Axel Hacke's Blog
July 14, 2025
Wie fühlst du dich? Über unser Innenleben in Zeiten wie diesen

Wie fühlst du dich? ist eine für unsere Zeit geradezu programmatische Frage. Denn ihre Beantwortung setzt die Fähigkeit voraus, Gefühle zu erkennen, sie zu reflektieren und über sie zu reden. In ›Wie fühlst du dich?‹ geht es um die Erkenntnis, dass man Gefühl und Vernunft nicht einfach trennen kann, vor allem aber um unsere Eigenständigkeit, um die Fähigkeit, sich zu wehren gegen jene, die uns so gern am Nasenring unserer Affekte durch die Welt führen würden. Überlassen wir unsere Gefühle nicht den Falschen, sondern fragen wir uns lieber selbst: Wie gehen wir mit der Angst um, die uns alle in Atem hält? Was ist mit der Verbundenheit zu anderen, nach der wir alle suchen? Was tun gegen das Gefühl der Hilflosigkeit, der Wut? Darf ich hassen, andere verachten? Und was ist mit der Lebensfreude, dem Glück? Woher bekomme ich Hoffnung? Kurz gesagt: Wie können wir all das Wissen über unser Innenleben dazu nutzen, in diesen Zeiten den Kopf über Wasser zu halten?
Ab 1. Oktober erhältlich als Hardcover, E-Book oder Hörbuch >
February 22, 2025
Knie, Schulterblatt, Haarzopf
Leserin E. schreibt anlässlich ihrer Lektüre von Aua! Die Geschichte meines Körpers:
Ein Projekt treibt mich um, nämlich die Anatomie Deutschlands zu erheben. Den Anfang machte das Knie in München-Pasing. In Hamburg befindet sich das Schulterblatt, der Haarzopf in Essen. Sicher gibt es noch zahlreiche weitere Körperteile verteilt über die Republik – wäre doch mal interessant, diese zusammenzusuchen zu einem Homunculus der besonderen Art.
Wie überaus interessant!
Deutschland ist reich an originellen Straßennamen. Daraus einen ganzen Körper zusammenzustellen, scheint auch mir reizvoll.
Ich biete: den Haarweg in Ibbenbüren, die Handgasse in Würzburg, aber auch in Kitzingen-Etwashausen. Fußwege gibt es eigentlich überall.
Ergänzend der Kniebrecher in Sankt Wendel, auch der Kniebrecherweg in Göttingen, die Wilhelm-Rippen-Straße in Wiefelstede, die Kehlestraße in Olsberg, die Zehstraße in Rehau, die Paul-Finger-Straße in Köln, der Daumenweg in Immenstadt im Allgäu. Die Faltenstraße in Schwabenheim an der Selz. Die Stirnstraße in Ohrdruf-Wölfis. Der Strullerweg in 27637 Wurster Nordseeküste.
Und, tja, die Busenbergstraße in Dortmund, die sich tatsächlich mit dem Spannerweg kreuzt.
Dazu noch in Österreich: Leberstraße, Blutgasse und Knöchelgasse in Wien, die Scheitelstraße in Allhaming, der Hirnweg in Töllach.
In der Schweiz: Der Nasenweg in Basel und die Nierengasse in Trogen/Schweiz.
Das ist doch allerhand. Wer bietet mehr?
January 25, 2025
Mascha Kaléko
Schon seit Längerem habe ich nämlich neben meinem Bett immer einen Band mit Lyrik liegen. Lies jeden Abend ein Gedicht!, so lautet das Gesetz, und leicht ist es einzuhalten.
Im Moment ganz oben auf dem Lyrik-Posten: Mascha Kaléko.
Ich besitze zwei Bände mit Gedichten von ihr, den einen schon länger, den anderen erst seit einigen Wochen. Der erste ist ein prachtvolles Buch, ausgestattet mit Zeichnungen des famosen Hans Ticha, der eine der schönsten Buchausgaben schuf, die ich überhaupt kenne, Karel Čapeks Der Krieg mit den Molchen, eine Science-Fiction-Satire aus dem Jahr 1936, in der FAZ einmal hoch gelobt als „eines der schönsten Bücher der deutschen Buchgeschichte“.
Der zweite ist im vergangenen Jahr herausgekommen, auf sehr gutem Papier und mit einem Leinen-Einband, dazu ein Vorwort von Daniel Kehlmann. Er beschreibt (und man kann das auch im Buch einigen quasi autobiographischen Prosa-Texten der Autorin selbst entnehmen), wie Mascha Kalékos Ruhm mit ihren zwischen Ironie und Traurigkeit changierenden Texten neben denen von Ringelnatz, Tucholsky, Kästner wuchs – bis sie 1938 mit Mann und Kind emigrieren musste, nach New York zunächst, später nach Jerusalem.
Sie war populär, ihre Gedichte leicht, klar, schnoddrig, voller Melancholie und großstädtischem Witz.
Aber nie konnte sie nach dem Krieg in das Glück ihrer Berliner Jahre zurückfinden, auch von der Literatur-Szene wurde sie mit Fleiß ignoriert. In seinem Nachruf auf sie schrieb Horst Krüger 1975 in der FAZ: „Natürlich gehört ein solches Leben: wie es aufbrach, kurze Zeit blühte, sich ducken mußte und dann über Jahrzehnte eigentümlich verrann in lauter freundlichen Verlegenheiten, zu den Spätfolgen des deutschen Faschismus. Es ist ein jüdisches Schicksal zu beklagen – was denn sonst?“
Seit einer ganzen Weile schon aber wird sie wieder gelesen, erscheinen Neuausgaben, ist sie präsent. Es wird nie so sein, wie es hätte sein können, das haben die Nazis auf dem Gewissen.
Aber wir können sie lesen, jeden Tag und jeden Abend.
Auch ich bin ein „ein deutscher Dichter,
Bekannt im deutschen Land“,
Und nennt man die zweitbesten Namen,
So wird auch der meine genannt.
Auch meine Lieder, sie waren einst
Im Munde des Volkes lebendig.
Doch wurden das Lied und der Sänger verbannt.
– Warn beide nicht „bodenständig“.
Ich sang einst im preußischen Dichterwald,
Abteilung für Großstadtlerchen.
Es war einmal. – Ja, so beginnt
Wohl manches Kindermärchen.
Mascha Kaléko (Aus dem Gedicht: Deutschland, ein Kindermärchen, geschrieben auf einer Deutschlandreise im Heine-Jahr 1956)
Mascha Kaléko, Ich tat die Augen auf und sah das Helle. Gedichte und Prosa. dtv. 256 Seiten, 20 Euro.
Mascha Kaléko, Bewölkt, mit leichten Niederschlägen. Gesammelte Gedichte. Mit Zeichnungen von Hans Ticha. Büchergilde Gutenberg, 32 Euro.
December 29, 2024
Schweinzi in der Schweiz
Neulich klingelte es an der Tür. Ich nahm den Hörer der Gegensprechanlage ab und jemand sagte: „I bins, der Postbote, tschuidigen S‘, aba mi ham grad koan Schlüssel ned, kannt S‘ bittschön aufmacha.“
Das tat ich und sagte zu meiner Frau, wie schön es sei, von einem Boten zur Abwechslung mal den heimischen Dialekt zu hören, nicht nur ein paar Brocken Deutsch oder Englisch wie einen Tag später, als ein sympathischer junger Mann vor der Tür stand und in besserem Englisch, als ich es kann, zu mir sprach.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich bin sicher, ohne die vielen Zugewanderten würde erstens unsere Post- und Paketzustellung zusammenbrechen, zweitens weite Bereiche der Gastronomie und drittens – das ist vermutlich am wichtigsten – unser Gesundheitswesen. Es ist ja interessant, dass – kaum war Assad in Syrien gestürzt – einige Politiker gar nicht schnell genug mit der Aufforderung bei der Hand sein konnten, nun sollten aber auch möglichst viele Syrer möglichst schnell heimkehren. Während Fachleute rasch darauf aufmerksam machten, dass gerade Syrer sich hier bemerkenswert schnell integriert hätten und niemand wüsste, wie man die gesundheitliche Versorgung ohne sie als Ärztinnen und Pflegekräfte hier vernünftig aufrechterhalten könnte.
Aber ich kann auch verstehen, dass vielleicht manche älteren Leute in meinem Viertel es bisweilen schwierig finden, sich hier noch heimisch zu fühlen, wenn an ihrer Haustür kaum noch jemand in ihrer Muttersprache mit ihnen reden kann und auf der Straße Englisch häufiger zu hören ist als Deutsch.
Und wiederum andererseits bewundere ich die Leute, die in einem fremden Land ihr Geld verdienen müssen, ohne etwas zu verstehen und sich verständlich machen zu können. Es muss ungeheuer anstrengend sein und viel Mut erfordern, gerade auf Behörden, bei denen man ja schon als deutscher Steuerzahler nach wie vor oft eher wie ein Untergebener behandelt wird.
Neulich las ich im Zürcher Schauspielhaus und dann auf dem berühmten Humorfestival in Arosa, und ich stellte fest, dass man auch in der Schweiz in manchen Cafés besser mit englischen Vokabeln bestellt als mit deutschen. In einem meiner Hotels funktionierte die Heizung nicht so recht, eine junge Dame traf ein, um das zu reparieren, und sie sprach mit uns in größter Selbstverständlichkeit in einem Mischmasch aus Schwyzerdütsch, Albanisch und Englisch, alle drei Wörter schien sie die Sprache zu wechseln. Wir verstanden nichts, sie selbst vielleicht auch nicht. Aber es war nett.
An solchen Tagen liebe ich Europa besonders, diese Selbstverständlichkeit der Vielfalt. Es geht ja auch in meiner eigenen Familie an manchen Tagen hin und her zwischen Deutsch, Englisch, Französisch und Italienisch, es ist großartig. Meine jüngste Tochter, die ständig Deutsch und Englisch souverän mischt, benutzte neulich mitten in einem deutschen Satz das Wort quirky, und als ich fragte, was das auf Deutsch heiße, antwortete sie: weird.
Also, es heißt komisch, drollig, sonderbar.
Ich erinnerte mich an eine, nun ja, Mail von Leserin S., die mir über ihre Erlebnisse in der Wäscheabteilung eines großen Kaufhauses berichtete. Sie habe dort eine Verkäuferin gefragt, wo sie hier einen Neckholder-BH bekommen könne. (Den wollte sie unter einem Neckholder-Top tragen, früher hieß das „rückenfreies Oberteil“). Die Verkäuferin habe ihrer zehn Meter entfernten Kollegin zugerufen: „Du, Inge, wo haben wir unsere Snackholder-BHs?“
Am Tag nach der Zürcher Lesung saßen meine Frau und ich im berühmten Café Odeon, tranken etwas und aßen eine Kleinigkeit. Als wir bezahlten, erkundigte sich die Kellnerin auf Schwyzerdütsch: Isch’s fein gsi? Ich verstand nur Schweinzi, fragte nach, hörte wieder Schweinzi und dann aber erklärte es mir die Dame auf Hochdeutsch: ob es gut gewesen sei, habe sie gefragt: Ist es fein gewesen?
Ja, sagte ich, und das stimmte ja auch.
PS: Dann ist da noch die Mail von Herrn P., der an den Rolltreppen der Münchener U-Bahn das schöne Wort Stufenabsackkontakt entdeckte und mir schickte. Es ist mit Sicherheit Deutsch, aber weder er noch ich wussten, was es bedeutet.
Und doch: Ist es nicht von faszinierender Schönheit?
December 28, 2024
Florian Klenk, Über Leben und Tod. In der Gerichtsmedizin, Zsolnay
Warum wird einer Gerichtsmediziner und Pathologe, also ein Arzt, der sich nicht mit Lebenden, sondern mit Toten beschäftigt, Tag für Tag?
Christian Reiter übt den Beruf seit 45 Jahren aus. Er ist der renommierteste österreichische Rechtsmediziner und hat die Gletschermumie Ötzi untersucht und die Opfer des Absturzes einer Lauda-Air-Maschine, war Sachverständiger in großen Mordprozessen und hat die Haare Beethovens auf der Suche nach dessen Todesursache ebenso untersucht wie die sterblichen Überreste von Mary Vetsera, Geliebte des Kronprinzen Rudolf und von ihm auf Schloss Mayerling 1889 erschossen, bevor er sich selbst das Leben nahm.
Reiter sagt, er habe nie ein heilender Arzt werden wollen. „Ich hatte Sorge, es nicht zu schaffen, mit Patienten über ihr Leid und ihre Angst und ihre Hoffnungslosigkeit zu sprechen.“
Deshalb: Tierarzt. Das war sein Kindheitstraum. Aber die Mutter verbot es ihm. Sie hatte beruflich viel mit Fleischbeschauern aus dem Schlachthof zu tun und beobachtet, dass die zu trinken begannen, weil sie das tägliche Gemetzel nicht ertrugen. Und wenn man draußen auf dem Land bei den Bauern arbeitete, heiße es nach jeder Kalbsgeburt: Dokta, a Schnapserl! Und no a Schnapserl!
Auch hier: Teufel Alkohol.
Das wollte die Mutter nicht, und der Sohn war folgsam, wie es scheint.
Also: Labormedizin? Da stellte er sich als Ferienpraktikant vor, aber just in dem Moment war die Stelle weg, bloß in der Pathologie wurde gerade ein Gehilfe gesucht. So landete er dort, für 45 Jahre, wie gesagt. Ungeheuer interessant! Denn der Pathologe muss alle Krankheiten kennen, aber auch die Spielarten des gewaltsamen Todes. Er müsse, so Reiter, „die Natur kennen, die Botanik, die Zoologie, die Abgründe des Menschlichen, die Kulinarik und technische Details.“
Kurz: Wer sich mit Toten befasst, der muss das Leben kennen wie kein Zweiter.
Das macht dieses Buch so interessant: Es ist eines über das ganze Leben, zu dem ja auch der Tod gehört, dessen Teil er ist, weil, wie Florian Klenk schreibt, auch die Verwesung „ein Mechanismus der Natur ist“. Sie ist Leben, das Leben der Fliegen und Maden nämlich zum Beispiel, auch ein Abbild und eine Folge des Lebens zuvor. Was hat einer gegessen? Wie ist eine zu Tode gekommen? Wie hat sie gelebt und was davon sieht man noch am Leichnam?
Klenk ist Chefredakteur des Wiener Wochenmagazins Falter, und er betreibt mit Reiter zusammen seit einer ganze Weile einen äußerst erfolgreichen Podcast namens Klenk+Reiter. Das Buch ist zugleich das Porträt eines umfassend gebildeten Mannes und einer Wissenschaft, die wie jede Wissenschaft äußerst präzise arbeitet, es ist geradezu ein Lehrstück über die Notwendigkeit dieser Genauigkeit, ohne die uns die Wahrheit oft verborgen bleiben würde (und vermutlich sehr oft auch bleibt).
Es ist auch ein Buch, das uns staunen lässt über diese Präzision, ein sehr lebendiges, gut zu lesendes Werk: über Fleisch-und Schmeißfliegen, den Geruch der Toten, über die Unbesiegbarkeit der Neugier und über die Frage, warum wir auch nach drei Monaten unter der Erde manchmal noch ganz rosa und faltenfrei aussehen können, ein Buch über unsere physische Natur und all das Ungeheure, das uns ausmacht.
Florian Klenk, Über Leben und Tod. In der Gerichtsmedizin, Zsolnay. 181 Seiten, 23 Euro
November 24, 2024
Gern, gerner, am gernsten
Am Ende meiner Kolumne im Süddeutsche Zeitung Magazin gibt es immer einen kleinen Text, in dem es um den Autor, also um mich geht, den sogenannten Autorenkasten, der so heißt, obwohl er überhaupt kein Kasten ist. Mit diesem kleinen Text geben uns Johannes Johnny Waechter, der mich seit Jahrzehnten redaktionell betreut (das klingt als Verb ein wenig nach einer Tätigkeit in einer Mischung aus Kindertagesstätte und Altenpflegeheim und ist es wohl auch), immer sehr viel Mühe, es soll so eine kleine, lustige Abrundung der Seite sein, eine Entlassung aus der Heiterkeit der Kolumne in den Ernst des Alltags.
Nun schrieb ich kürzlich einen Text über neue Tendenzen in der Verwendung des Wortes gern. Man wird nämlich heute oft gebeten, etwas nicht nur zu tun, sondern es auch gern zu machen. Nutzen Sie gerne den Komfort Check-in, heißt es in der Bahn.
Und weil ich nicht so recht Zeit hatte, verfasste Johnny den Kasten ganz allein und schickte ihn mir dann. Da stand:
Axel Hacke schreibt besonders gern im Münchner Stadtteil Gern, wo er nach Beendigung seiner Kolumne durch die Gerner Straße spaziert und dabei am gernsten ein Gerner Bier genießt.
Gerner Bier?, dachte, na, er wird es schon wissen, und wandte mich anderen Tätigkeiten zu.
Kurz nach Erscheinen des Textes kam eine Mail von Leser K.
Hm. Lieber Herr Hacke, es gibt Gerner Bier in Gern? Echt jetzt? Neugierige Grüße
Ich rief Johnny an. Da haben wir den Salat, schrieb ich, es gibt doch kein Gerner Bier in Gern, oder?
Doch!, rief er. Aber es kommt nicht aus München, sondern aus der Schlossbrauerei Gern in Eggenfelden, also in Niederbayern.
Das gefiel mir. Ich berichtete das alles dem Leser K. und dann bestellte ich bei der Brauerei zwölf Flaschen Helles, sechs für mich und sechs für Johnny. Und als wir uns neulich mal wieder zum Mittagessen trafen, bekam er sein Deputat, und wir machten ein Foto, das den Eindruck erwecken könnte, wir säßen auf einer Berghütte in Tirol. In Wahrheit befanden wir uns mitten in München, in Haidhausen nämlich, wo der schöne alte Kriechbaumhof steht, der der Alpenvereinsjugend als Treffpunkt dient.
Zur Wahrheit gehört auch, dass wir die sechs Bier nicht gleich getrunken haben, obwohl uns danach zumute gewesen wäre, weil gerade der Mann, dessen Namen ich nie wieder erwähnen werde, erneut zum amerikanischen Präsidenten gewählt worden war.
November 23, 2024
Christian Seiler, Alles wird gut. Rezepte und ihre Geschichten. Echtzeit Verlag
Christian Seiler kenne ich schon lange. Er ist Österreicher: Wiener, um genau zu sein. Er war mal Chefredakteur des profil und auch der Kulturzeitschrift DU, die, wie so vieles, auch nicht mehr das ist, was sie mal war.
Außerdem hat er verschiedene Biografien geschrieben, ich erwähne die von André Heller, Feuerkopf heißt sie und ist wunderbar zu lesen. Christian ist ein Autor mit großem Schwung und Elan, und wenn ich schlecht drauf bin, schnappe ich mir manchmal sein Buch Alles Gute: Die Welt als Speisekarte, und nach zwei Seiten geht es mir besser, nach dreien habe ich Hunger und spätestens nach vieren möchte ich ein Glas Wein. Seiler schreibt, wie soll ich sagen?, irgendwie mitreißend und, wenn es um Essen geht, appetitanregend. Ich glaube, wenn er über Schach schriebe, würde ich Schach spielen wollen, und wäre er Fachautor für Pferdewetten, hätte ich mich schon längst auf der Rennbahn ruiniert.
Aber Seiler schreibt vor allem über Essen, er hat entsprechende Kolumnen im Tagesanzeiger und seinem Magazin in der Schweiz, und in Alles Gute ging es seine Reisen in alle Welt und was er dort gegessen hat. Dabei ist davon auszugehen, dass unser Mann kein abgehobener Gastronomiekritiker ist. Er verkehrt durchaus in Sternelokalen, aber er verschmäht auch keine vietnamesische Garküche, ja, er aß schon in einer Lissaboner Bar gebackene Schweineohren und selbst vor Kängurufleisch verschloss er nicht den Mund. Ich erinnere mich an seinen Satz: „Ein Stück Schwarzbrot, frische Butter, etwas gereifter Gruyère, ein Glas Birnencidre: Kultiviertheit beginnt nicht dort, wo rechts unten die hohen Preise stehen.“ Das unterschreibe ich sofort, aber noch lieber setze ich mich mit an den Tisch.
Jetzt entdeckte ich Alles wird gut. Rezepte und ihre Geschichten in meinem Lieblingsbuchladen und kaufte es natürlich sofort, obwohl es satte 48 Euro kostet, aber alles Gute hat seinen Preis, das gilt für Essen und auch für Bücher, und bei Seiler habe ich mich noch nie geirrt. In diesem Buch geht es um Blumenkohl polonaise und Wiener Schnitzel, um Spaghetti Cacio e Pepe und Kuchen aus Bitterorangen, Seiler erzählt wie, er kocht und wie er isst, er berichtet über die Geschichte von Gerichten und erzählt Geschichten über Gerichte. Ganz am Anfang behandelt er die Frage Warum überhaupt kochen? und landet dann bei einem so einfachen, aber dann doch wiederum nicht so einfachen Gericht wie dem Rührei, das man, so sein Vorschlag, doch einmal nach französischer Art im Wasserbad zubereiten könne.
Ich las das und glücklicherweise war Zeit für einen kleinen Imbiss, weshalb ich mein Büro verließ, nach Hause ging und zwei Eier mit Butter, einem Schuss Rahm und etwas Schnittlauch als Rührei zubereitete und mit großem Genuss verspeiste.
Ja, so ein Buch ist das!
Christian Seiler, Alles wird gut. Rezepte und ihre Geschichten. Echtzeit Verlag, 480 Seiten, 48 Euro
October 27, 2024
Buchmesse und Olivenernte
Im Oktober war Buchmesse. Für mich aber gab es einen weitaus wichtigeren Termin: die Olivenernte auf unserem Grundstück in Italien. Gott sei Dank hat mein Verlag großes Verständnis für meine Abwesenheit auf der Messe aus diesem bedeutenden Grund, und so war ich nicht in Frankfurt, wo ich dafür aber am 14. Dezember wieder mal eine Lesung im Schauspielhaus habe.
Wobei gegen die Buchmesse grundsätzlich nichts zu sagen ist. Ich bin dorthin früher immer mit größter Begeisterung gereist, denn was gibt es für einen Autor und Leser (ich bin beides) Schöneres als dieses große Fest des Buches.
Aber man muss seine Prioritäten kennen und ihnen folgen.
Also haben wir Oliven gepflückt, ein Riesenereignis für die ganze Familie, denn alle Kinder und fast alle Enkel waren da, einige Freunde noch dazu. Wir waren zu elft und haben in anderthalb Tagen fast 600 Kilogramm Oliven geerntet, ein Rekord für uns. Wir benötigten mehrere Autos, um das alles zur Ölmühle zu bringen, wo aus den Früchten 61 Liter Öl wurden.
Wer sich auskennt, schließt aus diesen beiden Zahlen sofort, dass die sogenannte RESA nicht besonders hoch war. Das ist der Prozentsatz, in dem sich das Verhältnis der beiden Mengen von Oliven einerseits zu Öl andererseits ausdrückt. In diesem Fall lag er bei 10,25, im Jahr vorher bei 14,65. Das lag wohl einfach daran, dass es heuer in Italien viel mehr geregnet hat als 2023. Damals waren die Oliven viel kleiner, diesmal prall und fest. Aber sie enthalten dann auch mehr Wasser, daher die niedrigere RESA.
Als ich mein Öl im Frantoio, der Mühle, in Empfang nahm, war es wieder so wie vor Jahren bei meiner ersten Ernte, die ich in Ein Haus für viele Sommer beschrieben habe.
Der ganze Raum duftet mild nach unserem Öl, ich habe das noch nie gerochen, nicht so, in dieser Intensität. Ich bin erschöpft, müde, hungrig. Mir ist, als sei dieser Moment das Ziel all der Jahrzehnte hier gewesen. Vielleicht werde ich noch oft im Frantoio sein, und vielleicht, bitte, werde ich auch noch viele hundert Liter Öl haben. Aber nie wieder wird es so sein, wie es gerade jetzt eben gewesen ist.
Nein, es war doch nicht so. „Nie wieder wird es so sein“, habe ich damals geschrieben, denn es gibt Momente, die sind unwiederholbar. (Vielleicht gilt das für die meisten Momente im Leben.) Aber es war wieder großartig, auf eine andere Weise.
Übrigens hatten wir damals, lese ich gerade in meinem eigenen Buch, 468 Kilogramm Oliven, aber 64,35 Liter Öl, also weniger Früchte, aber einen höheren Öl-Ertrag, eine RESA von sage und schreibe 18,3 Prozent.
Abends haben wir alle zusammen im Dorf gegessen und gefeiert. Auch so ist es nun Jahr für Jahr, und ich fürchte, auch die Buchmesse 2025 werde ich versäumen.
September 28, 2024
Aua! Das neue Buch, die Vorbemerkung
Vor ein paar Tagen hatte ich in der Post das allererste Druckexemplar von Aua! Die Geschichte meines Körpers, es war einer der schönsten Momente des Jahres. Das Buch kommt am 13. September in den Handel, jetzt bewegt es sich langsam von der Druckerei aus dorthin, also in den Buchhandel, meine ich. Der Erscheinungstermin wurde übrigens um vier Tage vorgezogen, weil am 12. September in der ZEIT ein größerer Text von mir über das Thema des Buches erscheint. Und den Aufsatz schreibe ich gerade.
Für alle, die dieses Thema des neuen Buches jetzt schon besser verstehen wollen, hier superweltexklusiv ein Auszug aus der Vorbemerkung.
Ich betrachte ein Fotoalbum aus alten Zeiten.
Da liegt ein Baby mit vielen dunklen Haaren auf einem hellen Fell und schaut mit aufmerksam geöffneten Augen den Fotografen an.
Da sitzt ein Kleiner mit langen Locken in einer eisernen Wanne und hält ein Spielzeug in der Hand.
Da läuft ein zweieinhalbjähriges Kind unsicher und nur mit einem Hemdchen bekleidet über einen Rasen. Man sieht seinen Pillermann, so wurde in den 50erJahren das Geschlechtsteil von Buben genannt, jedenfalls in unserer Familie. Wir deklinieren: der Pillermann, des Pillermanns, dem Pillermann, den Pillermann.
Those were the days, my friend
We thought they’d never end.
Der Kleine bin ich.
Der Kleine war ich.
Ich bin jetzt 68 Jahre alt. 1,82 Meter groß, vor vierzig Jahren waren es noch 1,84 Meter. Ich bin geschrumpft, das ist normal, die Bandscheiben werden dünner, wenn man altert. Ich wiege 86 Kilogramm. 84 wären mir lieber, vielleicht schaffe ich es noch, aber ich mache mich nicht verrückt. Der Body-Mass-Index-Rechner der Techniker Krankenkasse spuckt die Zahl 26,0 aus und sagt: „Sie wiegen etwas zu viel.“ Ich sollte maximal 82,8 Kilogramm wiegen.
Unmöglich. So wenig habe ich noch nie gewogen. Oder vielleicht als Jugendlicher.
Lange dunkle Locken habe ich nicht mehr, aber auch keine Glatze. Unten ohne laufe ich schon lange nicht mehr über Rasenflächen, ich bin ja nicht verrückt. Zum Pillermann sagen wir jetzt Penis. Oder Schwanz. Dazu später mehr.
Was ich sagen wollte: Mich fasziniert auf naive Art die Entwicklung meines Körpers, sein Wachsen und Sichausdehnen, dann wieder sein Schrumpfen, seine Kraft und die langsame Schwächung, der stetige Kampf dagegen. Seine Geschichte. Dass ich von einem kleinen Menschen zu einem kraftvollen Kerl werden konnte, nie einem großen Athleten, aber doch zu einem, dem sein Körper nicht in erster Linie Schwierigkeiten machte. Sondern große Freude.
Manche Menschen schreiben irgendwann ihre Memoiren, sie berichten von ihren geistigen Leistungen und ihrem Schaffen. Warum verfasst niemand eine Geschichte seines Körpers, berichtet von den Narben in seiner Haut und den damit verbundenen Ereignissen? Erzählt von den Schmerzen, den ausgefallenen Zähnen, den Beulen und Flecken, von Haarverlust und Knorpelschwund. Aber auch: von den Triumphen seiner Muskeln und den Möglichkeiten seiner Lunge. Vom Alltag seines Herzens. Meinetwegen auch von den Mühen seiner Leber. Und davon, wie sich seelische Lasten in körperliche Probleme verwandeln konnten.
Das Kind auf dem Fell, der Typ hier am Schreibtisch, eines Tages der Leichnam im Sarg – alles ich.
Wissen Sie, was mich beschäftigt?
Ich habe mein ganzes Leben mit diesem Körper verbracht. Ohne ihn ginge es ja nicht. Und dennoch weiß ich erstaunlich wenig über ihn. Fragte mich jemand, wo meine Leber sitzt, ich müsste raten. Hätte ich die Funktion meiner Galle zu erklären, ich könnte es nicht. Sollte ich etwas über den Grund sagen, aus dem meine Finger eines Tages aufgehört haben zu wachsen – ich hätte keinen Schimmer.
Robert Gernhardt schrieb in seinem Gedicht Das Dunkel:
Ob im Mann, ob im Weib,
Dunkel herrscht in jedem Leib.
Das wirft ein Licht auf die Tatsache, dass manche von uns mehr über den Weltraum oder neueste Entwicklungen in der Fußball-Nationalmannschaft wissen als über das Innere des eigenen Körpers.
Wir leben in und mit etwas zum großen Teil Unbekanntem, und das, obwohl wir von nichts anderem so abhängig sind und manche von uns ihre Körper mit Leidenschaft modellieren, kleiden, tätowieren, ernähren und in manchen Fällen und zu gewissen Zeiten: zeigen.
Während wiederum andere ihre Leiber vernachlässigen, als hätten sie nichts mit ihnen zu tun.
Ist es nicht übrigens das, was uns seinerzeit an Gunther von Hagens Körperwelten-Ausstellung so fasziniert hat: dass man hier von außen das Innere von Körpern sehen konnte? Also in die Menschen hinein blickte, ins Dunkel fremder Leiber?
Genau dieses Unbekannte jedenfalls spiegelt sich in den Erlebnissen des Verfassers, der einerseits nie eine Vorsorgeuntersuchung versäumt, andererseits trotzdem nicht wirklich erklären kann, woher genau seine wiederkehrenden Schmerzen im linken Unterkörper etwa auf der Höhe des Beckenrandes kommen. Irgendwas mit den Muskeln dort, Hüftbeuger heißt die Muskelgruppe und ist stressempfindlich, seltsam. Alle Spezialisten haben versichert, es sei nichts Bedrohliches.
Andererseits: Weiß man’s?
Trifft man nicht jeden zweiten Tag jemanden, der vom schlimmen Schicksal eines anderen erzählt, von einem, der es mit irrenden Ärzten zu tun gehabt hatte?
Mein Onkel Wolfgang, der ein einfacher Mann war und dem im frühen Alter nach und nach ein Organ nach dem anderen den Dienst zu versagen begann, antwortete jedenfalls auf die Frage, welche Krankheit er eigentlich habe, stets nur: „Das habe ich auch nicht so richtig verstanden.“
Wir wissen viel, wir denken über alles Mögliche nach, über den Körper jedoch oft erst im Notfall. Dabei ist er ungeheuer interessant.
August 24, 2024
Dror Mishani, Fenster ohne Aussicht. Tagebuch aus Tel Aviv.Diogenes
In meinen Lesegewohnheiten gibt es die Kategorie des spontanen Zwischendurch-Buchs: in der Regel eines, das ich in einer Buchhandlung oder einer Rezension oder auf Empfehlung entdecke, sofort kaufe und noch am selben Tag zu lesen beginne, neben dem anderen Buch, das ich gerade sonst lese.
So eines ist Dror Mishanis Fenster ohne Aussicht, vor kurzem erst bei Diogenes erschienen. Mishani, Jahrgang 1975, ist ein sehr erfolgreicher israelischer Autor vor allem von Krimis, es gibt es eine eigene Reihe um Avi Avraham, Leiter des Ermittlungsdezernats von Cholon-Ayalon bei Tel Aviv, auch den Roman Drei, den ich bei der Gelegenheit auch gleich angefangen habe zu lesen, eine Verbrechensgeschichte, erzählt aus der Sicht der Opfer. Ich bin noch mittendrin.
In Fenster ohne Aussicht aber schildert Mishani, wie er aus Anlass eines Krimifestivals und mehrerer damit verbundener Lesungen in Südfrankreich weilt, morgens um sechs Uhr im Hotel in Toulouse eine Nachricht seiner Frau in Tel Aviv liest – und so von den Ereignissen des 7. Oktober 2023 erfährt, dem Schwarzen Schabbat, der von jetzt an für immer ein zentraler Tag in der Geschichte Israels sein wird.
Mishani bricht seine Tournee ab, reist heim zu seiner Familie und beginnt dieses Tagebuch, das von den Gesprächen mit seiner Frau, der Mutter und den beiden Kindern handelt, die im Teenageralter sind. Der Sohn, der jüngere, ist den Ereignissen gegenüber geradezu teilnahmslos, obwohl er vielleicht schon bald zur Armee muss. Die Tochter, die ältere, politisiert sich und wird den Palästinensern gegenüber geradezu zur Falkin.
Mishani aber ist einer, der immer an den Frieden geglaubt und ihn erhofft hat und sich weigert, dies aufzugeben. Er lebt in Israel, mag sein Land, liebt seine Familie, aber er ist nicht einverstanden mit der Rechtlosigkeit, mit der viele Araber hier leben müssen. Sein Tagebuch schildert sein Ringen darum und gleichzeitig den israelischen Alltag, der nicht erst seit dem 7. Oktober oft bestimmt ist von Raketenalarm und der Flucht in den nächsten Bunker. Mishani war selbst Soldat, aber er hat den Dienst schon nach kurzer Zeit aufgegeben. Über diesen inneren Konflikt hat er damals als junger Mann seiner Mutter Briefe geschrieben, die er nun noch einmal liest, zwischen August und Oktober 1993, einen genau dreißig Jahre vor dem 7. Oktober 2023 von einem Stützpunkt in Samaria aus.
Er schildert die atemberaubende Schönheit der bergigen, felsigen Landschaft und ihm kommt der traurige Gedanke, dass niemand diese Schönheit genießen kann, weil die Soldaten Wache schieben müssen und aus Angst vor Anschlägen keine Ausflüge machen können, und weil den Arabern verboten ist, sich hier frei zu bewegen.
Was für eine Vergeudung von Leben, von Schönheit, von Natur. Genauso, wie ich hier vergeudet werde. Aber für mich besteht vielleicht noch Hoffnung. Für Samaria aber, so will mir scheinen, nicht mehr.
Dieses Wort Vergeudung hat sich mir eingebrannt. Es steht für mich über so vielem, was zurzeit geschieht, über dieser ungeheuren Vergeudung von Leben und Schönheit und Schöpfung, ob durch die Verbrechen Putins, den Vernichtungswillen Irans, die hemmungslose Gier und Ignoranz jener, die trotz des Klimawandels einfach weitermachen wollen wie bisher. Es ist eines der großen und fürchterlichen Motti der Menschheitsgeschichte.
Und es steht für unsere Aufgabe: sich immer wieder gegen diese Vergeudung zu wenden.
Dror Mishani, Fenster ohne Aussicht. Tagebuch aus Tel Aviv. Aus dem Hebräischen von Markus Lemke. 215 Seiten. Diogenes. 26 Euro
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