Maximilian Buddenbohm's Blog, page 369
August 29, 2013
Die Sache mit dem Content
Gelegentlich werde ich gefragt, wie viel ich denn dazu erfinden müsste, um auf genug Content für diese Seite zu kommen. Gerade die Sachen mit den Kindern, das könne doch so nicht sein? Dauernd neue Geschichten?
Die Frage kommt meistens von Nicht-Eltern. Eltern wissen, dass man den Kindern nur ein wenig zuhören muss, um etwas aufschreiben zu können. Wenn man dazu noch ihre Lebensumstände beobachtet, ihre Freunde, ihre Spiele, dann kommt man gar nicht mehr hinterher, wenn man alles notieren möchte, was man bemerkenswert, lustig oder tiefsinnig findet. Und da hat man dann noch gar nichts zur Kita gesagt, zum Elterngeld, zum Betreuungsgeld, zur Ernährung, zu Kinderfilmen, zur Kindermode, zu Haustieren, Elternabenden, Notfallbonbons, Motto-Partys, Legopreisen und so weiter.
Am letzten Sonntag kam Sohn I gegen sechs Uhr verschlafen aus seinem Zimmer, er ist ein Frühaufsteher, wie ich. Er wankte schlaftrunken an meinen Schreibtisch, sah kurz darunter und stützte sich dann mit dem Ellenbogen auf die Tischkante, als stünde er an einer Bar.
Sohn I: “What kind of cellar is this?”
Ich: “Bitte was?”
Sohn I: “WHAT KIND OF CELLAR IS THIS?”
Ich: “Was soll das denn heißen?”
Sohn I: “Papa, das ist Englisch. Es heißt: was für ein Keller ist das?”
Ich: “Ja, das war mir schon klar, aber wie kommst du zu dem Satz?”
Sohn I: “Na, aus der Kita. Haben wir da gelernt.”
Ich: “Ein seltsamer Satz.”
Sohn I: “Wieso? Damit kann man doch ganz gut ein Gespräch anfangen?”
Danach geht er ins Wohnzimmer und liest etwas, er ist morgens bemerkenswert pflegeleicht. Die ersten Stunden des Tages verbringt er gerne mit Lektüre. Zwei Stunden später wacht auch Sohn II auf, ein entschlossener, ein geradezu verbissener Langschläfer, ganz die Mutter. Er kommt aus dem Kinderzimmer und trägt ein Holzscheit unter dem Arm, das er gestern draußen gefunden hat. Er hat schon seit langer Zeit eine Leidenschaft für große Holzstücke, die er verblüffend ausdauernd mit sich herumtragen kann und zu denen er eine recht innige Beziehung entwickelt. Erinnerungen an eine gewisse amerikanische Fernsehserie drängen sich auf, er kann sie natürlich noch gar nicht kennen. Das hält den Sohn allerdings nicht davon ab, mit dem Holz zu sprechen.
Er stellt sich neben meinen Schreibtisch, den Blick finster, die Haare zu Berge stehend. Es ist nahezu unmöglich, sich Sohn II am frühen Morgen in einer gut gelaunten Version vorzustellen.Er drückt das Holzscheit an sich und murmelt düster, schwer zu sagen, ob ich gemeint bin oder das Holz. Es dauert eine Weile, bis ich verstehe. wovon er spricht.
Sohn II: “Morgen ist der letzte Tag.”
Ich: “Ach? Und dann?”
Sohn II: “Nichts mehr.”
Ich: “Und wenn danach doch noch ein Tag kommt?”
Sohn II: “Dann ist das der letzte Tag.”
Es ist vielleicht beruhigend zu wissen, dass er letzte Tage schon sehr, sehr oft prognostiziert hat. Wie wir alle wissen, lag er bisher nicht richtig, als Seher kann man ihn wohl nicht durchgehen lassen. Sohn II tätschelt sein Holz und geht ins Wohnzimmer. Er muss den Bruder vom Lesen abhalten, er hat einen ziemlich klaren Sinn für seine Aufgaben im Haushalt. Wie gesagt, man muss nichts erfinden, wenn man Kinder hat. Die Kunst besteht eher darin, sich rechtzeitig Notizen zu machen.
Heute ist Freitag, genießen Sie Ihr Wochenende, es ist in wenigen Stunden erreicht. Wie mir Sohn II soeben mitteilt, wird es das allerletzte Wochenende sein. Rückfragen dazu richten Sie bitte an ein Holzscheit Ihres Vertrauens.
Herzlichen Dank…
… an die Leserin S.F. und ihren Mann T., die den Söhnen die DVD vom Rosaroten Panther geschickt haben – die mich womöglich noch viel mehr freut, als die eigentlichen Empfänger. Wir legen auch dieses Geschenk noch ein paar Tage bis zu den Geburtstagen zurück. “Das ist toll, das mit den Lesern”, wie Sohn I neulich vollkommen uneigennützig bemerkte. Finde ich auch!
Im Automuseum Prototyp
Ich war für meine Kolumne “Kind und Kegel” in der Online-Ausgabe des Hamburg-Führers in einem mir bisher völlig unbekannten Museum. Den Text findet man hier.
August 28, 2013
Woanders – Der Wirtschaftsteil
Haben Sie heute mit den Kollegen schon die immer wieder spannende und hochbrisante Frage diskutiert, ob das Management Ihrer Firma eigentlich noch ganz bei Trost ist? Ob die nicht vielleicht alle Qualm in der Kanzel haben? Falls nicht, holen Sie das ruhig nach. Erst recht, wenn Sie selber in der Führungsetage sind. Warum sollte man denn nicht über die Wahrheit reden?
Und der Wahnsinn im Berufsleben beginnt natürlich nicht mit der ersten Beförderung, nein, das geht schon viel früher los. Getrieben, gezogen, gelockt, schon die jungen Leute opfern sich dem Karrieregott, und das kann man leider ganz wörtlich nehmen. Normal ist das nicht.
Man möchte nach solchen Berichten sofort alles langsamer stellen, zur Besinnung aufrufen, das irre Karussell anhalten. Immer mit der Ruhe! Etwa mit 30 Stundenkilometern, da könnte man glatt noch etwas von Edinburgh lernen.
In aller Ruhe nach Hause fahren, das wäre es doch. Durch die Straßen zuckeln, statt zu rasen. Entspannt sein. Den Job vergessen, das Heim genießen. Und dort dann den Werkzeugkasten vom Großvater entstauben und das tun, was man jahrzehntelang nicht gemacht hat: etwas reparieren. Das fühlt sich nicht nur schräg und retro an, das ist jetzt auch noch hip.
Es ist ein wahnsinnig romantisches Bild, das sich da aufdrängt. Wie man da am frühen Abend in den letzten Sonnenstrahlen vor dem Haus sitzt, das kaputte Spielzeug der Kinder vor sich, der Nachwuchs andächtig wartend daneben. “Der Kätner lehnt zur Tür hinaus, behaglich blinzelnd nach den Bienen. Sein Junge auf dem Stein davor, schnitzt Pfeifen sich aus Kälberrohr” – haben Sie das auch noch in der Schule auswendig gelernt? Ja, das war Storm, genau. Aber egal, Bienen gibt es eh bald sowiesonicht mehr, wenden wir uns wieder der dynamischen Wirklichkeit zu. Es ist Feierabend, die Vögel singen in den ökologisch sinnlosen Rhododendron-Hecken und man schraubt und sägt und merkt endlich wieder den Sinn der Hände, die nicht nur für die Tastatur oder den Touchscreen gemacht sind. Weiter hinten tollt der Hund durch das Bild, wollte sagen durch den Garten – na, oder auch nicht. Aus Umweltschutzgründen könnte man den eventuell gleich wieder streichen.
Anderswo laufen die Hunde übrigens herrenlos herum, etwa in Detroit. Wollen Sie mal eine Zahl raten? Wieviele Hunde laufen da wohl ohne Frauchen oder Herrchen herum? Wahrscheinlich lagen Sie gerade viel zu tief. Damit Sie sich die Hunde besser vorstellen können, denken Sie sich doch noch diese Häuser ins Bild, das passt dann schon. Beeindruckende Bilder vom Niedergang. Nicht in Detroit, aber egal. Anderswo geht es auch abwärts.
Die handwerklich Ungebabten unter Ihnen wollen zum Feierabend vielleicht lieber nicht fluchend und dreckverschmiert an Fahrradketten herumzerren, auch wenn es gerade noch so sehr in Mode ist. Aber auch diese Menschen können sich natürlich sinnvoll beschäftigen. Sie könnten etwa ein paar Kapitel zum Thema Finanzen in einem lehrreichen Buch nachlesen. Das macht nämlich sonst kein Mensch in Deutschland und vielleicht hilft Bildung auch da?
Oder man denkt über die Sinnhaftigkeit des Fairtrade-Siegels nach. Das ist gedankliche Bastelarbeit, und die ist so kompliziert, die kann man sicher gelten lassen.
Wenn das Basteln mit den Händen oder dem Gehirn nach Feierabend aber zu anstrengend ist, dann liegt es vielleicht nur am mangelnden Energienachschub. Da wirft man hierzulange im Sommer erst einmal zwanghaft etwas auf den Grill. Und vergisst vielleicht, wie sehr man auch dabei Teil einer geschlechterrollenkonformen Zielgruppe ist.
Die Zeit, die uns so rasend durch den Alltag schleift, sie wird übrigens auch ganz von selbst wieder langsamer. Aber erst später. Viel, viel später. Das kann man in der FAZ in einem Interview mit einer Hundertjährgen nachlesen. Ein Text, der mit Wirtschaft natürlich überhaupt nichts zu tun hat. Außer dass es auch um Geschwindigkeit geht und man daher sinnig über seine eigene nachdenken kann, womit wir dann doch schon wieder bei Arbeitsprozessen sind. Warum machen wir was wie schnell? Sind wir mit dem Job auch froh, so als schnellste Maus von Mexiko? Und wo führt das eigentlich hin?
Und das lenkt den Blick dann wieder zurück auf die durchgeknallten Banker in London, der zweite Link von oben, die weniger hektischen Teile des Publikums erinnern sich vielleicht noch. Nach solchen Texten findet man oft die ganze Ausrichtung falsch, das System, die Ideologie, alles weist doch irgendwie in die Irre. Alles weist sonstwohin, aber nicht zum Glück, zum Frieden und zur Wohlfahrt. Erreicht man die nicht viel eher über soziale Werte? Oh, Werte. Da kann man also auch wieder etwas nachrechnen, das machen wir dann auch.
Womit wir am Ende unserer kleinen Wochenschau wären. Sie dürfen sich jetzt wieder Ihrem Job widmen. Bevor es zu Entzugserscheinungen kommt.
Der Designlink der Woche wieder einmal zum Thema Architektur. Es geht um die Gestaltung kleiner, sehr kleiner und vollkommen unverzichtbarer Häuschen. Hier entlang zu einer Leistungsschau des Toilettenhäuschendesigns.
Gespräch an der Bettkante
Sohn I: “Papa, weißt du, ich verwechsele mich manchmal mit Superman.”
Ich: “Ach? Das ist ja ein Ding. Passiert mir eher nicht.”
Sohn I: “Ja. Weil nämlich mein Name doch so ähnlich klingt.”
Ich: “Äh, nein. Der ist überhaupt nicht ähnlich. Nicht die Spur.”
Sohn I: “Ach? Nicht?”
Ich: “Nein.”
Sohn I: “Ich dachte.”
Ich: “Tja.”
Sohn I: “Na, der Name muss ja auch nicht ähnlich sein.”
Ich: “Nein, warum sollte man auch Superman heißen.”
Sohn I: “Ja. Man kann ganz anders heißen und sich trotzdem verwechseln.”
Ich: “Was?”
Sohn I: “Hauptsache man kann fliegen.”
August 27, 2013
Gelesen, vorgelesen, gesehen, gespielt und gehört im August
Der Monat neigt sich dem Ende, mehr Bücher werden sicher nicht mehr dazukommen, da kann man also schon einmal die Medienbilanz veröffentlichen. Ich füge die Rubriken “gespielt” und “vorgelesen” neu hinzu, vielleicht interessiert es einige Eltern. Wobei der August noch so beschaffen war, dass die Söhne weitgehend draußen gespielt haben, da steht also sehr wenig.
Gelesen
Robert Gernhardt: Denken wir uns. Das letzte abgeschlossene Werk von Gernhardt, ein Band mit Erzählungen. Und obwohl ich seit vielen Jahren ein Verehrer von Gernhardt bin – wie sollte man auch keiner sein – sagt mir dieses Buch rein gar nichts. Der altbekannte und sehr gemochte Tonfall, aber inhaltlich wohl gerade zu weit von mir weg. Ging nicht, wieder weggelegt. Vielleicht später.
Daniel Kehlmann: “Ruhm”. Ein Buch, in dessen Klappentext diverse wohlklingende Superlative aus großkalibrigen deutschen Feuilletons zitiert werden. Sagen wir es diplomatisch: Es ist mir nicht gelungen, eine sinnige Verbindung zwischen diesen Zitaten und dem Inhalt des Buches zu finden. Siehe dazu auch diese Rezension. “Blutleer” war das Wort, was ich auch verwendet hätte. Ging auch nicht, wieder weggelegt.
Daniel Kehlmann: “Lob – Über Literatur”. Fand ich interessant und gut lesbar, auch wenn mir jetzt klar ist, dass Kehlmann zu jener anderen Sorte Mensch gehört, mit der ich oft nicht recht klarkomme. Sie wissen schon, diese charakterlich vollkommen anders entwickelten Typen, mit denen man sich in der Regel nur schwer verständigen kann? Die Thomas-Bernhard-Leser? Aber egal. Schöne Texte über Capote, King, Goldt, die Themen haben meinen Bücher-Wunschzettel bereichert. Wieso habe ich z.B. den Sammelband mit den Capote-Reportagen nicht? Zustände sind das! Schlimm. Auch zwei interessante Poetik-Vorlesungen enthalten, worinnen einiges zur Vermessung der Welt zu finden ist.
Daniel Kehlmann: “Wo ist Carlos Montúfar?” Ein Buch über Bücher. Je nachdem, ob man die Bücher kennt, über die Kehlmann da schreibt, ist das mal mehr und mal weniger interessant, das liegt aber am Leser, nicht an Kehlmann. Unschuld, wem Unschuld gebührt. Ich fand vieles interessant. Er ist ungeheuer kenntnisreich, der Kehlmann, was ihn leider stilistisch ein wenig ins Oberschlaue treibt, aber egal. Die Krankheit überkam bisher noch jeden, der deutsche Sekundärliteratur schrieb.
Arno Geiger: “Der alte König in seinem Exil”. Das haben natürlich längst alle gelesen und auch längst alle gut gefunden und das verstehe ich jetzt auch. So ein schönes Buch. Respektvoll, das Wort wird ja in den Rezensionen geradezu gebetsmühlenartig wiederholt, aber was soll man machen, das ist es eben, ein wirklich respektvolles Buch. Aber auch sprachlich wunderbar, man verliebt sich sofort in die Sätze des dementen Vaters, Formulierungen von ganz seltsamer Schönheit. Wirklich lesenswert. Als die Herzdame vor vielen Jahren ihr freiwilliges soziales Jahr in einem Altenheim absolvierte, gab es dort zwei demente Bewohnerinnen. Die eine wiederholte immer wieder den Satz: “Ach nein, ach nein, ach muss es denn ein Flüchtling sein.” Die andere murmelte fortwährend “Aushalten, Maul halten, durchhalten” vor sich hin. Immer gut, diesen Menschen auch zuzuhören.
Leo Tolstoi: “Anna Karenina”. Deutsch von Hermann Röhl. Ich weiß, dass es eine vielgepriesene Neu-Übersetzung gibt, aber diese alte Version lag hier gerade herum. Ich wollte das aber auch gar nicht lesen, das ist viel zu dick, ich habe keine Zeit für so etwas. Ich wollte nur eben nachsehen, welcher Satz eigentlich nach dem berühmten ersten Satz kommt, Sie wissen schon, der mit den glücklichen und unglücklichen Familien. Und dann bin ich am ersten Kapitel hängengeblieben wie an Fliegenleim. Tatsächlich versteht man nach zehn Seiten schon, warum das Buch in praktisch allen Listen mit den wichtigsten Werken der Weltliteratur, der besten Romane, der beliebtesten Büchern etc. vorkommt. Man liest es und fühlt ein Mysterium. Da wacht ein Mann auf einem Sofa auf, er schläft aus guten Gründen nicht im Schlafzimmer neben seiner Frau, und nach ein paar Absätzen fühlt man seine Gegenwart, sieht das Zimmer, hört seine Schritte. Es ist geradezu unheimlich. Unheimlich gut.
Josef Heinrich Darchinger: “Wirtschaftswunder – Deutschland nach dem Krieg” (Text: Klaus Honnef). Das ist ein Bildband aus dem Taschenverlag, ein Spontankauf am Bahnhof. Die Bilder faszinieren mich. Zum einen, weil ich gerade viel über die Vorgeschichte ihrer Entstehungszeit lese, zum anderen auch, weil ich die Reste der hier dargestellten Möbel, Autos, Moden etc. noch selbst gesehen habe. Weil es einzelne Dinge in dem Buch gibt, die es in meiner Kindheit noch so gab. Manches Verpackungsdesign, manche Optik von bestimmten Läden, von Automaten. Ich habe natürlich nur die allerletzten Reste davon gesehen, aber doch, es gibt so einen kleinen Bereich von Vertrautheit mit den Bildern. Diese mit bunten Plastikstrippen bespannten Gartenstühle etwa, diese Hinterhofläden mit dem minimalistischen Angebot, die Waagen beim Schlachter… Man fühlt sich als Kind der Sechziger heillos alt, wenn man solche Bilder betrachtet.
Walter Kempowski, Echolot – “Barbarossa 41, Ein kollektives Tagebuch”. Das Buch erwähne ich schon seit Monaten und nun habe ich es endlich, endlich durchgelesen. Das ist mit Abstand, mit wirklich deutlichem Anstand das grauenvollste Buch, das ich je gelesen habe. Und eines der lehrreichsten. Ein Buch, nach dem man nicht mehr schlafen kann oder nur mit finstersten Träumen von tausend Todesarten, ein Buch, das einen tagelang nicht loslässt, das einen belastet und belagert. Ein ungeheuer wichtiges Buch. Kaum zu schaffen, kaum zu bewältigen. was für eine monströse und dankenswerte Arbeit, so etwas zusammenzustellen. Auf die denkbar brutalste Art informativ. Wenn man nur ein einziges Buch über den Zweiten Weltkrieg liest, sollte man wohl dieses wählen, deutlicher kann die Zeit kaum werden. Es lässt einen vollkommen ratlos zurück. Und das ist sicher angemessen.
Walter Kempowski: “Umgang mit Größen – meine Lieblingsdichter und andere”. Das war für mich der Lesespaß des Monats, amüsant und schnell. Sehr subjektive, höchst unfaire und teils boshafte, teils abgründig humorige Kurzporträts bekannter Dichter, von Laurence Sterne bis Konsalik. Mit eher dünnen und ziemlich willkürlich anmutenden biographischen Details, betont ungerechten Anmerkungen zur Physiognomie, die teils zu vernichtenden Urteilen führen und eher wenig tiefschürfenden Aussagen zum Werk: “Ich habe das nie lesen können.” Kempowski versucht nicht, sich oberschlau zu geben, hat keinen gelehrten Tonfall, gibt nicht an und trägt nicht dick auf. Man liest bei der Schilderung mancher Preisträger seinen Neid auf die tatsächlich oder vermeintlich erfolgreicheren Dichter, es ist ein sehr menschliches Buch und es macht Lust auf andere Bücher, auf andere Autoren. Kann ich empfehlen. Gut geeignet für zwischendurch, die Texte sind alle sehr kurz.
Dr. med Kinderdok: “Babyrotz und Elternschiss”. Das ist der Kinderdoc vom Blog, viele Eltern werden das kennen. Eine sehr ansprechende Beschreibung seines Berufsalltag, informativ, unterhaltsam, lehrreich. Über Mangel an Humor kann man auch nicht klagen, allein die Schilderung der Blutabnahme bei einem Vierjährigen ist feinster Slapstick. Das ist also ein hervorragendes Geschenk für Eltern und Schwangere, davon sollten Sie reichlich Gebrauch machen, es ist ja bald Weihnachten. Der Herr Kinderdoc ist, bitte beachten Sie das, für Impfungen und gegen Globuli, damit kann man also beim esoterisch angehauchten Publikum eher nicht landen. Besser, man weiß so etwas vorher, sonst kommt es womöglich zu tragischen Szenen im Freundeskreis, bei dem Thema geht es meist emotional hoch her ud Impfgegner sind nach meiner Erfahrung oft nicht gerade auffallend humorbegabt. Der Doc vertritt seine Standpunkte übrigens plausibel, nachvollziehbar und ohne Hasstiraden, das ist bei dem Thema keineswegs selbsverständlich und schon für sich eine Leistung. Das Buch hat viel mit gesundem Menschenverstand zu tun und ich glaube, dass man den Beruf nach der Lektüre deutlich besser versteht.
Uwe Timm: “Vogelweide”. Ein neuer Versuch mit Uwe Timm, dem ich sein Buch “Freitisch” vor einiger Zeit etwas übel genommen habe, weil es von vorne bis hinten so klang, als hätte er es maßgeschneidert für den Lehrplan der gymnasialen Oberstufe geschrieben. So viel bundesdeutsche Geschichte, so viel Kulturgeschichte, so hölzerne Figuren – furchtbar. Nun also ein Liebesroman, der damit beginnt, dass ein älterer Mann als Vogelwart auf einer Nordseeinsel haust, sehr allein. Er erhält einen Anruf, seine ehemalige Geliebte kündigt sich an, die er seit einer dramatischen Trennung vor etlichen Jahren nicht mehr gesprochen hat. Er sieht auf die Wellen und erinnert sich an die gemeinsame Zeit…. Doch, das ist ein guter Romananfang im Frühherbst. Das lese ich dann mal für den Rest des Monats. Und bevor wieder jemand protestiert: für Menschen, die Herbst mögen, ist jetzt Frühherbst. Doch, doch.
Vorgelesen
Werner Holzwarth (Text) und Wolf Erlbruch (Bilder): “Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat”. Das ist wohl mittlerweile ein Klassiker und außerdem gerade das Lieblingsbuch von Sohn II, der es jeden Abend hören kann. Es hätte sehr viel schlimmer kommen können, denn dieses Buch macht Spaß.
Gebrüder Grimm: “Rumpelstilzchen”. Aus irgendeinem Grund fasziniert dieses Märchen Sohn I am meisten und wird rege nachgefragt, womöglich liegt es am Naturell seines kleinen Bruders.
Richard Scarry: “Mein allerschönsts Wörterbuch – Deutsch – Englisch – Französisch”. Das kommt noch aus der Kindheit der Herzdame, ein sehr zerlesenes Buch. Und ich glaube, das gab es in meiner Kindheit auch in ganz ähnlicher Form. Ich kann mich aber nicht genau erinnern, nur so ungefähr, irgendwas war anders, aber ich komme nicht darauf. Denke aber dauernd, darauf kommen zu müssen, vielleicht gleich, nach der nächsten Seite oder bei der nächsten Figur, dem nächsten Satz – und dann scheitere ich doch wieder an der Erinnerung. Das Buch macht mich wahnsinnig. Aber egal. Das da ist ein X, wie Xylophon…
Marvel Comics: “Die Spinne im Kampf mit dem Grünen Kobold”. Vor einiger Zeit tauchten auf dem Dachboden meiner Mutter alte Comichefte aus meiner Kindheit auf (DM 1,70 pro Heft), ein ziemlich großer Stapel sogar. Superman, Batman, Spiderman und so weiter, die ganze Pracht von damals, Sonderhefte ohne Ende. Die blättert Sohn I mit Hingabe wieder und wieder durch und nach langem Gebettel habe ich jetzt angefangen, ihm eines der Hefte vorzulesen. Eine fatal schwere Angelegenheit. Was man für diese Comics an Hintergrundwissen braucht, das merkt man erst, wenn man sie kleinen Kindern vorlesen soll. Erstes Bild, ein Verbrechersyndikat tagt – ein was? Sie wollen die Stadt unter sich aufteilen – aber wie? Warum? Wie geht das? Und wer regiert sonst in der Stadt? Wo ist die Stadt? Wie weit ist Amerika? Kann man dahin? Dann doch schnell gewechselt zu einem Batman-Band, der beginnt aber mit einer Zeitreise in den Unabhängigkeitskrieg, da geht es um Florence Nightingale – in welchen Krieg? Wer gegen wen? Wann? Wieder in Amerika? Warum? Wer ist die Frau? Jedes Bild gebiert zehn Fragen, jede Sprechblase erfordert eine ganze Latte von Anmerkungen und Verweisen, es ist abenteuerlich. Zurück zu Spiderman und dem Grünen Kobold. Sohn I freut sich und ich rede mir einen Wolf. Wir sind auf Seite 12. Nach einer Woche.
Gespielt
Real Racing II - hier im iTunes-Store. Nachdem Sohn I im Automuseum Prototyp einen Fahrsimulator erlebt hat (Bericht dazu in Kürze auf diesem Sender), musste er unbedingt so eine App haben. Es ist gar nicht einfach, ein passendes Renn-Spiel für Kinder zu finden, in dem man nicht alle paar Meter auf der Rennstrecke bei einem In-App-Kauf landet oder die Grafik grottenschlecht ist oder alles zu gewalttätig und unfallbetont. Bei Real Racing II kann er in Frieden seine Runden drehen, das sieht gut aus, der Lärmpegel ist gut zu regeln und die Autos lassen sich tatsächlich gut steuern. Ich bin weiterhin gegen jeglichen Spielspaß anscheinend immun, daran ändert auch Real Racing nichts, aber das ist nett gemacht, keine Frage.
Gesehen
Ich habe schon wieder keinen einzigen Film geschafft. Schlimm! Nicht einmal eine Kinderserie mitbekommen, ich glaube, ich hatte eine Menge Arbeit im August. Doch, so muss es gewesen sein.
Gehört
Nichts. Keine Hörbücher jedenfalls. Dafür sehr viel Swing-Musik. Alte und neue, also Electro-Swing, das ist wirklich gute Arbeitsmusik. Pink Martini, die sind in ähnlicher Richtung, das geht sehr gut zum Schreiben. Die sind in Kürze übrigens in Hamburg auf der Bühne, da könnte man glatt hingehen. Aber man kommt ja zu nix.
Herzlichen Dank!
An die Leserin I.G., die den Söhnen “Die Brüder Löwenherz” von Astrid Lindgren geschickt hat. Ein wirklich unentbehrliches Kinderbuch, das mich damals ungeheuer beeindruckt hat. Eines der wenigen Kinderbücher, dessen Handlung mir noch komplett erinnerlich ist. Wir legen das Buch noch ein paar Tage bis zu den Geburtstagen zurück.
August 26, 2013
Kurz und klein
Gehe gleich mit einem Papa Bier trinken und dann tauschen wir uns über Hipster-Serien wie „Lauras Stern“ und „Bob der Baumeister“ aus.
— Gebbi Gibson (@GebbiGibson) August 6, 2013
Ich bin ein Kleinstadt-Kind. Die Enttäuschung, dass Motorradpolizisten in der Großstadt oft nicht als 12er Pyramide fahren, nagt bis heute.
— Peter Breuer (@peterbreuer) August 6, 2013
Eis: 0,90 €, Karussell: 2 €, die Frau beim Kinderschminken anrempeln, damit das Nachbarkind nicht schöner wird als das eigene: unbezahlbar.
— Schisslaweng (@Schisslaweng) August 4, 2013
Brülle ins Kinderzimmer: WER BEI 3 NICH AUSM BETT IST, BEI DESSEN KLASSENFAHRT MELDE ICH MICH FREIWILLIG ALS BETREUER.
— Dezemberglueck (@Dezemberglueck) August 7, 2013
“Es gibt keine vernünftigen Kinderhosen, nur so Schickimicki-Scheiss! Und warum habe ich kein Chanel Lipgloss?” – Töchterchen im Rage-Mode.
— Nico Lumma (@Nico) August 10, 2013
Neue Möglichkeiten zum Wahnsinnigwerden entdeckt: Kind premieresk per Zug auf Reisen schicken + online zukünftige Verspätungen tracken.
— Pia Ziefle (@FrauZiefle) August 12, 2013
Alle 150 Büroklammern in der Schachtel sind eine zusammenhängende Kette #lebenmitkindern
— Melody (@botenstoff) August 12, 2013
Die Wahrheit ist doch die: Die Kinder haben den Spaß in ihrer ersten Schulstunde und die Eltern wimmern in den Autos.
— Schisslaweng (@Schisslaweng) August 12, 2013
“Sag mal den Kindern Bescheid. Es gibt Frühstück.” “Nein! Dann kommen die doch!”
— Dare Dackel (@teckelclub) August 12, 2013
Bitte bei 1.Schultag-Tweets das Bundesland dazuschreiben! Ihr verursacht mir sonst Kreislauf.
— Pia Ziefle (@FrauZiefle) August 12, 2013
Sohn I muss erst noch ein Pflaster abmachen. Der Rest des Tages verzögert sich daher um etwa zwei Stunden.Wir bitten um Verständnis.
— Max. Buddenbohm (@Buddenbohm) August 13, 2013
Ich glaube nicht, dass Kindererziehung ohne das Wort ‘Menno!’ möglich ist.
— Call me Cat! (@twittschicat) August 13, 2013
Für Sie getestet: In einen Kinderschuh Größe 22 passen • 1 Fuß • 53 g Sand • 2 spitze Kiesel • 1 Stück Brezel
— Frollein_van_B (@Frollein_van_B) August 13, 2013
“Mama, wer hat die Lampe gebaut?” “Das weiß ich nicht.” “Soso. Dasweißichnich hat die gebaut.” Sie wird mal eine furchtbare Klugscheißerin.
— Sursulapitschi (@schurrimurri) August 13, 2013
“Du hast ja Darth Maul auf dem T-Shirt.” “Darth Vader.” “Orrr, das ist doch das Gleiche.” Kind2(6), günstig abzugeben, leichte Mängel.
— Rockonardo da Vinci (@rock_galore) August 13, 2013
Genervte Mutter: “Welchen Sinn hat es denn ständig auf den Stuhl zu hauen?” “Keinen. Warum brauchst du immer Sinn, Mama?”
— p47r1c14 c4mm4r474 (@dasnuf) August 13, 2013
Eine Mutter (Name der Redaktion bekannt) hat heute mehrere echte Wettrennen gegen ihren vierjährigen Sohn verloren.
— Sven (@svensonsan) July 31, 2013
Kinder wollen nach Hause. Ich geh aber erst wieder rein, wenn wirklich alle Nachbarn gesehen haben, dass ich draußen war.
— Pia Ziefle (@FrauZiefle) August 12, 2013
Wenn meine Kinder irgendwann raus finden, dass gar nichts Schlimmes passiert, wenn ich drohend bis 3 gezählt habe, bin ich am Arsch.
— mirili (@diepebbs) August 14, 2013
Sohn (5) wedelt zaghaft mit Knäckebrot in Richtung einer 80 Meter entfernten Ente und flüstert “Komm kleiner Schatz” Flirtet exakt wie ich.
— lale disaster. (@prinzessin_lale) August 12, 2013
Wie Kinder blitzartig lesen lernen? “Du darfst nur das klicken, was du lesen kannst. Basta.”
— Pia Ziefle (@FrauZiefle) August 15, 2013
Mutti rennt #morgenfilme
— Madame de Larenzow (@Larenzow) August 15, 2013
“Und? Hattet ihr heute Kunst?” Kind 2.0:”Ne leider nicht. Wir haben nur gemalt.”
— p47r1c14 c4mm4r474 (@dasnuf) August 16, 2013
Zahnarzttermine mit den Kindern: ich sitze allein im Wartezimmer und starre auf ein Aquarium. Wöchentlich wäre toll.
— Journelle (@journelle) August 16, 2013
Der Unterschied zwischen HEIIISS und KAAAALT im Empfinden der Kinder beim Duschen ist mit den heute bekannten Messgeräten nicht erfassbar.
— p47r1c14 c4mm4r474 (@dasnuf) August 17, 2013
Alles was man einer Dreijährigen nicht erklären kann, ist Unsinn.
— Hasehase (@MadamGaehn) August 17, 2013
Feuerwehrbuch, Feuerwache. Sohn: “EINSATZ, Tatüü, tataa!” Tochter: “Und wo ist die Küche?” Hm.
— Madame de Larenzow (@Larenzow) August 18, 2013
der kleine Mensch rennt im Garten rum und steckt mir Beeren in den Mund. ich hoffe es sind Beeren.
— M¡m¡m¡l¡sta (@theheadnurse) August 18, 2013
Mir ist nach Fenster aufreißen & schreien: “MEINE KINDER SCHLAFEN SCHON NÄNÄNÄÄÄ NÄÄÄ!”
— p47r1c14 c4mm4r474 (@dasnuf) August 18, 2013
“Wenn das Haushaltsgeld uns allen gehört, warum kauft ihr davon nie ein Heft für mich, sondern immer nur so unnütze Sachen wie Essen?”
— Kristina Kaul (@tinakaul) August 24, 2013
Tochter mit “Guten Morgen, Schatzilein” wecken. – Ihr 6.15-Blick und “Was kommt als nächstes? Erzählst Du mir, dass ich adoptiert bin?”
— Binnewies_ (@Binnewies_) August 26, 2013
Ich erkenne an den Schuhen den Nervgrad der Mütter.
— Nico Lumma (@Nico) August 26, 2013
Von liegendem Wischmopp abgerutscht, über Kommode in Legokisten gefallen. Die Kinder: “MANN! Jetzt hast du voll alles kaputt gemacht!!!”
— p47r1c14 c4mm4r474 (@dasnuf) August 26, 2013
Egal, wie alt oder cool du bist: Wenn dich ein Kind dabei erwischt, wie du bei rot die Strasse überquerst, lässt du dich überfahren.
— prunio (@prunio) July 8, 2013
August 25, 2013
Blümchen II
Sohn II hat also tatsächlich Blümchen gestreut. Wir haben, damit die Braut nicht Helm tragen musste, aus Sicherheitsgründen allerdings auf einem Behältnis aus Stoff bestanden. Es gab auch tatsächlich keine Verletzten, die Blümchen landeten korrekt auf dem Boden, es lief alles ganz mustergültig. Obwohl es etwas schwierig begann. Und das kam so.
Sohn II hatte sich, wie wir auf dem Weg zur Hochzeit merkten, hauptsächlich durch die Aussicht auf das schöne Kleid der Braut dazu motivieren lassen, ihr bei der Hochzeit dienlich zu sein. Schöne Kleider, schöne Frauen, da ist er immer interessiert, dafür kann man ruhig einmal etwas tun, findet er. Zumal eine seiner Freundinnen gerade explizite Heiratspläne hat (“wir heiraten und dann kaufst du uns so ein schönes Haus an der Alster”), da könnte so eine Hochzeit ja auch zur Weiterbildung beitragen, vermutete er. Er war wirklich sehr neugierig. Wir saßen in der S-Bahn nach Sankt Pauli und er fragte schon wieder nach dem Kleid, wie das denn nun aussehen würde, wie denn ganz genau, mit Perlen, mit Rosen, mit Schleier, mit Schleppe? Und da fiel mir erst ein, dass bei einer Hochzeit auf Sankt Pauli, bei der zwei sehr engagierte Sankt-Pauli-Fans heiraten, das mit dem schönen Kleid vielleicht ein falsches Versprechen war. Immerhin gibt es im Umfeld des Vereins ein ganz eigenes Schönheitsideal, zu dem nicht gerade weiße, wallende Brautkleider gehören. Ich fragte die Herzdame daher flüsternd, ob ihre Freundin eigentlich in einem Kleid oder etwa in Jeans heiraten würde. Sie wusste es nicht. Mir wurde etwas mulmig. “Ist das Kleid denn auch richtig, richtig schön?” fragte Sohn II. “Bestimmt”, sagte ich. Manchmal muss man auf Risiko spielen.
Wir saßen in der Kirche. Und während ich mich noch wunderte, dass es in der Kirche keine alten Bänke, sondern nur schlichte Stühle gab, kam das Brautpaar schon herein und sie trug ein weißes Kleid, hatte Blumen im Haar und der Sohn machte “oh”. Sie ging an uns vorbei, das Kleid war am Rücken durchbrochen, Strass glitzerte über den freien Stellen, lichtes Gefunkel über ihren Schultern. Blumen in ihren Händen, sie lächelte uns im Vorbeigehen zu und der Sohn hauchte “Oh, die ist sehr schön”. Manchmal muss man etwas Glück haben.
Dann folgte der Gottesdienst, der natürlich für die Söhne nicht allzu spannend war. Langweiliges Gerede, langweiliges Gesinge, Aufstehen, Hinsetzen, Beten, Aufstehen – oder in welcher Reihenfolge auch immer, ich kenne mich da nicht aus. Fürbitten, Gitarrensolo, Trauzeremonie, das nahm und nahm kein Ende, zumindest nicht aus Sicht der Kinder, deren Augen immer kleiner wurden. Bis der Pastor irgendwann zur Gemeinde sagte: “… und wenn sie jetzt da oben einmal zum Kreuz schauen wollen…” und er zeigte nach oben, wo in unserem Rücken, vor der Orgel, die Jesusfigur hing. Und die ganze Gemeinde drehte weisungsgemäß die Köpfe, “… dann sehen sie da eine Wäscheleine.”
Das belebte sowohl die Söhne als auch die Hochzeitsgemeinde, die bei dem Satzanfang wahrscheinlich mit irgendeinem langweiligen Gleichnis gerechnet hatte. Es war aber eine wirkliche Wäscheleine, mit wirklicher Wäsche, die da hing. “Denn wir haben”, sagte der Pastor, “in dieser Kirche jede Nacht achtzig Gäste, die hier schlafen. Gäste aus Afrika, sie haben vielleicht in den Zeitungen davon gelesen. In den Medien nennt man sie Flüchtlinge, ich möchte sie aber doch lieber Gäste nennen. Da oben hängt ihre Wäsche.” Ich habe mit der Kirche so gut wie nie etwas zu tun, aber manchmal schätze ich sie doch ganz spontan sehr.
Und der Pastor erzählte etwas von der Situation der jungen Afrikaner, die seit Wochen vor der Kirche campieren und nachts darin schlafen, wobei es dann natürlich praktisch ist, dass man die Stühle einfach wegtragen kann. Auch vor der Kirche hängt Wäsche, es ist ein belebtes und von Bedrängten umlagertes Gebäude. Und als die Orgel beim Hinausgehen des Brautpaares “You’ll never walk alone” spielte, konnte man das auf vielfältige Weise deuten. Es gibt vieles an Sankt Pauli, das ich sympathisch finde.
Sohn II streute Blumen. Er machte alles ganz richtig und zum richtigen Zeitpunkt. Sogar mit einem liebenswürdigen Lächeln im Gesicht. Es war überaus verblüffend und es dauerte über eine Stunde, bis die Herzdame und ich merkten, dass er damit sein gutes Benehmen wahrscheinlich auf Wochen hinaus aufgebraucht hat. Der Rest des Tages war dann ein wenig anstrengend. Anstrengend im Sinne von: eine Mutter-Vater-ohne-Kind-Kur wäre jetzt auch nicht schlecht. Aber egal! Die Pflicht wurde erfüllt.
Die Blumen waren gestreut, das Körbchen war leer, Sohn II setzte es sich also als Helm auf, das war natürlich besser, als es sinnlos am Arm herumzutragen, wer würde das nicht verstehen. Er sah zwar etwas seltsam aus, aber okay. Man kann nicht alles haben. Er war in der richtigen Minute fotogen gewesen, mehr konnte man wirklich nicht erwarten. Immerhin war es im Nachhinein doch sehr gut, dass er der Blumenjunge war und nicht nicht etwa Sohn I. Der hatte nämlich seinen plötzlichen Anfall von schwerer Schüchternheit, der ihn quartalsweise einmal ereilt. Weswegen er sich ebenfalls unter eine etwas spezielle Kopfbedeckung flüchtete. Als Blumenjunge hätte er damit doch etwas seltsam ausgesehen, nehme ich an.
Auf den Gruppenfotos wird man die Söhne auch in etlichen Jahren noch leicht als “die beiden mit den Dingern auf dem Kopf” erkennen können.
Hauptsache, man bleibt in Erinnerung.
Zwischendurch…
… herzlichen Dank an die Leserin F.S. , die den Söhnen gerade “Konrad oder das Kind aus der Konservenbüchse” als Hörspiel geschickt hat. Wir legen das noch eine Woche zurück, bis zum Ernstfall zu den Geburtstagen der beiden.
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