen Jacken der Rentnerinnen passen betrüblich schön zum grauen Himmel. Auf dem Steindamm treffen sich sämtliche Minderheiten Hamburgs zum Einkaufen und zum Essen.


Ich gehe zu Sönmez. Zu Sönmez 1 genau genommen, denn auf dem Steindamm hat Sönmez vier Geschäfte, jedes mit einer Nummer draußen dran. Ich gehe zu Sönmez 1, denn nur vor Sönmez 1 ist ein kleiner Platz, und durch diesen Platz ist da etwas mehr Raum als der normale Fußweg bietet, da passt also noch etwas mehr Leben hin und das findet da auch statt.


Auf dem Platz steht Ware herum, Obst und Gemüse. Kistenweise, bergeweise, schalenweise. Ungeheure Kohlköpfe, in Größen, die kein deutscher Haushalt mehr kaufen würde. Zwischen den Kisten, Wagen und Kartons arbeiten etliche Menschen, werfen gammelige Ware weg, reißen Schachteln auf, füllen Kisten nach, räumen hin und her und immer reden sie dabei. Mit ihren Kollegen, mit den Kunden, mit Passanten und weil sie alle reden, reden sie eben laut und weil hier alle denkbaren Sprachen vorkommen und keineswegs alle Türkisch können, hört man Brocken in Englisch, Deutsch, Arabisch, Türkisch, Griechisch, es schwirrt nur so um einen herum. Ein Mann steht vor der Eingangstür des Geschäftes und schreit, wie die Marktschreier auf dem Fischmarkt, das kennt man sonst gar nicht mehr. Er ruft immer wieder das Gleiche, unentwegt, immer wieder: „Kissé Ssa-Wah Jiro!“ und noch einmal und noch einmal und ab und zu hört man ein scharfes „Hissa! Hissa!“. Ich verstehe erst nach einer ganzen Weile, dass der Mann keineswegs arabisch oder türkisch spricht, sondern „Kiste zwei Euro!“ ruft, womit er die Tomatenkisten meint, die neben ihm stehen und die sehr schnell weggehen. Wenn jemand auch nur so aussieht, als würde er eine Kiste haben wollen, dann schnellt die Hand des Verkäufers vor, „Hissa! Hissa!“ und dann versteht man auch endlich , dass es „Hier zahlen“ heißt. Nicht im Laden, sondern gleich hier, ja, natürlich.


An der Fassade des Ladens überall Kisten mit allen nur denkbaren Sorten Obst und Gemüse, man nimmt sich selbst. Die Preise sind moderat, oft sogar billiger als in den deutschen Märkten, viele deutsche Einwohner von Sankt Georg wissen das gar nicht, weil sie hier nicht hingehen. Ein Mann, der Charles Aznavour verblüffend ähnlich sieht, ein ausgesprochen gut aussehender Mann, wühlt in den Auberginen. Hochkonzentriert steht er da, dann holt er schließlich eine Aubergine aus der Tiefe der Kiste, hält sie triumphierend hoch und zeigt sie seinem Freund, der auch sein Bruder sein kann, er sieht nämlich fast genau so aus, Charles Aznavour 2 bei Sönmez 1. Der Bruderfreund nimmt ihm die Aubergine ab, drückt sie, wiegt sie in der Hand und hat Einwände, schüttelt kritisch den Kopf, Nummer 1 gräbt also immer weiter und entscheidet sich nicht so leicht. Es dauert Ewigkeiten, bis die beiden sich auf eine Aubergine einigen, sie reden die ganze Zeit schnell und engagiert, ich kann, obwohl ich direkt neben ihnen stehe, nicht einmal raten, welche Sprache das sein könnte. An den Gesten der beiden merkt man aber schließlich, dass sie über Kochrezepte reden. Die Hände hacken Kräuter, schütteln Pfannen, reiben Gewürze und löffeln Probe. Sie sind doch noch nicht nicht einer Meinung, wie es scheint, sie gehe weiter ernst debattierend in den Laden. Charles Aznavour Nummer 1 trägt die Aubergine vor sich her wie eine Trophäe. Er trägt einen alten, nicht eben gut erhaltenen Anzug, die Schuhe sind auch ziemlich durch, aber seine Stimme ist klar und schön und am Abend wird er irgendwo La Bohème singen. Und danach dann irgendetwas mit Auberginen essen. Er könnte tatsächlich als Imitator auftreten, so ähnlich sieht er dem Sänger.


Ich folge den beiden in den Laden, „Hissa! Hissa!“ werde ich am Eingang aufgefordert, aber ich will keine Kiste Tomaten, ich will überhaupt nichts in Kisten, obwohl hier viele Menschen absurde Mengen Lebensmittel kaufen, in großen Kartons, in Einkaufswagen, die gar nicht in diesen Laden gehören, in Einkaufsrollern, die bis zum Rand mit Spitzpaprika oder Kohl gefüllt werden. Mengen, die man nur verarbeiten kann, wenn man für zehn Leute oder mehr kocht. Im Laden eine Regalwand nur mit Körnern und getrocknetem Irgendwas, Kürbiskerne, Pistazien, geröstete Kircherbsen, Nüsse, alles mit Salz oder ohne, mit Gewürz oder ohne, in dieser und jeder Abwandlung. Nicht auf allen Tüten steht etwas auf Deutsch, ich kaufe ab und zu eine auf gut Glück, es wird schon schmecken. Man gewinnt nicht immer bei dem Spiel, aber egal. Fladenbrote in ungewohnten Formaten und Größen, die Frau vor mir kauft sechs meterlange Fladenbrote, hier ist wirklich alles für Großfamilien gemacht, mein Vierpersonenhaushalt ist gar nichts. Zwei Regale nur mit Oliven, zwei mit Bohnen und Kichererbsen in Dosen. Ganze Fische an der Frischetheke, ich könnte einen großen Lachs mitnehmen, wenn ich auch nur die leiseste Ahnung hätte, was ich mit einem ganzen Fisch soll, ich kann nur Filet. Eine bedauerliche Form von Lebensmittelblödigkeit, typisch für meine Generation. Frischfleisch vom Schaf, vom Lamm, vom Rind, vom Geflügel. Nicht wie in deutschen Märkten nur noch die Schnitzel, nein, alles. Schafsköpfe, Lammzungen, Hühnerherzen, Kalbsfüße, was man sich nur vorstellen kann. Schafskäse und Ziegenkäse in üppiger Auswahl, dann wieder unabsehbare Mengen von Gemüsen im Glas. Türkische Süßigkeiten, türkische Getränke. Kein Alkohol.


Die Frauen an der Kasse sind schnell, sie wechseln alle paar Sekunden die Sprache, sie müssen nie irgendeinen Preis nachsehen und sie kennen immer alle Sorten, die da verkauft werden. Sie verstehen nie, dass ich keine Plastiktüten will und amüsieren sich lächelnd über meine mitgebrachten Beutel. Ich trinke eine türkische Limo vor der Tür des Ladens und knabbere am Fladenbrot, ich sehe mir das Treiben noch einen Augenblick an. „Hissa, Hissa!“. Nein, ich will wirklich keine Kiste Tomaten. Obwohl die gut aussehen und zwei Euro tatsächlich spottbillig ist. Charles Aznavour kommt jetzt auch aus dem Laden, er ist immer noch ins Gespräch vertieft, er trägt die Aubergine immer noch vor sich her, und sein Bruderfreund wirkt nach wie vor nicht überzeugt und schüttelt immer noch den Kopf. Vielleicht heißt das Lied auch „L’Aubergine“, wer weiß.


Ein paar Meter weiter steht eine Dame und darf nicht angesprochen werden. Sie steht vor einer Kneipe und ab und zu geht sie hinein, wenn sie Glück hat, geht ein Mann ihr nach, alles andere findet sich dann drinnen und kostet dann zumindest kein Bußgeld. Na super.






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Published on November 10, 2012 00:01

November 9, 2012

Der Heimatschriftsteller

Ich habe heute morgen 05:30 einen Blogeintrag angefangen, nur eine ganz kurze Beschreibung einer Straßenecke in unserem kleinen Bahnhofsviertel, Sankt Georg. So eine Skizze einer alltäglichen Szene vom letzten Wochenende. Dann nach drei Seiten gemerkt: Oh, das wird wohl doch etwas länger. Weitergeschrieben. Dann abgebrochen, weil die Kinder wach wurden. Ins Büro gegangen. Weiter nachgedacht. Es werden wohl eher noch ein paar Seiten mehr. Heute nachmittag habe ich keine Zeit, heute Abend habe ich keine Zeit. Also im Hintergrund immer weiter nachdenken, dann wird es aber leider noch länger, wenn ich Texten Zeit gebe, dann gehen sie auf wie Hefe. Wenn ich also weiterhin keine Zeit habe, den Text zu beenden, wird irgendwann ein Buch daraus. Schlimm!


Nein, kleiner Scherz, da wird natürlich kein Buch am Ende stehen. Aber es ist schon ein drolliger Effekt: Je mehr ich darüber nachdenke, Sankt Georg zu verlassen, desto mehr verliebe ich mich in den Stadtteil und desto mehr Lust habe ich, darüber zu schreiben.






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Published on November 09, 2012 02:50

November 7, 2012

Bedarf

Google-Suche nach „Kinder brauchen“, aus den Ergebnissen der ersten zehn Seiten. Dann wäre das jetzt auch geklärt.


Kinder brauchen uns

Kinder brauchen Liebe

Kinder brauchen mehr als Liebe

Kinder brauchen Frieden

Kinder brauchen Werte

Kinder brauchen Zeit

Kinder brauchen Zukunft

Kinder brauchen Kinder

Kinder brauchen Freunde

Kinder brauchen uns

Kinder brauchen uns auch nachts

Kinder brauchen Fleisch

Kinder brauchen Helden

Kinder brauchen Wurzeln

Kinder brauchen einen eigenen Ausweis

Kinder brauchen einen Reisepass

Kinder brauchen Natur

Kinder brauchen unsere Hilfe

Kinder brauchen Mütter

Kinder brauchen Großmütter

Kinder brauchen Monster

Kinder brauchen geschützte Surfräume

Kinder brauchen mehr

Kinder brauchen Grenzen

Kinder brauchen Regeln

Kinder brauchen Rituale

Kinder brauchen Märchen

Kinder brauchen Musik

Kinder brauchen Familie

Kinder brauchen Ferien

Kinder brauchen keine Drogen

Kinder brauchen keine Brille

Kinder brauchen einen Schlüssel für Sachsens Zukunft






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Published on November 07, 2012 21:41

November 6, 2012

Kleine Anmerkung zu dieser Wahl da

Ich nehme immer wieder etwas verblüfft zur Kenntnis, mit welcher Leidenschaft die deutsche Internetszene die US-Wahl begleitet, wie sie mitfiebert, ach so klug kommentiert, leidenschaftlich analysiert, sogar nachts aufbleibt, durchmacht, jubelt – das hat so überhaupt gar nichts mit dem Rest der Bevölkerung zu tun, dem diese Wahl, wie die meisten anderen Wahlen auch, einschließlich der in Deutschland, ziemlich schnurz ist. Mir ist natürlich klar, dass die Presse das Geschehen intensiv begleitet, das ist ja auch ihr Job, aber die ganzen Privatpersonen, die unzählige Tweets, Statusmeldungen, Blogeinträge dazu schreiben? In manchmal schon verblüffender Fleißarbeit? Waren denn alle früher einmal Austauschschüler in Ohio, haben alle so enge Freunde in New York, oder halten alle die USA immer noch für den wichtigsten Staat der Welt, was ist das? Oder sind sie einfach, haha, die besseren Demokraten? Warum denn nur dieses überaus peinliche Imponiergehabe mit intimer Kenntnis des US-Wahlrechts? Warum dieses Posten vollkommen sinnloser Wahlaufrufe für amerikanische Kandidaten von Bottrop oder Pinneberg aus? Wieso werden hier Online-Präsenzen reihenweise mit Obama-Postern dekoriert? Ich verstehe es nicht.


Für mich gab es bei dieser Wahl allerdings tatsächlich auch ein High-Light. Ein sehr erheiterndes, eines, das mir länger in Erinnerung bleiben wird. Und das sind die phantastischen mimischen Verzerrungen auf den Gesichtern von Sohn I und seinem Kumpel, als sie versucht haben, den ulkigen Vornamen „Barack“ möglichst amerikanisch auszusprechen, wie sie es bei einem Nachrichtensprecher aus Washington gehört haben. Bäwwwwwäk. Wobei das Kinn mal sehr weit nach links, mal sehr weit nach rechts verrutschte, während die Nasen seltsam weit nach oben zeigten, die Augen hochkonzentriert, die Stirn gefurcht. Bäwwwwwäk.


Daher hatte sogar ich ein gewisses Interesse an einem Sieg der Demokraten. Denn wenn ich einmal schlechte Laune habe, dann frage ich jetzt einfach Sohn I wie der Präsident von Amerika heißt. Und dann geht es schon wieder. Und dann feiere ich den Change in meiner Stimmung. Yes, I can.






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Published on November 06, 2012 21:33

Kurze Frage

War vielleicht jemand bei dem Konzert von Frederik Vahle am Wochenende in Hamburg und weiß, wie der als “Tretbootvermieter von der Ostsee” aufgetretene Überraschungsgast hieß? Den würden wir sehr gerne wiedersehen oder hören. Aber den Namen nicht mitbekommen. Schlimm.

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Published on November 06, 2012 10:31

November 5, 2012

Woanders – heute sehr literaturlastig

Wolfgang Michal über die Situation der Blogger und der Presse. Enthält den Begriff USP, kann man aber dennoch lesen. Erstaunlich eigentlich.


 


In der NZZ ein Artikel über eine Neuübersetzung von Flauberts Madame Bovary.  Auch so ein     Klassiker, der ein großartiges Lesevergnügen ist.  Wenn Sie das versehentlich noch nicht kennen, lassen Sie es sich schenken. In 48 Tagen ist Weihnachten.


 


Ich reise nicht gern, ich verlasse ja nicht einmal meinen Stadtteil gern, aber ich lese gelegentlich Reiseberichte in Blogs, wenn mich der erste Absatz irgendwie erwischt. Katrin Scheib ist mit einem Medien-Austauschprogramm zwölf Wochen in China und schreibt hier über die ersten sechs Wochen. Ganz kurz, in ganz unerwarteten Sätzen und Feststellungen.


 


In Georgien gibt es einen Kindergarten mit einem echten Flugzeug als Spielgerät. Hier Bilder davon im österreichischen Standard.


 


Veronika, ein ganzes Jahr.


 


Ein Artikel in der Berliner Zeitung über Jugendkriminalität. Die Zahlenlage, die eben nicht (nicht! nicht!) auf eine dramatische Steigerung der Deliktzahl hinweist, bitte verinnerlichen. Zumindest solange, bis wieder eine andere Quelle das Gegenteil behauptet, es kann sich ja nur um Tage handeln. Bitte auch unter dem Aspekt lesen, dass wir alle stets in Gefahr sind, falsch hochzurechnen, weil der Mensch nun einmal so tickt. Es ist quasi ein Softwarefehler des menschlichen Hirns, dass wir aus zwei, drei Vorkommnissen, von denen wir Kenntnis bekommen, immer auf die ganze Welt schließen, wir rechnen uns die Wirklichkeit hoch. Das ist auch durchaus sinnvoll, wenn ein Säbelzahntiger Brüderchen und Schwesterchen verspeist, denn dann sollte man folgerichtig ableiten, dass er womöglich auch hinter einem selbst her ist, das ist aber nicht mehr sinnvoll, wenn man zwei, drei Meldungen zu einem Thema in Zeitungen liest. Und man glaube nur nicht, man sei qua Intelligenz darüber erhaben.  Das ist eine schwere, lebenslange Aufgabe, dieses Muster immer wieder zu erkennen, das wird auch nicht eben simpler, wenn man zehn, zwanzig oder zweihundert ähnliche Tweets oder Blogartikel zu einem Thema liest. Es ist und bleibt immer alles eine Frage der Stichprobe. Lesenswert ist der Artikel aber auch wegen des historischen Zitates im Text. Ein schöner Fund.


 


Das Nuf erspart mir Schreibarbeit, denn bei diesem Artikel von ihr sehe ich alles, wirklich alles ganz genau so und ich war auch schon drauf und dran, etwas in ähnlicher Richtung anzufangen. Aber das kann man jetzt alles hier nachlesen. Toll. Vielen Dank. Das Nuf ist sowieso immer super, unbedingt regelmäßig lesen.


 


Ein wenig geschichtliche Weiterbildung schadet auch nicht: In der NZZ ein Text über die Balkankriege 1912/1913. Ich hätte ziemlich wenig gewusst. Sagen wir: verblüffend wenig, fast gar nichts. In einem Test darüber hätte ich eine glatte 5 geschrieben. Ich sehe förmlich meinen Geschichtslehrer vor mir, ganz alte Schule der Mann, wie er damals in der Klasse stand, mit taumelnden Rückwärtsschritten den Mittelgang entlangging, nach seinem Stuhl tastete und, meine Arbeit anklagend erhoben in der Hand, erbleichend murmelte: „Gestatten Sie, dass ich mich setze ob ihrer Dummheit.“ Formulieren konnte er.


 


Und wo wir schon bei der Geschichte sind – in der taz ein Interview mit der Auschwitz-Überlebenden Germanistin Ruth Klüger. Enthält das bemerkenswerte Statement zum Begriff Heimat:  „Also ich brauche keine. Wissen Sie, die Welt ist derartig voller Flüchtlinge und Migranten, mehr als je. Wenn alle diese Leute eine Heimat brauchten, dann wären sie noch schlechter dran, als sie sowieso sind. Ich bin kein Baum, ich brauche keine Wurzeln. In diesem übertragenen Sinne, dass die Kindheit Wurzel ist: ja. Aber das ist nicht dasselbe wie ein Boden. Ich habe Füße, keine Wurzeln, ich kann gehen. Sogar Auto fahren.“


 


Dann noch Axel Scherm über die Neunziger Jahre, Stockwerkeigentum und Geschwister. Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Erzählt mehr Geschichten! Wie Axel zum Beispiel. So soll das sein.


 


Und wo wir schon beim Schreiben sind: In der NZZ, die anscheinend meine Lieblingszeitung ist, wie ich gerade an der Zahl der Links merke,  eine Poetik-Vorlesung von Brigitte Kronauer.  Sicherlich ganz besonders für die mitlesenden Autoren interessant: „Über die Skepsis beim Schreiben“. Kein guter Text für nebenbei, eher für das abendliche Glas Irgendwas.


 


Im Buchreport ein Beitrag zum eher unerfreulichen Thema deutsche Autoren und das Internet.


 


Und ganz zum Schluss, warum soll man nicht noch neue Regeln für die wöchentliche Linksammlung erfinden, das Rezept der Woche, also das Beste, was hier meiner Meinung nach in den letzten sieben Tagen von mir gekocht auf dem Tisch war: Pappeinfaches Ofengemüse. So ein tolles Essen.






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Published on November 05, 2012 21:17

November 4, 2012

Chancenreichtum

Google-Suche nach „leben länger“, ich suchte gerade eine kürzlich veröffentlichte Studie, deren Ergebnisse ich in einer Kolumne verarbeiten wollte. Gefunden:


Eltern leben länger

Zwillingsmütter leben länger

Deutsche leben länger

Drachen leben länger

Dicke leben länger

Optimisten leben länger

Pessimisten leben länger

Totgesagte leben länger

Vegetarier leben länger

Menschen in reichen Ländern leben länger

Eunuchen leben länger

Glückliche Menschen leben länger

Menschen mit hohem Einkommen leben länger

Freundliche Primaten leben länger

Sportler leben länger

Weibchen leben länger

Hongkongs Frauen leben länger

Haushaltsschnecken leben länger

Orkaweibchen mit Nachwuchs leben länger

Frauen mit gleichaltrigen Männern leben länger

Frauen leben länger

Alleinerziehende Spinnenväter leben länger

Golfer leben länger

Jogger leben länger

Langweiler leben länger

Scheue Hirsche leben länger

Schlanke Katzen leben länger

Glückliche Kühe leben länger

Eintagsfliegen leben länger

Waschmaschinen leben länger

Altruisten leben länger

Kinder von alten Vätern leben länger

November-Kinder leben länger

Kaffeetrinker leben länger

Patienten leben länger

Leichen leben länger


Ich mache mir in meiner Eigenschaft als scheuer Hirsch jetzt einfach mal keine Gedanken mehr.






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Published on November 04, 2012 23:22

November 1, 2012

Zur Sprachentwicklung bei Kleinkindern

Es gibt eine Phase der sprachlichen Entwicklung, in der das Ausdrucksvermögen dem Wissen deutlich voraus ist. Das ist bei den Kindern, die ich kenne, etwa mit drei Jahren der Fall, es kann vermutlich aber auch früher auftreten, ich kenne ja fast nur Jungs. Das Kind kann sich schon korrekt ausdrücken, es kann ganze, vernünftige Sätze bilden, Phrasen der Erwachsenen wiedergeben und auch die Mimik aus der Erwachsenenwelt sehr überzeugend nachmachen. Hochgezogene Brauen, nachdenkliches Nicken, grübelndes Kopfnicken und Abwägen, das haben sie alles schon übernommen und perfektioniert. Es wirkt etwas karikierend, wenn sie es einsetzen, aber das geschieht natürlich nicht mit Absicht.  Die Grammatik sitzt halbwegs, ganze Satzkonstruktionen, auch ziemlich komplizierte, kommen, teils auswendig gelernt, flüssig über die Lippen, es sind kleine Redner und eloquente Gesprächspartner– sie haben nur von nichts eine Ahnung. Sie reden gekonnt, wissen aber nicht wovon .Wie sollten sie auch etwas wissen, nach nur drei Jahren.



Sohn II zieht mich neuerdings abends mit der Formulierung „Wir müssen reden“ ins Bett. Reden, ein Gespräch führen, zu zweit, auf Augenhöhe, wie man heute im wirtschaftlichen Umfeld sagt. „Komm, wir reden über Weihnachten“, sagt er etwa. Im Grunde will er nur noch nicht schlafen, versteht sich, aber da passt es natürlich ganz gut, dass der Vater sich so über diese Gespräche unter vier Augen freut.


Ich: „Weißt Du denn überhaupt, wann Weihnachten ist?“


Sohn II: „Das ist Dienstag. Also nach Freitag und heute. So ist das.“


Ich: „Und wer kommt da?“


Sohn II: „Der Weihnachtsmann. Und Jesus mit seinem Bruder.“


Ich: „Jesus hatte gar keinen Bruder.“


Sohn II: „Oh, wie schade. Ich habe aber einen. Da.“


Ich: „Und worauf kommt der Weihnachtsmann?“


Sohn II: „Der kommt auf einem Schlitten.“


Ich: „Auf einem fliegenden Schlitten, genau. Und wer zieht den?“


Sohn II: „Der Nikolaus. Genau so ist das. Das weiß ich doch alles schon. Ich geh bald in die Vorschule.“


 


Wobei er nickt und herablassend guckt, als hätte er die letzten drei Jahre komplett mit intensiver Weihnachtsforschung verbracht.


 


Ich: „Und wer wurde an Weihnachten geboren?“


Sohn II: „Jesus. Und kein Bruder. Das hab ich Dir doch schon gesagt.“


Ich: „Und wo?“


Sohn II: „Auf Mallorca.“


Ich: „Und welche Tiere waren dabei?“


Sohn II: „Die Renntiere. Sehr schnelle Renntiere waren das, das weiß ich doch auch schon. Die sind wie Pferde, die Renntiere, die dabei waren, aber mit hier so.“


 


Er zeigt mir mit Gesten die Geweihe. Immerhin ein nicht ganz abwegiger Gedanke.


 


Ich: „Und Ochs und Esel?“


Sohn II: „Die ziehen auch mit am Schlitten. Weiß ich alles. Ich will jetzt mit Dir über Schnee sprechen. Ich rede über Schnee, ja? Also Schnee gibt es dann am Freitag. Ist heute Montag? Nein? Dann gibt es heute Schnee, weißt Du. “


 


Und das geht noch lange so weiter, es ist faszinierend, Jeder Satz im Brustton der Überzegung vorgebracht, nicht der Hauch eines Selbstzweifels. Dozierender Tonfall, belehrend erhobener Zeigefinger, mitleidige Blicke, wenn man fragend guckt und offensichtlich etwas nicht gewusst hat. Wenn ich etwas richtigstelle, wird das neue Argument sofort in die Sätze eingebaut, als wäre das immer schon so bekannt gewesen, der Zustand, in dem er das nicht gewusst hat, den hat es nie gegeben. Er weiß alles, immer schon, also bestimmt seit gestern, wenn nicht sogar seit Freitag.


Das geht nach meiner Erfahrung etwa ein Jahr so, dann wissen die Kinder allmählich tatsächlich so viel, dass sie in der Argumentation und in der Erzählung auf die wirklich bekannten Tatsachen umschalten können und eher ähnlich wie Erwachsene reden.


Bei manchen besonders zielstrebigen und dominanten Menschen kommt es nach etwa 25 Jahren zu einem plötzlichen Rückfall in das Sprechverhalten der Dreijährigen. Sie reden dann wieder in gefälliger Wortwahl über Dinge, von denen sie keinen Schimmer haben, bauen Gegenargumente sofort als eigene in ihren Redefluss ein und dozieren auch bei völliger Ahnungslosigkeit immer weiter, während die Zuhörer längst gerne einschlafen würde, wollte sagen frei hätten, sie werden unduldsam, wenn man ihnen nicht folgen möchte und schnell aggressiv, wenn man widerspricht – es ist ein wenig beachtetes Phänomen, aber die Sprache der Manager ist der Sprache der Dreijährigen wirklich verblüffend ähnlich.






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Published on November 01, 2012 22:39

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Maximilian Buddenbohm
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