Axel Hacke's Blog, page 6

November 4, 2022

Hans Woller, Mussolini. Der erste Faschist.  C.H. Beck

Bis zur Olivenernte war ich heuer viel in Italien. Da konnte das große Erschrecken über die italienische Politik nicht ausbleiben. Als Deutscher halte ich mich immer sehr zurück, wenn es um dieses Thema geht, ich möchte nicht belehrend oder besserwissend erscheinen. Andererseits sind meine italienischen Freunde selbst sehr erschrocken gewesen über das letzte Wahlergebnis, das unter anderem zur Wahl eines bekennenden Mussolini-Anhängers ins zweithöchste Amt des Staates, das des Senatspräsidenten geführt hat. Der Mann heißt Ignazio Benito La Russa, beherbergt in seiner Mailänder Privatwohnung etliche Mussolini-Devotionalien, die er Besuchern auch gerne vorführt, und zeigte 2017 im Parlament den sogenannten Römischen Gruß, in Italien das Pendant zum Hitlergruß.

Im Oktober habe ich deshalb endlich Hans Wollers bei C.H. Beck erschienene Mussolini-Biographie gelesen: Mussolini. Der erste Faschist. Woller war lange Chefredakteur der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, arbeitete in den achtziger Jahren am Deutschen Historischen Institut in Rom und schrieb einiges über die italienische Geschichte. Vor einigen Jahren veröffentlichte er ein vorzügliches Buch über das Leben des Fußballers Gerd Müller, gerade erst kam Jagdszenen aus Niederthann heraus, die Rekonstruktion eines rassistischen Verbrechens in einem oberbayerischen Dorf in den siebziger Jahren.

Woller zeichnet ein sehr differenziertes Porträt des Duce, der bis heute in Italien Gegenstand etlicher Legenden ist. (Wobei nicht vergessen werden sollte, dass Italien auch eine großartige Geschichte der Resistenza, des Widerstands gegen den Faschismus, hat!) Seine Schandtaten und die seines Regimes wurden nie angemessen gesühnt oder auch nur breit thematisiert: Giftgaseinsätze in Libyen, Kriegsverbrechen in Jugoslawien, das Aushungern der Bevölkerung in Griechenland, Massenmorde in Abessinien, der brutale Antisemitismus. Nein, der Rassist Mussolini, dessen Milizen in den Jahren 1919 bis 1922 Tausende von Italienern ermordeten, ist  bis heute mancherorts Gegenstand der Verehrung, nicht nur in seinem Geburtsort Predappio. In nicht wenigen Souvenirshops im Lande kann man sein Bildchen käuflich erwerben, und viele tun das wohl auch.

Vielleicht müsste allerdings das Schlusskapitel des Buches, 2014 verfasst, heute überarbeitet werden. Woller schrieb damals: „Namentlich die Gefahr einer Renaissance des Faschismus ist heute gering.“ Und auch: „Mittlerweile ist das parteipolitische Kapital des Neofaschismus fast restlos aufgebraucht.“

Könnte sein, dass man das heute anders beurteilen muss.

Hans Woller, Mussolini. Der erste Faschist.  C.H. Beck, 26,95 EUR

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Published on November 04, 2022 01:23

October 30, 2022

Aus der Bürobibliothek

Vor langer Zeit habe ich Hackes Tierleben geschrieben, Michael Sowa hat das Buch damals illustriert, und wegen seiner Bilder liebe ich es sehr, weil es so schön ist. Vor drei Jahren hat es der Kunstmann-Verlag in einer großformatigen Ausgabe noch einmal neu herausgebracht, ich bin darüber immer noch begeistert. (Was ich bei meinen eigenen Büchern sonst eigentlich nie bin.)

Als ich an dem Buch arbeitete, benötigte ich jederzeit raschen Zugriff auf zoologische Literatur aller Art. Deshalb ist die Abteilung Tierliteratur über die Jahrzehnte hinweg eine der umfang- und reichhaltigsten in meinen Büroregalen geworden, zumal das Thema Das Tier und wir auch in den Kolumnen immer wieder eine Rolle spielt.

Eines meiner Lieblingsbücher ist W. Liebeskinds 1911 erschienenes Werk Die Nutz- und Sportgeflügelzucht mit dem schönen Untertitel Beschreibung der Rassemerkmale nebst Anleitung zur rationellen Haltung und Zucht der Hühner, Truthühner, Perlhühner, Gänse, Enten, des Ziergeflügels, der Pfauen, Fasanen, Schwäne, sowie der Tauben …

Uff! War’s das? Also, der Untertitel? Ja, das war’s.

Allein schon die Lektüre des Inhaltsverzeichnisses verspricht höchstes Vergnügen, zumal in Zeiten, in denen das eigene Huhn gerade wieder schwer in Mode ist, selbst Tagesschau-Sprecherinnen schreiben ja heute Bücher über ihre Hühnerzucht. Was uns Laien gemeinhin einfach als Huhn unters Auge tritt, wird hier aufgeteilt in ungezählte Rassen, als da zum Beispiel wären: Englisches Kampfhuhn und Deutsches Reichshuhn, Weißwangige Spanier und Bergische Kräher, auch den Siebenbürger Nackthals wollen wir nicht vergessen. Es sind die Vielfalt im Verborgenen und die Hingabe an das Entlegene, um die es hier geht, auch um die Freude am Speziellen, und als ich für mein Deutschlandalbum vor vielen Jahren eine Reportage über Hühnerzucht in Thüringen schrieb, war mir das Werk einmal mehr von größtem Nutzen.

Wobei es auch immer wieder schön ist, sich die sprachliche Umständlichkeit, in der noch vor gut hundert Jahren solche Bücher geschrieben wurden, zu Gemüte zu führen. Welch ein Kontrast zu unserer heutigen Zack-Zack-Sprache! Und welche Formulierungsliebe steckt doch in diesen Texten, auch noch in der umstandslosen Abrechnung mit zwei Hühnerrassen, die heute selbst Spezialisten kaum noch ein Begriff sein werden, Strupphühner und Bergische Schlotterkämme.

Hier zwei Sätze aus dem Werk, die mich immer wieder freuen, der eine also über das erwähnte Strupphuhn: „Als gute Leger sind die Strupphühner nicht zu bezeichnen und ebensowenig halten sie etwa an sie herantretenden Witterungseinflüssen, sowohl bei Aufzucht als im Alter stand, so daß auch diese Eigenschaften mit dazu beitragen, dem schon durch sein Aussehen nicht allzu beliebten Huhn wenig Freunde zuzuführen.“

Wenig Freunde zuzuführen … Wie dauert einen das arme, arme Strupphuhn in diesem Moment!

Der andere Satz betrifft die Bergischen Schlotterkämme: „Eine mit den bergischen Schlotterkämmen in engster Beziehung stehende Varietät, unter der Bezeichnung bergisches Kuckuckshuhn, wurde in früheren Jahren öfters erwähnt, gegenwärtig hört man von derselben nichts mehr.“

Wie lange das nachklingt, nicht wahr?

Gegenwärtig hört man von derselben nichts mehr …

So wird es über die meisten von uns einmal heißen: Gegenwärtig hört man vom demselben nichts mehr …

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Published on October 30, 2022 06:27

October 2, 2022

Christian Zaschke, Hell’s Kitchen – Stories aus Manhattan, Ullstein

Von Christian Zaschke habe ich schon immer alles gelesen, was ich kriegen konnte, früher seine Sportreportagen, später seine Geschichten und Kolumnen aus London, heute das, was er aus New York berichtet. Zaschke hat einen ganz besonderen Ton, heiter, entspannt, witzig, melancholisch, immer eindeutig, wenn es um Donald Trump und die Knallchargen in seinem Gefolge geht, und sehr menschenfreundlich, wenn es um all die anderen Leute in den USA geht, die seine Freundlichkeit verdienen. 

In Manhattan wohnt er im 17. Stock eines ehemaligen Schwesternwohnheims im Stadtteil Hell’s Kitchen, wo ich auch noch nie war. (Aber das gilt für die meisten Orte der Welt.) Aus seinem Apartment dort hat er lange in einer wöchentlichen Kolumne für eine gewisse Süddeutsche Zeitung berichtet, die erstens aus unerklärlichen Gründen in diesem Blatt ziemlich kunstvoll versteckt war und zweitens aus noch viel unerklärlicheren Gründen irgendwann eingestellt wurde. 

Aber nun erscheinen die Texte gesammelt im Buch. Und wer noch nie etwas von Zaschkes Friseur Robert gehört hat, der mit zitternden Händen jeden Haarschnitt zu ruinieren versteht, wer nichts von der exzellenten Schrottbar namens Rudy’s weiß, und wer keinen Schimmer hat, wie der Hausmeister Giovanni Colon tickt, dessen Name sich, je nachdem, wie man gerade auf ihn zu sprechen ist, mit Johannes Doppelpunkt oder Johannes Dickdarm übersetzen lässt, wer also dermaßen kenntnislos ist, dass er all diese höchst unterhaltsamen Geschichten aus Zaschkes Mikrokosmos nicht kennt – dem gratuliere ich herzlich. 

Er hat ein wunderbares Lese-Erlebnis vor sich. 

Allen anderen gratuliere ich auch. Sie können diese herrlichen Miniaturen nun noch einmal lesen, nicht Woche für Woche, sondern wann immer sie möchten. 

Und das wird, da bin ich sicher, sehr oft sein.  

Christian Zaschke, Hell’s Kitchen, Stories aus Manhattan. Ullstein. 15,99 Euro 

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Published on October 02, 2022 05:56

September 25, 2022

Über die Heiterkeit

Für das Magazin ZEITWissen habe ich in den vergangenen Wochen an einem Aufsatz über die Heiterkeit als einer grundsätzlichen Haltung dem Leben gegenüber geschrieben. Es ging darum, wie es gelingen kann, sich eine solche Einstellung gerade in schwierigen Zeiten wie diesen zu erarbeiten.

Kürzlich ist das Heft erschienen, an guten Kiosken und in vernünftigen Zeitungsläden ist es zur Zeit erhältlich, auch im Internet natürlich.

Hier einige Absätze aus meinem Text.

„ … Dabei fällt mir eine alte Anekdote ein. Sie spielt im 17. Jahrhundert und handelt von einem Mann, der einen Pariser Arzt aufsucht, um ihm von seinen Gemütsverdunkelungen zu berichten und zu fragen, was sich dagegen unternehmen ließe. Der Mediziner sagt: ‚Was Ihnen fehlt, ist Heiterkeit. Sie dürfen sich nicht weiter hinabziehen lassen in diese Betrübnis, müssen sich freimachen, nach Ablenkung suchen. Da fällt mir etwas ein: Gehen Sie ins Theater! Dort läuft ein neues Lustspiel von Molière, eine Komödie. Gehen Sie dorthin. Lachen Sie! Das wird Ihnen helfen.‘

Worauf der Patient starren Blickes antwortet: ‚Herr Doktor, ich bin Molière.‘

Was man daraus lernen kann, mag erst mal seltsam klingen, es ist aber sehr wichtig. Heiterkeit ist nämlich nicht leicht zu haben. Man muss sie sich erkämpfen, erarbeiten. Für manche Autoren ist das nicht selten der wichtigste und der einzige Weg zu einem zumindest partiell heiteren Dasein, weil es ihnen nämlich gelingt, aus düsteren Lebensereignissen das Heitere zu destillieren und so einen Verwandlungsprozess in Gang zu setzen, an dessen Ende wir über die tragischsten Dinge laut lachen.

Betrachtet man zum Beispiel gewisse Sketche von Loriot und entkleidet sie alles Komischen, sieht man zutiefst traurige, deprimierende Existenzen: Menschen, die nicht mal über ein Frühstücksei vernünftig kommunizieren können, die aneinander vorbei reden, wenn es doch nur darum geht, still in einem Sessel zu sitzen, und die ein Parkzettel in den Wahnsinn treibt. Das sind alles Geschichten, aus denen viele deutsche Autoren Tragödien herausgedichtet hätten. Aber genau diesen Weg ist Loriot nicht gegangen. Er hat nicht das ja ohnehin offen zu Tage liegende Schreckliche beschrieben, sondern das verborgene Komische freigelegt. Er hat das Leben verwandelt, hat etwas leicht gemacht, das zunächst schwer schien. Darin liegt viel Tröstliches, und man kann deshalb sagen, dass guter Humor immer eine direkte Verbindung zum Schweren unseres Lebens haben muss. Sonst wirkt er eher wie Fast Food, das sättigt, aber nicht zufrieden macht.

Heiterkeit setzt also eine Anstrengung voraus – und was für Autoren gilt, das muss man auch für den großen, nichtschreibenden Teil der Bevölkerung in Anspruch nehmen. Wie jeder Schriftsteller, der heitere Texte schreiben will, einen bestimmten Blick aufs Leben haben muss, so muss wohl auch jeder, der ein heiteres Leben führen möchte, seine Sichtweise aufs Dasein ändern – was allerdings noch viel schwerer ist, als einen humorvollen, leichten, schwebenden Text zu verfassen.

Denn hier geht es nicht um einige Stunden am Tag, in denen man alles mal ein wenig anders sieht als sonst. Es geht um den ganzen Tag, die ganze Woche, den Monat, das Jahr, das Leben.

Ich spreche von der Heiterkeit als einer Grundhaltung. Und was mich selbst angeht: Ich möchte nicht nur ein Autor heiterer Geschichten sein. Sondern selbst heiter. Ich möchte sein wie manche meiner besseren Geschichten und Bücher.

Ist das überhaupt möglich?

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Published on September 25, 2022 00:26

September 6, 2022

Hansjörg Schneider, Hunkelers Geheimnis. Der neunte Fall. Diogenes

In München gibt es eine Krimi-Buchhandlung namens Glatteis. Die betrat ich mit dem dringenden Wunsch, quasi auf der Stelle – noch am selben Abend jedenfalls – einen Krimi zu lesen.

Warum hatte ich dieses Bedürfnis? Warum lese ich überhaupt Krimis?

Ich antworte: zur Entspannung, Zerstreuung, Ablenkung. Das ist nun seltsam, dass man aus solchen Motiven heraus Mordgeschichten liest. Andererseits geht es wohl den meisten Krimi-Lesern so. Die Abfolge von Mord, Ermittlung und endlicher Lösung des Falles hat etwas Beruhigendes, das erklärt ja wohl überhaupt den Erfolg von Krimi-Geschichten in dieser seit Jahrzehnten zutiefst beunruhigten Gesellschaft – und eben auch bei mir.

Denn ich lese viele Krimis. Deshalb kenne ich auch viele. Aber ich bin anspruchsvoll, mein Lieblingsautor ist Simenon, da gibt man sich nicht mit x-beliebigen Regionalkrimis à la Der Würger von Bad Schwürbelbach zufrieden.

Vor mir im Glatteis-Regal: die Hunkeler-Romane von Hansjörg Schneider. Keinen einzigen von denen hatte ich bisher gelesen, eigentlich auch nichts von ihnen gehört, obwohl es sie schon lange gibt und sie auch verfilmt wurden. Was mir aber auch entgangen war, denn ich sehe eigentlich nie fern.

Schneider ist ein Baseler Autor, schon mehr als achtzig Jahre alt, berühmt auch wegen seiner Theaterstücke. Hunkeler, sein Geschöpf, ist ein Baseler Kommissär, wie die Schweizer sagen, besser: Er war einer in Schneiders ersten Büchern. Nun – in den neueren Bänden – ist er alt und pensioniert. Trotzdem trifft er offenbar immer wieder auf Leichen, Morde, Täter, er kann sich sozusagen der eigenen Vergangenheit nicht entziehen, und irgendwie will er das auch gar nicht. Trotzdem beherrschen die Geschichten sein Leben nicht komplett, er isst und trinkt weiterhin gut an diversen Stammtischen und in Baseler Cafés, sitzt gerne in seinem Haus im Elsass, arbeitet dort im Garten, freut sich an seiner späten Liebe zur Gefährtin Hedwig.

Ich nahm eines der Bücher aus dem Regal und las auf der Rückseite ein Zitat aus einer Rezension in der Welt. „Der Ton ist herbstlich“, stand da. „Aber es ist ein ziemlich goldener Herbst. Gelassener floss noch kein Hunkeler dahin.“ 

Das war’s. Gelassenes Erzählen. Dahinfließen. Ich griff zu. „Eine gute Wahl“, sagte die Buchhändlerin. „Warum?“, fragte ich. Ach, sie möge den Mann einfach, den Hunkeler.

Noch am selben Abend las ich. Und ich war nicht enttäuscht. Ich mochte diesen ruhigen Ton, dieses Verweilen auf Spaziergängen, diese Ausflüge in Landgasthöfe zu einem Glas roten Ötlingers, „ein fast feierliche Bedächtigkeit und Ruhe, nur hin und wieder von den Schlägen einer Wanduhr unterbrochen“. Die Blicke vom Küchentisch aus auf eine Wiese mit Kirschbaum, Weide, Birnbaum, Pappel.

Ja, einen Fall gibt es auch. Ich habe ihn im Grunde sofort nach der Lektüre vergessen. Es hat was mit Banken, alt gewordenen Linken und der Schweizer Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg zu tun. Viel Basel ist drin, eine Menge Lokalkolorit. Das ist gut, denn Basel ist eine schöne und sehr interessante Stadt, ich mag sie. Der Fall ist nicht wichtig, es soll übrigens auch bessere Hunkelers geben. Was ich nur gut finde, denn ich habe sie ja noch vor mir.

Den neuesten habe ich am Tag angefangen, nachdem ich Hunkelers Geheimnis zugeklappt hatte, Hunkeler in der Wildnis, der zehnte und bisher letzte Fall. So, wie die Zeiten und mein Gemüt gerade beschaffen sind, werde ich die anderen acht auch noch lesen.

Hansjörg Schneider, Hunkelers Geheimnis. Der neunte Fall. Diogenes. 12 Euro

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Published on September 06, 2022 08:50

August 28, 2022

VON MEINEN ONKELS OTTO UND OSKAR SOWIE EINIGEN ANDEREN LEBENDEN UND ERFUNDENEN MENSCHEN

In meinem ersten Buch, Nächte mit Bosch, 1991 erschienen, gibt es eine Geschichte namens Mensch, danke, Onkel Oskar. Es geht darin um einen Großonkel von mir, einen Bruder meines Großvaters. Er lebte in Berlin, besuchte uns aber dann und wann in meiner gut 200 Kilometer entfernten Heimatstadt. Das Seltsame war, dass er jedes Mal mit einem Lkw vorfuhr, als Beifahrer allerdings. Und immer brachte er Bananen mit, warum auch immer. Er hatte sonst nichts dabei, nur Bananen für uns.

Er trampte, mit über siebzig Jahren. An der Halle des West-Berliner Blumen-Großmarktes beim Checkpoint Charlie fragte er Lastwagenfahrer, ob sie ihn mit nach Westdeutschland nehmen würden, und wenn er zurück nach Berlin fuhr, stellte er sich an die Autobahnausfahrt und hielt den Daumen hoch. Er war schwerhörig und wohnte in Kreuzberg. Als ich mit 16 zum ersten Mal in Berlin war, besuchte ich ihn dort. Wir saßen zusammen in seiner Wohnung, später auch in seinem Schrebergarten und mochten uns gern. 

Mein Onkel Otto.

Der Onkel in der Geschichte heißt aber Onkel Oskar. Dieser Oskar ist anfangs genauso wie Onkel Otto. Dann aber geschieht etwas, das in der schnöden Wirklichkeit nie geschah: Onkel Oskar besitzt nämlich eine Buchstabiermaschine, „ein silbern glänzendes Ungetüm, das die gesamte Tischfläche in Anspruch nahm“. Dieser Apparat macht aus Buchstaben seltsame und schöne Wörter, finnische, ungarische, deutsche, Tyytymättömyys, Ördögök, Blaulappenhokko, solche Sachen. Ununterbrochen spuckt das Gerät Wörter dieser Art aus, aber die Sache entgleist irgendwann, und …

Egal, darum geht es hier nicht.

Der Onkel Otto war so beschaffen, dass ich aus ihm eine Geschichte machen musste, ein Wunderwesen geradezu in der engen und spießigen Welt meiner Eltern, ein greiser Tramper mit Bananen im Gepäck. Er war ein Pfeil der Phantasie, der irgendwie in mein Leben geschossen wurde, Gott sei Dank.

Die Geschichte ist, wie gesagt, mehr als dreißig Jahre alt, und in meiner Erinnerung sind Onkel Otto und Onkel Oskar inzwischen so miteinander verwoben, dass ich manchmal schon gar nicht mehr weiß, welcher von beiden der reale und welcher der erfundene war. Und dass es eben so ist, gefällt mir sehr gut, wenn ich in meinem Büro sitze und meine eigene Buchstabiermaschine bediene.

Was ich hier beruflich mache, ist manchmal so eine Art Verwandlungsarbeit. Ich entnehme der Wirklichkeit Menschen und Gegenstände, jage sie durch meine Gehirngänge und lasse sie in einer Kolumne, einer Geschichte, einem Buch auf eine andere Weise weiterleben. Dem liegt eigentlich immer dieselbe Frage zu Grunde, nämlich: Wie wäre die Welt, wenn … ?

Warum sprechen alte Kühlschränke nicht – und wie wäre es, wenn sie es täten? Was geschähe, wenn hinter meinem Bücherregal ein kleiner König namens Dezember lebte? Was wäre gewesen, wenn der kleine Teddybär, den ich mal hatte, Sonntag geheißen hätte und man ihn in die Waschmaschine gesteckt hätte? Wie würde es sein, wenn ich Gott tatsächlich mal persönlich kennenlernte?

Auf diese Weise ist Bruno, mein alter Freund entstanden, der in vielen Kolumnen im Süddeutsche Zeitung Magazinvorkommt, auch in der aktuellen. Ich kenne nämlich eigentlich niemanden namens Bruno. Aber fast jeder, den ich im wirklichen Leben treffe, kann zum Bruno in einer Kolumne werden. Und so ist auch Mimmo in die Welt gekommen, der gewandteste, höflichste und am umfassendsten gebildete Kellner der Welt, von dem in Ein Haus für viele Sommerdes Öfteren die Rede ist.

Von diesem Buch war jetzt oft in Rezensionen zu lesen, es spiele auf der Insel Elba. Das ist wahr und falsch zugleich. Wahr ist, dass die geschilderte Insel in vielem Elba entspricht. Falsch ist: Elba und das Dorf, in dem wir dort leben, waren nur die Inspiration für Insel und Dorf im Buch, sie waren sozusagen der Onkel Otto, und die Geschichten im Buch sind der Onkel Oskar. Vieles von dem, was erzählt wird, hätte auf Elba geschehen können. Es ist aber nur in meiner Phantasie passiert.

Den Mimmo in der Bar, die im Buch immer nur die ganz bestimmte Bar heißt, gibt es allerdings ebenso wie die Bar. Er heißt bloß in Wahrheit, pssst, ganz anders.

Als wir im vergangenen Frühjahr in unser Dorf kamen, zum ersten Mal nach Erscheinen des Buches (das es auf Italienisch bisher nicht gibt und das unser Mann in der ganz bestimmten Bar also nicht kennen konnte), betraten wir eben diese Bar. Zuerst wurde meine Frau begrüßt, herzlich und ausführlich. Dann drehte sich Mimmo, der nicht Mimmo heißt, zu mir um und sagte:

Piacere, Mimmo. Angenehm, Mimmo.

Es war nämlich so gewesen, dass Leserinnen und Leser die Bar ausfindig gemacht hatten. Sie hatten dann den, der ganz anders heißt, gefragt, ob er Mimmo sei. Und er hatte wahrheitsgemäß gesagt, nein, er sei der, der ganz anders heißt.

Aber welcher hier dann Mimmo sei … ?

Niemand. Warum? Wie sie denn auf Mimmo kämen ... ?

So hatte der, der ganz anders heißt, von dem Buch erfahren und davon, dass ich mir gestattet hatte, ihn ein wenig zu verwandeln. Er hat es mir nicht übel genommen, sondern sich im Gegenteil sehr gefreut, und das hat wiederum mich sehr, sehr gefreut. Man weiß ja nie, was die Menschen davon halten, wenn man sie einfach so verwandelt. Onkel Otto hat zum Beispiel nie davon erfahren, er ist schon in den siebziger Jahren gestorben, lange vor meinem ersten Buch.

Aber in der ganz bestimmten Bar, in dem Augenblick, in dem Mimmo mich begrüßte, hatte ich auf einmal – und wirklich nur für einen kurzen Moment – das seltsame und tatsächlich beglückende Gefühl, als drückte tatsächlich Mimmo mir die Hand, den es nur in einem meiner Bücher gibt. Als begrüßte mich ein von mir erfundener (und gleichzeitig eben doch ganz realer) Mensch.

Es war echt überwältigend.

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Published on August 28, 2022 05:59

August 17, 2022

Annie Ernaux, Die Jahre, Surkamp

Annie Ernaux war mir bis vor Kurzem kein Begriff, was einerseits beschämend ist, denn sie gehört zu den bedeutendsten französischen Autorinnen unserer Zeit. 

Andererseits ist es auch nicht so schlimm, weil ich Bücher ja nicht aus bildungsbürgerlichen Gründen lese oder um auf der Höhe der Zeit zu sein. Sondern ich lese sie, weil sie mir vielleicht etwas bedeuten, mein Leben und Denken beeinflussen könnten. (Und natürlich zur Entspannung, aber das ist ein anderes Thema.) Und dann ist es eigentlich nie zu spät, eine Autorin kennenzulernen.  

Von Annie Ernaux jedenfalls hatte ich im Newsletter Der siebte Tag des geschätzten Kollegen Nils Minkmar gelesen: in Frankreich sei ein neues Buch von ihr erschienen, dass man unbedingt lesen sollte. Aber da dieses Werk erst im Oktober auf deutsch erscheinen wird, beschloss ich, mir zunächst einmal Ernaux‘ bisher bedeutendstes Werk zu kaufen, und das sind nun einmal nach allgemeinem Urteil Die Jahre, erschienen 2008 in Frankreich und erst 2017 in Deutschland. (Aha, ich bin also nicht allein mit dem Hinterherdackeln, auch die Verlage sind es.) 

Die Jahre ist ein autobiographisches Buch. Und was allgemein daran – zu Recht – gerühmt wird, ist, dass es eine neue Form autobiographischen Erzählens begründete (na ja, wenn’s jemand­ ­nachmachen würde) oder jedenfalls darstellt: eine Form, in der nicht vom „Ich“ die Rede ist, sondern in der die Erzählerin von sich selbst in der dritten Person spricht, von „Man“, und in der sie von ihrem eigenen Leben nicht „vor dem Hintergrund“ des Zeitgeschehens berichtet, sondern es quasi als dessen Bestandteil darstellt. Private Erinnerungen werden so eine gesellschaftliche Erzählung, und das Ich ist nicht so sehr der Motor des eigenen Lebens (wie in vielen anderen und nach der Lektüre dieses Buches bisweilen banal erscheinenden Autobiographien). Sondern ein Teil dessen, was man das Große und Ganze nennen könnte, wenn man wollte. 

Ernaux ist Jahrgang 1940, man liest also von der Algerienkrise, von de Gaulle und den 68ern in Frankreich, von Mitterrand und Sarkozy, man versteht Frankreich ein bisschen besser, aber darum geht es eigentlich nicht. Viel wichtiger ist die Methode des Erzählens, die andauernde Reflektion, das Innehalten, Zaudern, Noch-einmal-Betrachten, das Anschauen der Fotografien des eigenen Lebens, der Momente: „das Licht einzufangen, das auf jetzt unsichtbare Gesichter fällt, auf Tischdecken mit verschwundenem Essen, ein Licht, das schon in den Erzählungen ihrer Kindheit da gewesen war, bei den sonntäglichen Familienessen, und das sich seither auf alles gelegt hat, was sie erlebte, ein früheres Licht“.  

Das ist diese Autobiographie: nicht das Nacherzählen und die Erklärung oder Verklärung eines Lebens, sondern die Suche nach der großen Welt, den Träumen einer Zeit, den Gefühlen der Vergangenheit in einem einzelnen Menschen.

Annie Ernaux, Die Jahre. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp Taschenbuch. 11 Euro­

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Published on August 17, 2022 01:31

August 14, 2022

Hühnerzuchthaus

Es ist die Zeit nicht mehr fern, in der, weil wir es so wollen, die grausamen Hühnerfarmer und Hähnchenbarone ins Gefängnis müssen, ins große Hühnerzuchthaus nämlich. Dann werden die Hühner frei sein. Sie werden auf dem Land leben und sich ihren Lebensunterhalt verdienen, indem sie jeden Tag persönlich in die Stadt kommen, um uns ihre Eier selbst zu bringen. Sie stehen früh auf, fahren mit Bussen und Bahnen in die Siedlungen und gehen gackernd durch die Straßen. Wer ein Ei wünscht, der ruft aus dem Fenster hinunter: »Ein Ei, bitte!« Dann kommt das betreffende Huhn die Treppe hinauf und legt das Ei auf den Tisch. Dafür bekommt es Futter und bleibt noch ein bisschen am Tisch sitzen, und wir lesen ihm aus alten Hühnerbüchern vor.

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Published on August 14, 2022 21:00

August 7, 2022

Rattenerektionen

Gerade habe ich etwas über Forscher gelesen, die eine neue, viagraartig wirkende Salbe an Ratten ausprobierten. Das Problem mit Viagra ist, dass man es einige Zeit, bevor man es braucht, einnehmen muss. Wenn man es dann doch nicht benötigt, hat man es aber eben nun mal eingenommen und sitzt da »wie bestellt und nicht abgeholt« (hätte meine Oma gesagt). Deshalb hat man die Salbe entwickelt. Sie ist an Ort und Stelle aufzutragen und wirkt sofort, wie man aus Rattenexperimenten weiß. Es gibt also Menschen, die morgens zur Arbeit gehen und dort Rattenpenisse eincremen sowie Rattenerektionen vermessen. Man möchte den Beruf nicht haben, man möchte ihn nicht seinen Kindern erklären müssen. Aber ich werde nie aufhören, über die Vielfalt menschlicher Tätigkeiten zu staunen.

Das kolumnistische Manifest

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Published on August 07, 2022 21:00

July 31, 2022

In alle Ewigkeit

Manchmal stelle ich mir eine Kneipe vor, in der sich alle Götter treffen, an die niemand mehr glaubt. Götter, die mal ein Riesenleben hatten, nur weil andere an sie glaubten, und nun können sie froh sein, wenn einer ihnen noch ein Bier zapft oder eben einen Ouzo hinstellt. Und das Geld dafür verdienen sie sich mit Zeitungaustragen oder Pfandflaschensammeln, in alle Ewigkeit, denn Götter sind nun mal unsterblich.

Das kolumnistische Manifest

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Published on July 31, 2022 21:00

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