Maximilian Buddenbohm's Blog, page 366
September 20, 2013
Schnüsch, Dibbelabbes, Potthucke & Co
Ich habe vor ein paar Wochen noch gedacht, dass ich ein immer wiederkehrendes Problem mit vegetarischen Kochbüchern habe. Die wollen mich nämlich allzu oft in zwei Richtungen drängen, die mir beide nicht recht liegen. Da ist zum einen die dinkelig-grünkernige Ecke, an die ich mich anscheinend in diesem Leben nicht mehr gewöhnen werde. Das mag feines Essen sein, gesund und alles, aber es ist einfach nicht meins. Geht mir weg mit Getreidemühlen und Schrot und den Weizensorten der Inkas, ich möchte das nicht. Da ist zum anderen, ebenso unweigerlich, die asiatische Richtung, denn die haben da im Osten anscheinend vegetarisch mehr zu bieten als wir. Ich esse gerne asiatisch, aber nicht so wahnsinnig oft. Es ist mir häufig zu kompliziert oder es verlangt zu viele Zutaten, ich habe zum Kochen oft aber gar nicht viel Zeit.
Ich bin nun auch kein echter Vegetarier, ich bin nur ein Immer-öfter-kein-Fleisch-Esser, das ist natürlich eine etwas andere Lage als bei den Leuten mit Grundsatzentscheidungen. Ich esse gerne oft vegetarisch, aber eigentlich bin ich beim Essen oft Spießer und hätte trotz Fleischverzicht gerne eine Geschmacksdimension im Essen, mit der ich vertraut bin. Das treibt einen oft zum Fleisch zurück, gegen das ich, wie gesagt, auch nichts habe. Außer sehr vielen guten Argumenten, versteht sich, aber die Diskussion fange ich hier gar nicht erst an. Aber tatsächlich bin ich immer auf der Suche nach Rezepten, die in unsere landestypische Küche passen und ohne Fleisch auskommen. Und womöglich noch tatsächlich mit regionalen Zutaten zuzubereiten sind.
Da traf es sich sehr gut, dass der geschätzte Stevan Paul gerade ein neues Kochbuch geschrieben hat, Details dazu findet man hier. Herausgegeben von Katharina Seiser, die der eine oder andere vielleicht ganz richtig auch mit “Österreich vegetarisch” in Verbindung bringt. Und das neue Buch enthält Rezepte aus der deutschen Küche, die immer schon ohne Fleisch auskamen. Der regelmässige Verzehr von Fleisch in Überdosen ist immerhin eine ziemlich neue Erfindung, hier gab es jahrhundertelang ganz anderes Zeug auf den Teller. Zwiebelkuchen, Himmel und Erde, Sauerkrautsuppe, Potthucke, Soleier, Schnüsch und so weiter, das sind alles alte Gerichte ohne Fleisch. Schön nach Jahreszeiten sortiert, in überschaubarem Schwierigkeitsgrad, zumindest wenn man die Spätzle weglässt, nehme ich an.
Und da ich gerade Lust habe, wieder besser zu kochen und endlich einmal grundlos wie alle Fotos von Lebensmitteln zu machen und online mit schicken Pilzen anzugeben – und weil Stevan mir das Buch freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat, koche ich davon jetzt öfter mal was nach und berichte dann hier, was das Rezept taugt und wem das schmeckt. Wobei man sich bezüglich der Söhne wenig Hoffnung machen muss, die sind durch kantinenähnliches Essen in der Kita erst einmal gründlich verdorben. Aber nach den beiden richtet sich der Speiseplan hier sowieso nicht, wie verschiedentlich berichtet.
Dann starte ich nächste Woche entspannt mit einer Suppe. Klingt doch gut:
September 18, 2013
Woanders – Der Wirtschaftsteil
Es regnet, es wird kälter, es wird immer später hell. Zeit für die neue Übergangsjacke. Zeit, die Sommermode wieder in die hintersten Fächer zu sortieren. Dabei könnte man noch einmal ein wenig über die Textilindustrie nachdenken, nicht wahr, während man so herumräumt. Der letzte Fabrikeinsturz ist schon eine Weile her, da lässt die Aufmerksamkeit immer so schnell nach. Obwohl Aufmerksamkeit doch hilft und obwohl sie doch weiter dringend nötig ist.
Vielleicht können Sie sich aber auch gar kein neues Übergangsjäckchen leisten? Weil das Einkommen einfach nicht ausreicht? Da haben wir einen tollen Trost: Armut ist zwar unangenehm, liegt aber immerhin im Trend.
Die drohende Armut war auch ein Thema für die Angestellten der Schlecker-Kette. In der Zeit gibt es ein Artikel über ehemalige Verkäuferinnen, die sich irgendwie gerettet haben. Oder auch nicht.
Und wenn wir schon bei Arbeit und Beruf sind, können wir auch einmal einen Blick auf die Bufdis werfen, damit beginnt heutzutage für viele das Berufsleben. Man mag es gesellschaftlich für einen Fortschritt halten, dass es jetzt nur noch Bufdis gibt und keine Zivis mehr, immerhin wurde dafür die Wehrpflicht erledigt. Ob die Abkürzung aber auch ein Fortschritt ist – ich weiß ja nicht. Hätte man nicht auch “Mutterlandfreiwilligendienst” nehmen können? Mufdi? Oder Deutschlandfreiwilligendienst? Dufdi? Verpasste Gelegenheiten!
Und wir können noch einen Link zur letzten Woche nachreichen, immer gut, wenn ein Thema weiter und weiter verzweigt und vertieft wird. Diesmal hat Stevan Paul noch etwas zum Brot geschrieben, das kam hier kürzlich bereits mehrfach vor. Und ich habe so eine Ahnung, es wird noch öfter vorkommen. Unseren wöchentlichen Brotlink gib uns heute – bitte sehr. Oh, und siehe dazu auch eine Meldung im Supermarktblog, das Sie alle hoffentlich sowieso immer lesen. Der Text enthält den schönen Begriff Backvollzugsanstalten, wenn das kein Anreiz ist.
Ja, wir landen hier immer wieder bei den ganz einfachen Dingen. Bei den Anfängen des Konsums, der Nahrung, der Kleidung, bei den simplen Produkten. Woher kommt die schlichte Milch? Wo kommt das Gemüse her? Aus dem Garten natürlich. Woher denn sonst? Na, vielleicht kommt es gar nicht mehr aus dem Garten, sondern aus dem Konferenzraum. Oder aus der Westwand des nächsten Bürogebäudes? In Japan gibt es da einen äußerst interessanten Bau. Beachten Sie auch den Link zu weiteren Bildern am Ende des Artikels. Das hat was. Vielleicht sollte man doch nicht unterschätzen, wie unsere Gebäude und Städte sich noch verändern können.
Apropos Konferenzraum. Wenn Sie das nächste Mal beruflich hinter Ihrer eigenen Bestform herhinken, Ihre Kollegen oder Ihr Chef Sie dafür anpfeifen, die Kunden Ihnen einen Vogel zeigen oder die Konkurrenz Sie auslacht, und wenn Sie das alles völlig kaltlässt und Sie sich geistig auf ein entschlossenes, wenn auch nur geflüstertes “Ihr mich auch” zurückziehen – dann nennen Sie das doch bitte nicht mehr Egalhaltung, das ist so dermaßen Neunziger. Reden Sie von Resilienz. Näheres dazu im Smalltalklink der Woche, aber erst ganz am Ende des Textes. Aber lesen Sie ruhig alles, es lohnt sich.
Ja, der Text war jetzt ganz schön lang, der in der brand eins da. Haben Sie den gelesen? Ganz? Oder stehen Sie mehr auf die kurzen Schnipsel aus leichter verdaulichen Meldungen? Da könnten Sie auch einmal drüber nachdenken, das hat womöglich etwas mit unserer Gesellschaft zu tun. Das gilt ja überall, das wir den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen, dass wir die Nachrichten vor lauter Meldungen nicht verstehen. Oder das Klima nicht vor lauter Wetter. Oder so. Wobei der Begriff “Global Weirding” im Artikel natürlich auch ein ganz wunderbarer ist, der bestimmt auch in Ihrem Arbeitsalltag sinnig eingeführt werden kann.
Und was fehlt noch? Der Designlink der Woche. Was soll es denn diesmal sein? Architektur? Produktdesign? Ach was, lassen Sie uns lieber einmal albern sein. Albern macht kreativ, und wer würde das in seinem Beruf nicht brauchen? Bitte sehr.
September 17, 2013
Kleine Anmerkung zur Totholzdebatte in den Medien
Es ist früh am Morgen, es ist wie immer hektisch. Ich beende die Morgenarbeit und fahre den Computer runter, während ich meine Schuhe anziehe und den letzten Schluck Kaffee trinke, neben dem Schreibtisch sitzt Sohn I auf dem Fussboden und kämpft sich schimpfend in seine enge Hose. Die Herzdame streitet im Nebenzimmer mit Sohn II über die Wahl des richtigen Pullovers und die Zweckmäßigkeit von Sandalen bei Regen. Die Zeit drängt, die Stimmung ist gereizt, es ist alles wie immer. Da fällt mir noch etwas zu einem Text ein, an dem ich gerade sitze, eine kleine Idee nur. Aber es ist vielleicht doch besser, ich schreibe sie auf, denke ich mir, bis ich im Büro bin, ist sie sonst bestimmt wieder vergessen. Ich versuche gerade, mir schneller und öfter Ideen aufzuschreiben, es ist vielleicht alles eine Frage des Trainings. Der Computer ist aber schon aus, das iPad ist irgendwo anders, ich nehme also mein Notizbuch und einen Kugelschreiber aus der Anzugtasche und schreibe schnell einen Satz. Sohn I sieht mich irritiert an.
Sohn I: “Papa, was machst du da?”
Ich: “Ich schreibe nur schnell einen Satz auf, den vergesse ich sonst wieder.”
Sohn I: “Wie schreibst du denn da?”
Ich: “Na, mit einem Stift in ein Notizbuch, siehst du doch?”
Sohn I: “Auf Papier?”
Ich: “Ja, auf Papier. So ist das bei Notizbüchern.”
Sohn I: “Aber – das kommt doch so gar nicht bei deinen Lesern an!”
September 16, 2013
Bel Ami
Ich: “Sag mal, bei diesem Mädchengeburtstag, zu dem du da jetzt eingeladen worden bist, geht da noch ein anderer Junge hin?”
Sohn I: “Nein, wieso? Da bin ich doch der Junge.”
Auf dem Michel
Für meine Kolumne “Kind und Kegel” in der Online-Ausgabe des Hamburg-Führers war ich diesmal nicht mit Sohn I unterwegs, sondern mit Sohn II. Das Ergebnis unterscheidet sich daher ein wenig von den anderen Kolumnen.
September 15, 2013
Woanders – diesmal mit Bargfeld, einer Langfassung, Eltern und anderem
Nic war in Bargfeld. Bei wem wohl.
Oliver war da auch. Dann ist das wohl ein Trend. Kann man hinwandern, was? Vielleicht sollte ich auch?
Ein Interview mit dem Autor Klaus Kordon. “Ich will mich ja lang fassen”, das ist ein schöner Satz. Ich kenne das.
Renz-Polster über Kinder und Natur.
Ein Blogeintrag über, nun ja, die Freuden des Elternseins. Irgendwie.
In der Zeit ein Artikel über Kinderbetreuung in Frankreich.
Dazu passend eine Meldung über Frauen und Kinderwunsch in Deutschland.
Bewegende Erkenntnisse über Keinbockhasen.
Peter Glaser über die Entwicklungspotentiale des gedruckten Buches.
Bilder: Menschen in Shanghai beim Nickerchen.
Bilder: Bei kwerfeldein geht es um Kindergartenfotografie, auch so ein Abgrundthema. Hinweis für Nichteltern: Ihr macht Euch keinen Begriff, was für Scheußlichkeiten da oft produziert werden. Debil grinsende Kinder vor den pastellblau verwischten Hintergründen, die in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts noch die Wände in den sanitären Anlagen von italienischen Eiscafés in deutschen Vororten bestimmten. Schlimm.
Bilder: Zuckerbrot und Spiele ist ein Fotobuchprojekt über die Schausteller auf dem Hamburger Dom. Auf der Seite ist ein Film des NDR über das Projekt verlinkt. Ich mag die Beispielbilder.
Film: Diese animierte Karte der europäischen Geschichte wurde schon öfter durchs Netzt getrieben, ist aber auch immer wieder schön.
September 14, 2013
Das Wissen der Welt
Sohn I ist nun in der Vorschule. Das merkt man auch daran, dass sein Wissensdurst sich in irre Ausmaße steigert, als ob er sofort die ganze Welt verstehen müsse. Die Bettkantengespräche drehen sich nun nicht mehr um alberne Ritter oder Indianer. Der Sohn fragt jetzt mit ernstem Blick nach seriösen Themen. Was ist Werbung? Wozu gibt es die? Wer verdient daran? Wo geht das Geld eigentlich hin, wenn wir es ausgegeben haben? Kommt es wieder? Wieso gibt es in der Wohnung Strom? Gibt es in jeder Wohnung Strom? Ist Solarstrom anders als Windstrom? Was ist Eisenerz? Und wo wird es gefördert? Was ist Fördern überhaupt?
Er springt von Thema zu Thema, ich kann ihm kaum folgen. Mitten in meinen zögernden Erklärungen ist er schon weiter, während ich noch versuche, mir zusammenzureimen, was es mit Eisenerz auf sich hatte. Wo kam das noch vor? Und wie wird das gefördert? Was weiß ich denn. Bin ich Bergmann? Und wie geht Strom, wie erklärt man das denn bloß. Ich denke, dass Strom aus der Steckdose kommt, aber da wird wohl mehr Ernsthaftigkeit bei der Antwort verlangt. Ich rede also lieber weiter über Werbung und Geld, davon weiß ich wenigstens etwas mehr als vom Eisenerz. Ich drücke mich vor dem Stromthema, dabei könnte es wirklich peinlich werden, schwant mir. Da muss ich überspielen, dass ich keine Ahnung habe, das muss ich alles erst nachlesen. Aber man muss doch Sechsjährigen noch nicht zu erkennen geben, bei wie vielen Themen man wie ein Idiot durchs Leben geht, oder? Gibt es dem Kind denn nicht Sicherheit, dass Papa ihm jederzeit die Welt deuten kann? Lieber weiter reden, immer knapp an der Blamage vorbei. Nur gut, dass man als eloquenter Erwachsener die Kinder im Gespräch noch so leicht lenken kann!
Bis der Sohn mich unterbricht und tröstend sagt: „Papa, ich weiß doch, dass Erwachsene auch nicht alles wissen. Das ist schon okay. Du kannst jetzt aufhören.“
(Dieser Text erschien als Kolumne in den Lübecker Nachrichten und in der Ostsee-Zeitung)
Im Heimatdorf
Ein nasses Herbstwochenende im Heimatdorf, wo später am Tag ein verregnetes Dorfgemeinschaftsfest beginnen wird, dessen Länge nordostwestfalentypisch auf etwa 24 Stunden angesetzt ist. Mit Wagenkorso und allem drum und dran, ich werde vermutlich berichten. Der Opa der Söhne tritt wieder einmal als DJ auf. Für das Liedgut der Söhne wird das wahrscheinlich verheerende Folgen haben, aber so findet immerhin kultureller Transfer vom Land in die Stadt statt, das ist ja auch etwas Schönes. Irgendwie. Wenn andere Eltern aus der Kita sich in Kürze über seltsame Textkenntnisse des Nachwuchses wundern werden, ich werde nur leise “Ach? Das ist aber höchst seltsam…” murmeln.
Aber noch ist alles ruhig.
Der Ausflug ins Heimatdorf wird übrigens bezahlt mit den Flattr-Einnahmen aus diesem Blog, wofür ich herzlich danke.
Sachdienliche Hinweise
Ich bekomme immer öfter Hinweise auf interessante Links, sei es für den Wirtschaftsteil, für die andere Ausgabe von “Woanders” oder auch für ganz andere Zwecke. Solche Hinweise sind mir ausdrücklich willkommen, das können Sie mir wirklich gerne zuschicken, es vereinfacht immer öfter die Vorbereitungen – Mailadresse siehe Impressum.
Ich kann allerdings nicht in jedem Fall begründen, warum ich vielleicht einen Link nicht übernehme – das schaffe ich zeitlich einfach nicht. Der Link ist drin oder nicht. Ich entscheide das schlichtweg und ausschließlich nach meinem Geschmack und kann das manchmal auch gar nicht lange erörtern, selbst wenn ich es wollte.
Wenn Sie das Gefühl haben, hier würde in den Sammlungen ein wichtiger Link fehlen – sagen Sie mir gerne Bescheid. Per Mail, Facebook, Twitter, wie auch immer. Vielen Dank.
September 13, 2013
Wandern – die erste Tour
Es ist schon ein halbes Jahr her, seit ein Freund und ich bemerkt haben, dass der europäische Fernwanderweg 1 genau vor unserer Haustür verläuft. Wenn man immer weiter an den Bäumen mit diesem Zeichen entlang marschieren würde, man käme bis ans Nordkap, wo auch immer das ist. Oder bis nach Umbrien, wenn man die andere Richtung nimmt. Beide Ziele könnten allerdings für uns etwas schwierig zu erreichen sein, da wir Familien und Jobs haben, die nicht gerne längere Zeit unbetreut beiben, aber ein paar Meter könnte man den Weg schon einmal entlang gehen, das ist doch reizvoll. So einen einladenden Fernwanderweg hat immerhin nicht jeder vor der Haustür herumliegen. Dachten wir.
Gemäß der alten Regel “Man kommt zu nix” dauerte es nach dem Beschluss aber natürlich noch ein paar Monate, bevor wir tatsächlich zur ersten Etappe aufbrechen konnten und eigentlich hätte ich auch an dem Tag unserer Wahl keine Zeit gehabt, aber so geht es ja nicht. So kommt man nie irgendwohin und das dauernde Sitzen treibt mich sowieso allmählich in den Wahnsinn, also gingen wir einfach los. Trotz Termindruck, halbgarer Projekte und offener Tabs. Computer aus und ab dafür. An einem Sonntag, morgens um acht, während die Stadt noch schlief. Mit Wanderschuhen und Wandersocken, aber ohne Gepäck. Geplant war immerhin nur eine Stadttour, durch recht ziviliserte Gegenden. Von Sankt Georg nach Bergedorf, das ist ein Stadtteil im Osten von Hamburg, 20 km von der Mitte entfernt.
Der Fernwanderweg ist auf der Strecke ein ziemlich geradeaus durchgezogener Wanderweg, den man natürlich überhaupt nicht wahrnimmt, wenn man sich nicht gerade fürs Wandern oder für Radtouren interessiert und schon das fand ich faszinierend. Da ist so ein gut ausgebauter Weg, ein kilometerlanger Grünzug, der fängt am Berliner Tor an und geht für Stadtverhältnisse endlos weit, und den habe ich noch nie gesehen. Der Weg ist nicht nur gut ausgebaut, er wird auch gerade noch besser ausgebaut, er bekommt frisches Pflaster und einen besseren Radweg. Deswegen ist er auf einigen Stücken gerade gesperrt. Hohe Metallzäune stehen in der Gegend herum, dahinter wird gebuddelt. Wir gingen da natürlich dennoch entlang, mein Freund und ich, wir waren jetzt echte Wanderer, da wollten wir uns doch nicht gleich vom ersten Zaun aufhalten lassen und auf die Straße ausweichen, haha. Off-Road!
Und so haben wir es dann geschafft, dass wir nach ein paar Minuten und nur etwa 500 Meter hinter unserer Stadtteilgrenze verblüffend gründlich in der Absperrung einer Baustelle festhingen und ernsthaft überlegten, ob wir eine Böschung hinunterspringen oder über Zäune klettern sollten – oder ob wir nicht vielleicht einfach zu urban versaut für Wanderungen sind. Aber die rettende Lücke im Zaun fand sich dann noch, nachdem ich schon die Meldung “Wander-Blogger verläuft sich im Straßenbegleitgrün” vor mir gesehen hatte. Man muss eben alles erst einmal üben.
Ein paar Meter nach der Baustelle lief uns die gazellengleiche Isa über den Weg, auf dem Weg zu einem Marathonlauf. Oder Halbbmarathon. Oder Viertel? Egal. Das war jedenfalls ein schönes Bild für die Dynamik der Hamburger Blogszene, ich, fröhlich pfeifend aus dem Gebüsch neben einer Baustelle brechend, Isa, tänzelnd in Laufschuhen vor dem U-Bahneingang, während sich die meisten Bürger gerade noch einmal stöhnend in ihren Betten umdrehten. Von wegen Schreibtischtäter! Wir können auch ganz anders.
Wir gingen immer weiter nach Osten, durch menschenleere Gegenden. D.h. die Gegend war schon voller Menschen, sehr sogar, die Wege aber nicht. Links und rechts Backsteinblöcke bar jeder Schönheit, teils in elendsgrau oder auch blassgelb verputzt, wir liefen durch die Gegend, die im Zweiten Weltkrieg komplett weggebombt worden ist. Was man da wieder aufgebaut hat, das ist naheliegenderweise nicht schön, das ist zweckmässig. Und der Zweck war damals, Menschen ein Dach über dem Kopf zu geben, nicht kommende Szeneviertel zu erbauen. Man geht endlos an diesen Wohnblöcken vorbei, immer noch einer und noch einer. Erst wenn man das Gebiet einmal abläuft, ahnt man wirklich, wie viel damals gebrannt hat. Nichts sieht man hier von der schönsten Stadt der Welt, wie Hamburg so oft und so überaus fahrlässig genannt wird, hier wird Straße um Straße beinhart abgewohnt. Keine Antipasti-Edel-Imbisse, keine Latte-Macchiato-Muttis, keine Läden mit Dekobedarf für kreative Zahnarztgattinnen. Auch wenn am Rand von Borgfelde schon die Mieten steigen, wie man hört, hier sieht noch nichts aufgeschickt aus.
Abgesehen von Isa sah man vielen Menschen, die uns begegneten, eindeutig an, dass sie nur der fallende Alkohol- und/oder Nikotinpegel aus dem Bett getrieben hatte. Vor den Kiosken Grüppchen von meist männlichen Gestalten, einer fertiger als der andere, Bild und Bier zum Frühstück. Das ging so immer weiter. Und noch weiter. Wir gingen durch ganz normale Wohnviertel, aber das normale sah man um diese Uhrzeit noch nicht, es war einfach zu früh für normal. Wach und unterwegs war hier nur das Elend. Und mein Freund und ich. In unserem kleinen Bahnhofsviertel gibt es selbstverständlich auch nicht gerade wenig Trinker, aber sie fallen morgens zwischen den Touristen viel weniger auf. In der Gegend östlich der Mitte von Hamburg sieht man keine Touristen, die Stadtteile sind keine Reiseziele. Der Wanderweg vermittelt ein ganz anderes Bild von Hamburg als die Postkarten unten am Hafen, das ist eine erhellende Erfahrung, dort zu gehen.
Erst in Steinbek wurde es plötzlich netter. Da stehen noch Altbauten, da stehen alte Bäume, da fühlt es sich an, als würde die Stadt aufatmen und sich strecken, da wird es luftiger und leichter. Der Weg entfernte sich etwas von den großen Straßen, es roch plötzlich nicht mehr nach Benzin und Diesel, sondern dezent nach dunstigem Frühherbst. Vor den Kiosken standen keine aus dem Bett gefallen Trinker mehr. Vor den Kiosken stand überhaupt niemand, die hatten nämlich zu, wir waren also am Stadtrand angekommen. Jedenfalls, wenn man es von der Hamburger Innenstadt aus betrachtete. Tatsächlich geht das Hamburger Stadtgebiet noch viel weiter, aber es verliert hier diese gewisse Großstadtausstrahlung und gewinnt sie auch nicht wieder. Man sah kleinere Altbauten, frei stehende Häuser, das war hier einmal Dorf, man merkt es immer noch.
Ich habe lange überlegt, ob ich die Kamera überhaupt mitnehme, das Ding wiegt schon etwas und beim Wandern möchte man eigentlich nichts tragen. Aber das Handy reicht manchmal nicht, für gewisse Bilder ist die Kamera besser. Also habe ich sie mitgenommen. Und dann habe ich damit nur ein einziges Foto gemacht, weil wir gar keine Pausen gemacht haben. Das muss ich also noch einmal überdenken, das Konzept. Mehr Fotos machen? Und dafür dauernd stehenbleiben? Oder gar keine Fotos machen, gar nicht erst daran denken? Alles nicht so einfach.
Dann kamen bald schon die Boberger Dünen, das ist ein Naturschutzgebiet, das jeder Hamburger kennt. Und ich jetzt auch, vorher hatte ich es tatsächlich noch nie dahin geschafft. Das Gebiet ist erstaunlich groß, da läuft man stundenlang durch – und zwar im wörtlichen Sinne. Es ist landschaftlich überraschend, man wähnt sich plötzlich in Mecklenburg oder in – guck mal, die Birken im Morgenlicht! – Russland. Sehnsucht heißt das alte Lied der Taiga, Birken im Frühherbst auf sandigem Boden, das kann man ruhig einmal gesehen haben, das war wie Urlaub. Im Laub flackerte schon vereinzelt erstes Gold auf, die Landschaft ringsum war menschenleer und ganz ruhig, oben kreisten nur ein paar Segelflieger vor mildem Blaugrau. In einer kleinen Birkengruppe lagen bunte Schlafsäcke. Männer diskutierten leise, im Vorbeigehen hörten wir, dass sie Russisch sprachen. Kommen aus Russland, um in Hamburg unter Birken zu schlafen, das kann man dann bitte in einen Roman oder einen Kinofilm einbauen, nicht wahr. Liegen da auf dem einzigen Stück Hamburg herum, dass ein wenig nach russischer Weite aussieht, räumen fluchend Müll zusammen und starten dann in einen deutschen Sonntag. Man geht an so vielen Geschichten vorbei, wenn man mal ein paar Meter mehr geht.
Und dann endete der Weg etwas unvermittelt in Bergedorf, kurz vor der S-Bahn. 20 km in genau vier Stunden sind wir gelaufen. Die S-Bahn braucht für die gleiche Strecke 20 Minuten, wenn man damit fährt, fühlt es sich schon ziemlich weit an. Aber wenn ich jetzt wieder mit der Bahn nach Bergedorf fahre, dann weiß ich auch, wie das zu Fuß geht, das finde ich großartig. Die Stadt fühlt sich auf der Strecke jetzt ganz anders an. Der Weg war anstrengend, aber auf angenehme Art anstrengend, ich mag Gehen einfach gerne. Während mich beim Laufen eine empörte innnere Stimme fortwährend fragt, ob ich den Unsinn nicht bitte lassen könne, fragt mich beim Gehen eine freundliche Stimme immer, ob ich nicht bitte noch bis zur nächsten Ecke… zum nächsten Block…. zur nächsten Kreuzung – und so weiter. Kein Muskelkater am nächsten Tag, nur ein winziges Ziehen beim Treppensteigen, gar kein Problem. Ich glaube, das ist ein feiner Sport für mich.
Das nächste Mal gehen wir von Sankt Georg aus nach Blankenese, kreuzen dort die Elbe mit der Fähre und gehen dann südlich nach Neugraben. 33 Kilometer werden das sein. Ein wenig steigern können wir uns noch, glaube ich.
Eigentlich würde ich wirklich gerne einmal um Schleswig-Holstein herumgehen. An der Ostsee entlang rauf, an der Nordsee entlang runter. Organisatorisch herausfordernd nennt man das dann wohl.
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