Axel Hacke's Blog, page 3

April 28, 2024

Haruki Murakami, Die Stadt und ihre ungewisse Mauer. DuMont

Was liest du gerade?, fragte mich jemand.

Ich lese das neue Buch von Haruki Murakami, dem Japaner, antwortete ich.

Und wie schreibt der?, fragte mein Gegenüber, der von Murakami noch nie etwas gelesen hatte.

Wie soll ich sagen?, antwortete ich. Es erinnert mich gerade sehr an Gabriel García Márquez‘ Hundert Jahre Einsamkeit, diese Vermischung von Welten, die Gleichzeitigkeit der Lebenden und der Toten. Er ist wie ein japanischer García Márquez, aber natürlich auch wieder ganz anders.

Wie anders?

Da ist nicht dieses Blumige, Farbige, Reiche. Es ist ganz ruhig erzählt, gemessen, still, könnte man sagen. Japanisch vielleicht, wenn ich nur besser wüsste, was das ist. Aber trotzdem oder gerade deswegen unglaublich spannend. Spannend nicht, weil man das Ende erfahren will, die Lösung, sondern einfach, weil dieses Erzählen selbst so spannend ist, weil es einen so in den Bann zieht.

Das sagte ich und zweifelte gleichzeitig daran, weil ich weder von Murakami noch von García Márquez so viel verstehe, dass ich mir ein solches Urteil erlauben könnte.

Aber das Seltsame war: Noch am selben Abend (und ich erfinde das nicht) gelangte ich im Buch an eine Stelle, an der Murakami sich ausdrücklich auf García Márquez bezieht. Er zitiert ihn, und dann lässt er seine Hauptfigur sagen:

Seine Geschichten mögen nach den Maßstäben der Kritik Magischer Realismus sein, aber für García Márquez selbst waren sie ganz gewöhnlicher Realismus. In der Welt, in der er lebte, vermischten sich das Reale und das Irreale völlig selbstverständlich, und er schilderte die Dinge so, wie er sie sah.

So ist das auch in diesem Buch, das auf einer Geschichte basiert, die Murakami als junger Autor schrieb und die er im Alter (er ist nun 75) wieder aufnahm und zu einem Roman ausbaute, sozusagen Jugendbuch und Alterswerk zugleich, wie der Rezensent Tobias Lehmkuhl im Deutschlandfunk festhielt.

Die Stadt mit der ungewissen Mauer ist ein Ort, den man nur betreten kann, wenn man vorher seinen Schatten bei einem Wächter abgibt, im Schattengehege, unwiderruflich im Grunde, aber dann doch nicht, wie sich später zeigt. Die Mauer ist die Grenze zwischen Leben und Tod, zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit, Realität und Irrealität (oder Surrealität?). Aber sie ist nicht fest gemauert, diese Mauer, sie war auch völlig unbestimmt. Je nach Situation und Gegenüber veränderte die Mauer ihre Härte und ihre Gestalt. Wie ein Lebewesen, heißt es im Roman.

So kommt es, dass in diesem Buch Menschen und ihre Schatten sich trennen und wieder zusammenkommen, dass die Hauptfigur, die keinen Namen hat, auf einen Mann namens Koyasu trifft, der längst tot ist und dennoch lange Gespräche führt. Das klingt seltsam, aber beim Lesen empfindet man das nicht so, sondern findet dieses Spiel zwischen Realität und Fantasie, mit Identität und Ich und Du und der Sehnsucht nach der Verbindung zu anderen Menschen und nach dem wahren, passenden, richtigen Leben, als ganz und gar schlüssig und sehr aufregend.

Und man lernt – falls man es noch nicht wusste – , dass Murakami einer der großen Schriftsteller unserer Zeit ist und dass Literatur die Welt so erschaffen kann, dass wir unsere Welt neu zu sehen lernen.

Haruki Murakami, Die Stadt und ihre ungewisse Mauer. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. 637 Seiten,DuMont, 34 Euro.

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Published on April 28, 2024 08:20

Hochverehrtes Publikum

Neulich fiel mir auf, dass ich in vielen Newslettern persönlich angeredet werde.

Sehr geehrter Herr Hacke, schreibt mir zum Beispiel seit langem ein gewisser Kurt Kister in seinem wöchentlichen Brief namens Deutscher Alltag, obwohl wir seit etwa vierzig Jahren Kollegen und gute Freunde sind.

Sehr geehrte(r) Antje Kunstmann, so meldet sich bei mir das Team der ESSER Gruppe, obwohl ich keine Ahnung habe, wer die Esser-Gruppe ist, aber egal, ich bin ja auch nicht Antje Kunstmann, wobei doch jeder wissen sollte, dass Antje ein weiblicher Vorname ist, also warum das (r)?

Hallo Axel, so nennt mich das SportScheck Team, das ich nicht kenne. Ciao Axel, das ist Splendido, der höchst interessante Rundbrief zum Thema italienische Küche. Hey Beauty, das ist Hair-Express, bei denen habe ich mal ein Sea-Salt-Spray für meine Haare gekauft. Hallo Herr Hacke, das ist die Firma Stihl, sie verkaufen Motorsägen und andere tolle Sachen, die ich brauche.

Nur ich rede hier niemanden an. Vielleicht wäre es technisch sogar möglich, hier jede und jeden persönlich anzusprechen? Ich habe das einfach vergessen, als ich mit diesem Brief angefangen habe, und jetzt finde ich es irgendwie nicht wichtig. Es führt ja auch, wie man sieht, manchmal zu Irrtümern.

Früher hätte man Liebe Leser geschrieben, aber das geht jetzt irgendwie nicht mehr. Bei einer Lesung habe ich mal immerzu von meinen Lesern gesprochen. Dann rief irgendwann eine Frau aus dem Publikum, ob ich eigentlich auch Leserinnen hätte. Da hätte ich nun mit einem Vortrag des Inhalts antworten können, das grammatische Geschlecht habe mit dem Sexus nichts zu tun, mit den Lesern seien immer auch die Leserinnen gemeint. Das hätte aber nichts genützt, weil sich die Dame im Publikum nun mal nicht gemeint fühlte. Also spreche ich seitdem immer von den Leserinnen und Lesern.  

So verändert sich Sprache, langsam und unmerklich. Denn wenn man einmal damit angefangen hat, kann man schlecht zurück. Wenn ich jetzt noch nur Leser schreiben würde, lautete die Frage zu Recht, wo denn die Leserinnen seien, sie waren doch sonst immer da. Manchmal schreibe ich nur Leserinnen, da sollen sich mal die Leser mitgemeint fühlen.

Die meisten Menschen sind ja konservativ, was ihre Sprache angeht. Sie hängen am Vertrauten. Geht mir auch so. Andererseits bin ich der Meinung, dass Sprache lebendig sein sollte, dass sie sich jeden Tag verändert, dass ihr Gebrauch auch das Bewusstsein für die Probleme der Welt schärft.

Ist doch interessant, das alles.

Die Zauberworte heißen Neugier und Ausprobieren. Sechzehnjährige reden heute manchmal so, dass jedes vierte Wort englisch ist. Vielleicht ist das in dreißig Jahren normal. The Times They Are a-Changin‘. Meine heute neunzehnjährige Tochter spricht fluently Englisch, was ich großartig finde, und wenn sie mit mir redet, ist jedes vierte Wort englisch, was mich bisweilen irritiert. Neulich benutzte sie das Wort uncanny, das ich nicht kannte. Ich fragte sie, was das bedeute.

Ihre Antwort lautete: creepy.

Das kannte ich wenigstens, es heißt unheimlich.

Aber man lässt sich natürlich ungern was vorschreiben, das ist vielleicht das größte Problem an der Sache: dass manche so im Gestus des Besserwissens auftreten, selbstgerecht auch. Man (nein, frau schreibe ich nicht) muss die Leute schon überzeugen, finde ich.

In einem Interview fragte man mich, wie ich zum Gendern stünde. Meine Antwort war: entspannt kritisch. Warum sich so viele Menschen darüber aufregten?, lautete die nächste Frage. Weil, so meine Vermutung, Sprache den Menschen nun mal so nahe sei. Und weil man damit ja irgendwie umgehen muss, entweder man macht es oder man macht es nicht, dazwischen ist wenig. Es ist also eine Entscheidung verlangt. Und weil es etwas mit Kontrolle zu tun hat. Menschen versuchen ja auch, mit dem Gendern Kontrolle über die Sprache zu gewinnen, andere möchten dieser Kontrolle entgehen. Und man hat diese Kontrolle dann ein wenig. Das ist in Zeiten sehr wichtig, in denen viele Menschen das Gefühl haben, ihnen entgleite diese Kontrolle über das Leben und die Welt.

Kontrollverlust macht Angst, und Angst kann aggressiv machen.

Was ich ablehne, das sind dämliche und ja, auch respektlose Bemerkungen von Frühvergreisten wie Friedrich Merz oder Thomas Gottschalk, à la man müsse jetzt wohl bald sagen: „Kannst du mir mal die Salzstreuerin reichen?“ Was ich auch ablehne, sind Sternchen oder Binnen-Is oder Glottisschläge, also die Genderpausen. Wobei ich glaube, dass die sich am Ende durchsetzen werden, meine Tochter benutzt sie ganz selbstverständlich.

Ist auch nicht schwer.

Ich warte das ab.

Seit Jahren bekomme ich den Newsletter des Residenztheaters in München, das ich regelmäßig und gerne besuche. Vor drei Jahren habe ich in einer Kolumne erwähnt, ich fände es fürs Theater, das doch auf sprechbare Sprache achten müsste, nicht angemessen, dass der Newsletterbezieher und die Newsletterbezieherin mit Liebe*r Newsletterleser*in angeredet würden. Irgendwann gleich danach lautete die Anrede dann plötzlich Liebe Newsletterleser*innen, das war schon besser.

Neuerdings heißt es Liebe Resi-Interessierte. Das Resi ist ja ein Staatstheater, also eine Behörde, und deshalb gilt auch hier seit dem 1.April das bayerische Genderverbot, vermute ich.

Ganz früher war es mal Liebes Publikum.

Leben wir, liebe Leserinnen, nicht in aufregenden Zeiten?

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Published on April 28, 2024 08:10

March 31, 2024

Monika Helfer, Die Bagage. dtv

Monika Helfer ist eine bekannte, mit vielen Preisen ausgezeichnete und sehr erfolgreiche österreichische Autorin.

Dennoch hatte ich bis vor Kurzem nie etwas von ihr gelesen. Vor Jahren sind wir in der Schweiz einmal bei derselben Veranstaltung aufgetreten, wir lasen beide Kolumnen, denn auch sie schreibt solche: in den Vorarlberger Nachrichten nämlich. Ich hörte ihr zu und dachte, nun müsse ich einen ihrer Romane lesen.

Endlich.

Das habe ich nun getan.

Endlich.

FOTO Buch

Ich las zuerst Die Bagage, 2020 erschienen, danach Löwenherz von 2022. Das ist eigentlich nicht die richtige Reihenfolge, nach dem ersten Buch hätte ich Vati von 2021 lesen sollen, es ist ja eine Art Trilogie. Aber ich bin ein unsystematischer Leser. Manchmal sehe ich ein Buch im Laden, schnappe es mir und lese gleich. So war es auch hier.

In Die Bagage wird eine Familiengeschichte erzählt, Monika Helfers eigene, nebenbei gesagt. Sie erzählt die in einer ganz eigenen, eigenwilligen und sehr spannenden Form aus Erfindung und Wirklichkeit, aus Vergangenheit und Jetzt-Zeit.

Die Bagage, das ist die Geschichte von Josef und Maria und ihren Kindern, die abseits eines Dorfes leben. Als der erste Weltkrieg ausbricht, wird Josef zum Militär gerufen, er geht in den Krieg, und Maria ist allein mit den Kindern. Sie ist eine schöne, starke, bewundernswerte Frau, der andere Männer nachstellen, weshalb Josef seinen Freund, den Bürgermeister, beauftragt, ein Auge auf Maria zu haben.

Das tut der auch, aber anders, als Josef sich das vorgestellt hat. Er stellt ihr nämlich auch nach. Maria bekommt während des Krieges ein weiteres Kind, die Grete. Wer aber Gretes Vater ist, das bleibt im Unklaren. Und weil das so ist, wird Josef „im Großen und Ganzen“ immer liebevoll zu den ersten vier Kindern sein, auch zu den zwei später geborenen.

„Nur dieses Mädchen verabscheute er, die Margarethe, die meine Mutter werden wird, weil er dachte, dass sie nicht sein Kind sei. Er hatte keinen Zorn auf sie, keine Wut; er verabscheute sie, er ekelte sich vor ihr, als würde sie nach dem Zudringling riechen ihr Leben lang. Sie schlug er nie. Die anderen Kinder manchmal. Die Grete nie. Er wollte sie nicht einmal im Schlagen berühren. Er tat, als gäbe es sie nicht. Er habe bis zu seinem Tod nie ein Wort mit ihr gesprochen.“

Es ist eine Geschichte aus der Sprachlosigkeit und manchmal Grausamkeit des Land- und Berglebens, und es ist auch eine Familiengeschichte, wie es viele Familiengeschichten gibt, mit den Geheimnissen, der Liebe, Eifersucht, Missgunst, Zurücksetzung, dem Zusammenhalt, der Härte, der Kraft, der Gemeinheit auch. Erzählt in einer einfachen, schmucklosen, kraftvollen Sprache.

Ich habe mich auf jeden Abend dieses Lesens gefreut. Leider waren es nicht viele, denn ich las das Buch zügig durch. Aber dann kam Löwenherz, auch Vati wird eines Tages kommen und vieles andere von Monika Helfer noch.

Monika Helfer, Die Bagage, dtv 11 Euro

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Published on March 31, 2024 08:20

Wie eine Kolumne entsteht – ein Making-of

Meine wöchentliche Kolumne im Süddeutsche Zeitung Magazin schreibe ich seit 1997, das sind fast 27 Jahre. Sie hieß zuerst Das Beste aus meinem Leben, seit 2008 nennen wir sie Das Beste aus aller Welt.

Schon vorher habe ich – aber nicht wöchentlich – Kolumnen in diesem Magazin geschrieben und fünf Jahre lang gleichzeitig (bis es selbst mir zu viel wurde) eine wöchentliche Kolumne in der Sonntagsausgabe des Tagesspiegels in Berlin. Bedenkt man, dass ich in den Jahren von 1985 bis 2000 sehr intensiv am Streiflicht der Süddeutschen Zeitung mitgearbeitet habe, das ja eine tägliche Kolumne ist und seit 1946 existiert, bedenkt man weiter, dass ich 68 Jahre alt bin, habe ich in mehr als zwei Dritteln meines Lebens Kolumnen verfasst.

Ich habe also länger Kolumnen geschrieben, als ich nicht Kolumnen geschrieben habe.

Als im März 2015 Das kolumnistische Manifest erschien, hatte ich genau 1.001 Kolumnen veröffentlicht. Mehr als 200 von ihnen finden sich im Buch. Jetzt sind es dann also fast 1.500.

Ist das nicht ein irrsinniger Stress?, werde ich des Öfteren gefragt.

Ja, sage ich.

Am Anfang habe ich nach dem Aufstehen (nachmittags gegen 15 Uhr, das ist normal bei Schriftstellern) und einem reichhaltigen Aspirin-Frühstück drei Stunden lang abwechselnd warm und kalt duschen müssen, bis ich endlich eine Idee hatte, habe dann zu einer üppigen Mahlzeit eine Flasche Rotwein getrunken, gegen 21 Uhr mit der Arbeit begonnen, dabei ein Fläschlein Arbeitswhisky verzehrt, schließlich in einem meiner Stammlokale das Ergebnis mit den engsten 27 Freunden gefeiert.

Nein, Scherz jetzt. Noch mal.

Ist das nicht ein irrsinniger Stress?, werde ich des Öfteren gefragt.

Nein, sage ich.

Obwohl: früher schon.

Das Verfassen eines Streiflichts innerhalb weniger Stunden, immer im Wissen, dass eine ganze Tageszeitung ohne diesen Text nicht erscheinen kann – das war schon sehr sportlich. Aber ich wollte es schaffen und habe es auch immer geschafft, natürlich. Einmal habe ich bis morgens um fünf mit Wolfgang Joop, den ich für die Zeitung porträtieren sollte, in der Paris Bar in Berlin, ähem, recherchiert, bin dann voll des Weines, den ich bei der Arbeit hatte trinken müssen, ins erste Flugzeug nach München gestiegen und darauf in die Redaktion der Zeitung gefahren. Dort habe ich ein Streiflicht geschrieben, und es war nicht mal mein schlechtestes.

Allerdings erinnere ich mich nicht mehr an das Thema.

Lange vorbei. Heute meditiere ich morgens um sechs zwanzig Minuten, treibe dann eine Stunde Sport, dusche habeck (d.h. kurz) warm, dann lange kalt, frühstücke und sitze gegen acht am Schreibtisch.

Echt.

Das Kolumnenschreiben ist mir unterdessen zur Gewohnheit geworden. Ich weiß gar nicht mehr, wie das Leben ohne Kolumne ist, es ist einfach zu lange her. Ich äußere mich quasi gewohnheitsmäßig in dieser Form schriftlich, das kann man gar nicht mehr weglassen. Ich würde dann vielleicht in mich zusammenfallen wie eine Lunge, die man dem Brustkorb entnimmt, wo sie dort durch Unterdruck in Form gehalten wurde und dann zusammenfällt.

Ohne Kolumne wäre ich nichts als ein leer herumliegender grauer Sack.

Wahrscheinlich werde ich noch aus dem Sarg heraus einen letzten Text senden. Oder einen vorletzten.

Ich habe geschrieben, auch als ich krank war und nachdem mich schwere Schicksalsschläge ereilt hatten. Die Kolumne hält mich am Leben, sie ist die Krücke, an der ich durchs Leben gehe. Wobei: Kolumne kommt von columna, die Säule, die Stütze. Also: Es handelt sich um die Säule, die mein Lebensgebäude stützt.

Na gut, seit einer Weile haben wir vier auf Vorrat geschriebene Reservetexte, die wir auch schon mal gebraucht haben. Früher ist es ohne gegangen, seltsam eigentlich.

Als Michael Ebert, zusammen mit Timm Klotzek Chefredakteur des SZ-Magazins, vor langer Zeit sein Amt antrat, hatten wir die Reserve noch nicht. Ich arbeitete ohne Netz und doppelten Boden.

Wo denn die Reservetexte seien, fragte Michael. Wie man da rankomme, im Notfall.

Es gibt keine, sagte ich.

Das geht doch nicht, sagte er.

Haben wir noch nie gebraucht.

So was Ähnliches sagen die Betreiber von Atomkraftwerken auch immer, sagte er.

Das hat mich überzeugt. Ich war ja damals so eine Art Atomkraftwerk und musste mit größtmöglicher Sicherheit betrieben werden. Inzwischen habe ich mich aber auf regenerierbare Energien umgestellt. Wind, Sonne und Kaffee. Man fühlt sich besser.

Die Kolumne erscheint jeden Freitag, wie das Magazin auch, ohne Magazin geht‘s ja nicht, wieso auch? Ich schreibe sie mittwochs. Das geht so, die Produktion also: Montags telefonieren Johnny Waechter, der beste Redakteur der Welt, und ich. Wir tauschen unsere Ideen aus. Manchmal haben wir auch keine Ideen, dann tauschen wir nichts aus, sondern reden nur so herum. Es geht hin und her und ping und pong. Ich bin keiner, der gern lange allein herumgrübelt, mir kommen die Ideen oft beim Quatschen, und das kann ich mit Johnny sehr gut. Bedenkt man, dass wir seit beinahe zwanzig Jahren (vorher war Susanne Schneider meine Redakteurin, ist es bisweilen heute noch. Wie schön war auch das und ist es noch!) ungefähr fünf oder sechs Mal pro Woche telefonieren, habe ich mit ihm wahrscheinlich schon mehr telefoniert als früher mit meiner Mutter. Im Grunde ist er sogar wie eine Mutter zu mir. Jedenfalls am Telefon.

Übrigens bestimmen immer wir beiden das Thema. Das nur für jene Leute, die immer denken, man bekommt von der Chefredaktion oder den Verlegern gesagt, was man zu schreiben habe. Die Chefredaktion treffe ich einmal im Jahr zum Mittagessen, es sind extrem angenehme und liebe Kollegen.

Die Verleger kenne ich nicht.

Dienstags müssen wir dann ein Thema haben, das ist Gesetz. Ich möchte nicht morgens ohne Thema ins Büro gehen, das habe ich früher gemacht, es ist mir zu anstrengend. Manchmal habe ich mittwochs aber trotzdem kein Thema, weil wir uns nicht ans Gesetz gehalten haben. Dann stehe ich sehr früh auf, sage zu meiner Frau, ich wisse noch nicht, worüber ich schreiben solle (sie weiß dann, dass es ERNST ist, sehr ERNST), und sitze schon um 7 Uhr am Schreibtisch.

Etwa um 12 gebe ich meinen Text ab. Immer. Manchmal um 12.30 Uhr. Nie später.

Dirk Schmidt, der seit 1997 die Kolumne illustriert, auch die Bilder zu meinen Büchern Das kolumnistische Manifest sowie Oberst von Huhn bittet zu Tisch lieferte und zusammen mit seiner Mutter Barbara einige wunderschöne Kinderbücher gemacht hat, Dirk Schmidt also muss dann noch seine Zeichnung machen. Dazu braucht er auch etwas Zeit. Hier in diesem Brief zeigen wir, wie das geht, von seinem ersten Entwurf bis zur fertigen Kolumne, die in diesem Fall am Freitag vor einer Woche erschienen ist. Ich liebe seinen Strich. Er ist die absolute Idealbesetzung. Übrigens sehe ich seine Zeichnung immer erst im fertigen Magazin, nie vorher.

Hätten Sie auch nicht gedacht, was?

In diesem Fall ging es um Erdermüdung, es ist die Kolumne vom 15. März. Johnny Waechter hatte den Begriff in einem Interview mit Ajay Singh Chaudhary entdeckt, dem Direktor des Brooklyn Institute for Social Research. Der hat ein Buch mit dem Titel The Exhausted of the Earth geschrieben, und wir hatten sein Interview so verstanden, als stelle er die These auf, die Erde sei in den 4,5 Milliarden Jahren ihrer Existenz ein wenig müde geworden und unser aller Müdigkeit hänge sozusagen mit der Müdigkeit des Planeten zusammen.

Nach genauerer Lektüre stellte Johnny dann allerdings fest, dass Chaudhary die These so gar nicht aufgestellt hatte. Da war es aber schon Dienstagnachmittag, und ich antwortete, dass ich die These dann eben selbst aufstellen werde, das könne mir keiner verbieten. So habe ich es dann gemacht.

Am Schluss der Kolumne schrieb ich:

Ach, Ihr welken Kletten da draußen, Ihr seid nicht schuld an Eurer Müdigkeit. Es ist die Welt, die Euch ermattet, die allgemeine Erdermüdung. Das ist tröstlich, oder? Aber jetzt hört mir zu! Ich habe nun so oft die Wörter müde, erschöpft, schlapp, schlaff hingeschrieben, dass ich sie satthabe. Diese Wörter. Ich bin der müden Wörter müde. Ich bin erschöpft von all der Erschöpfung.

Wacht auf, Erschlaffte dieser Erde!

Ich zitiere die Lutherbibel: „Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn's hoch kommt, so sind's achtzig Jahre, und wenn's köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fährt schnell dahin, als flögen wir davon.“ Wollt Ihr die Zeit mit Beschreibungen Eurer Erschöpftheit verbringen?

Raus jetzt an die frische Luft!

Echt jetzt, ich meine, so geht’s doch nicht.

Auf diese Zeilen bezieht sich Dirk Schmidts im Newsletter 39 / 2024 abgebildete Illustration, die hier im Internet nicht abgebildet werden kann.

Wenn Johnny Waechter den Text gelesen hat, redigiert er ihn. Er beseitigt also meine Fehler und findet heraus, ob ich Quatsch geschrieben habe. Gleichzeitig bekommt die Schlussredaktion die Kolumne. Sie prüft alle im Text vorkommenden Fakten auf ihre Richtigkeit hin. Hätte ich geschrieben, die Erde sei erst 5.000 Jahre alt, würden sie das herausfinden, bzw. sowieso schon wissen und korrigieren. Ich bin kaum jemandem auf der Welt dankbarer als den Leuten dort. Sie wissen eigentlich alles, was es auf der Welt zu wissen gibt, eher mehr.

Dann lesen den Text noch der Textchef und die Chefredaktion. Ganz ohne Aufsicht kann man mich nicht lassen.

Und dann erscheint er. Hier können Sie den Text lesen, den Dirk Schmidt illustriert hat, und hier die Kolumne vom Karfreitag bzw. Gründonnerstag. Manchmal beschweren sich übrigens Menschen, dass sie die Zeitung abonnieren müssten, um die Kolumne lesen zu können. Ich sage dann, sie sollten sich einfach vorstellen, sie abonnierten die Kolumne und bekämen die beste Zeitung Deutschlands gratis dazu. Ein besseres Geschäft gebe es doch gar nicht.

Das sehen die Menschen eigentlich immer ein.

Wenn die Kolumne erschienen ist, gibt es das sogenannte Wochenende.

Danach ist wieder Montag.

PS: Am Ende der Kolumne erscheint immer ein kleiner, meistens lustiger Kasten über den Autor und den Text. Wer den eigentlich schreibe, werde ich immer gefragt. Ich antworte, meistens blödelten Johnny Waechter und ich zehn Minuten herum, dann hätten wir eine Idee oder auch nicht. Wenn nicht, ziehen wir uns zu Beratungen mit unserem jeweiligen Selbst zurück. Dann telefonieren wir wieder. Dann haben wir eine Idee. Dann sagt Johnny Waechter, er schreibe die Idee mal auf und schicke mir den Text. Dann schickt er ihn mir. Dann schreibe ich zurück, wie super der Text sei und bedanke mich. Dann erscheint der Text.

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Published on March 31, 2024 08:07

February 25, 2024

Ist der Landwirt Tod?

Im Brief vom Januar hatte ich ein Bild von den Demonstrationen der Landwirte gezeigt. Auf einem Transparent stand der Slogan, in etwas verquerer Orthographie. Sie sähen nicht, sie ernten nicht, aber sie wissen alles besser. Es ging dann um die Aggressionen, die das auf Facebook ausgelöst hatte, aber das ist Schmäh von gestern. Gut gefällt mir immer noch meine eigene Abwandlung des Satzes: Ich säe was, was du nicht siehst.

Es gab Leserinnen, die vorschlugen, diesen Satz sollten doch die Bauern bei ihren Kundgebungen übernehmen. Ich habe aber nichts gehört vom Bauernverband.

Nun schickt mir Leserin Z. aus Dresden ein Bild, das sie bei einem Ausflug in die Sächsische Schweiz gemacht hat.

Ist der Landwirt Tod, gibt es kein Brot!

Sie schreibt dazu: „Kann denn die Leute keiner lehren, wie man schreibt?“

Ach, was soll man sagen? Ist der Landwirt Tod, das klingt gruselig, nicht wahr? Frau Z. schlug vor, sie hätten wenigstens Brod schreiben sollen, dann hätte es noch Witz gehabt.

Was soll’s? Ich kann keine Traktoren reparieren, keine Kühe melken und keine Hähnchen mästen, also, warum soll der Bauer ein Orthograph sein?

Irgendwie erinnert mich der Satz an die berühmten Bauernregeln à la Ist der Winter kalt und weiß, wird der Sommer lang und heiß oder Bringt der Juli heiße Glut, gerät auch der September gut.

Oder, um bei der oben angeschnittenen Thematik zu bleiben: Liegt der Bauer tot im Zimmer, lebt er nimmer!

An den oben zitierten Versen ist ja neben der mangelhaften Rechtschreibung auch eine gewisse Holprigkeit zu bemängeln, im zweiten Teil fehlt einfach eine Silbe, und es müsste besser heißen:

Ist der Landwirt mausetot, gibt’s für uns kein Butterbrot.

Ich habe dann zwei Stunden im Büro damit vertändelt, Verse dieser und aller möglichen Art zu schmieden, einfach so, aus Spaß. Das ist ja das Schöne an meinem Beruf: Wenn ich Lust dazu habe, mache ich das einfach, auch wenn es nicht zur Veröffentlichung gedacht ist. (Das hier ist ja keine Veröffentlichung, es ist nur ein Brief aus dem Büro.)

Zuerst habe ich die Gruselvariante noch auf andere Berufe ausgedehnt, so eine Art Krimi-Verse.

Liegt der Metzger tot im Laden, gibt’s heut‘ keinen Rinderbraten.

Liegt der Bäcker tot im Ofen, kannste auch nicht Brötchen koofen.

Liegt der Diplomat im Grab, stempelt er kein Visum ab.

Liegt der Friseur auf einer Bahre, schneidet er heute keine Haare.

Liegt der Gastwirt überm Tresen, ist es das mit Bier gewesen.

Liegt der Klempner still im Becken, wird die Dichtung weiter lecken.

Liegt der Autor unter Kiefern, kann er erstmal nichts mehr liefern.

Hängt der Dichter von der Fichte, gibt’s leider keine Frischgedichte.

Dann habe ich mich am Positiven versucht.

Ist der Landwirt noch am Leben, wollen wir ihm Diesel geben.

Schafft der Bauer auf den Feldern, mangelt’s nicht an Steuergeldern.

Steht der Landmann gut im Futter, schmeckt auch uns die Bauernbutter.

Ach, einer noch:

Will der Bauer strammen Max, eilt er zu seiner Mama stracks.

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Published on February 25, 2024 08:04

January 28, 2024

Ich säe was, was du nicht siehst

Leserin R. schickte mir ein Bild aus der Landshuter Zeitung, auf dem demonstrierende Landwirte abgebildet waren mit ein Plakat und der Aufschrift Sie sähen nicht, sie ernten nicht aber sie wissen alles besser. Sie fand das witzig und ich auch, also postete ich es auf meiner Facebook-Seite, nicht übrigens, weil ich zum Ankläger der doofen Bauern, die keine Orthographie können, aufschwingen wollte, sondern … verstehen Sie? Also … weil ich es halt lustig fand.

Ich schrieb also dazu: Ich säe was, was du nicht siehst.

Dann lernte ich, dass heute nichts einfach nur lustig ist.

Hunderte von Leuten schrieben, so zum Beispiel.

Wie armselig sich an einem Rechtschreibfehler so hoch zu ziehen. Ich bin den Landwirten für ihr Handeln sehr dankbar, schrieb Frau S.

Schon interessant, an was sich manche Schreiber hier abreagieren. Niemand ist Perfekt, meldete Herr V.

Ein Rechtschreibfehler, oh mein Gott... Da hast du es den Bauern aber mal gezeigt. Damit ist aller Protest natürlich komplett delegitimiert. Ein Hoch auf unsere Regierung!!!!, teilte Herr L. mit.

Oder so.

Frau R.: Natürlich passieren mir auch Rechtschreibfehler. Aber wenn ich ein Plakat in die Öffentlichkeit bringe, lese ich es vorher nochmal durch. Und wenn ich mir unsicher bin, vergewissere ich mich. Das hat für mich etwas mit Respekt gegenüber denen zu tun, die das Plakat lesen.

Herr S.: Wenn man die Anderen als Besserwisser betitelt, sollte man aber doch seinen eigenen Arbeitsbereich fehlerfrei beschreiben können. Dann klappt es bestimmt auch besser mit den Verhandlungen mit Müller und den Discountern.

Herr M.: bestimmt einer von denen, die die Fehre stürmen wollten!

Liebe Freundinnen und Freunde, hätte ich am liebsten geschrieben, mir ging es weder darum, jemanden wegen eines Fehlers anzuklagen noch überhaupt diesen Fehler zu bemängeln. Ich verstehe gut, wenn ein Landwirt Rechtschreibfehler macht, so wie ich es auch verstehe, wenn jemand, der nicht hier geboren ist, im Deutschen Fehler macht. Ich mache zum Beispiel im Italienischen selbst immerzu schreckliche und lächerliche Fehler.

Aber Sprache hat ihre eigenen Gesetze, sie ist im Richtigen wie im Fehlerhaften manchmal lustig. Um nichts anderes ging es mir. Ich habe einige Bücher darüber geschrieben, von Oberst von Huhn bittet zu Tisch bis Im Bann des Eichelhechts.

Aber soll ich mich in jedem Facebook-Post langwierig erklären? Keine Lust.

Es waren nahezu tausend Kommentare. Wobei es ja nicht lange bei der Rechtschreibung blieb. Im Nu ging es nämlich um die Demonstrationen der Bauern.

Herr T. schrieb: Sie säen nicht, sie ernten nicht, denn sie halten uns Arbeitende von der Arbeit ab, weil sie den Hals nicht voll bekommen.

Dann ging es richtig los. Von Frau M. (Bei dem kommt das Essen aus dem Supermarkt. Der macht sich keine Gedanken, wo es herkommt.) bis zu Herrn G. Er schrieb: a********, tatsächlich, die Zahl der Sternchen war exakt abgezählt, es passt. Wobei ich ja finde, wer Arschloch meint, aber a******** schreibt, ist mindestens ein Spießer, auf jeden Fall aber ein Feigling.

Außerdem, wenn schon, würde ich doch lieber Aoooooooo schreiben.

Es war jedenfalls alles dabei, von längeren Elaboraten über die Lage der Landwirtschaft bis hin zu knappen oder auch ausführlicheren Beleidigungen, die ich dann immer gleich lösche. Unfassbar eigentlich.

Aber es zeigt doch: Der Kampf gegen die Humorlosigkeit ist mindestens so wichtig wie der gegen den Faschismus.

Eigentlich ist es sowieso das Gleiche. Wobei: Nicht jeder Humorlose ist ein Faschist, aber alle Faschisten sind humorlos. Putin auch. Erdogan. Trump. Die Islamisten.

Aber da war noch was.

Am Schluss postete jemand das Bild eines Traktors, der ein Transparent trug, darauf die Frage, warum wir Radwege in Peru finanzierten, wenn unsere eigenen Brücken marode seien.

Tatsächlich war auf den Demonstrationen der Bauern immer wieder von den Radwegen in Peru die Rede, auch die Summe von 315 Millionen Euro tauchte auf, mit der wir angeblich Radwege in Peru bezahlten, wobei Radwege in Peru verdächtig nahe am Sack Reis in China ist. Soll heißen: Was geht’s uns an?

Das ist ja die große Frage unserer Zeit: Was geht uns die Welt an?

Geht man der Sache nach (wie es einige Journalisten getan haben), stellt man fest, dass von den 315 Millionen Euro zum ersten Mal in einer Rede der früheren AfD-Abgeordneten Joana Cotar (heute fraktionslos im Bundestag) war: 315 Millionen für Busse und Radwege in Peru, und warum wir sowas bezahlten. Sonst hat niemand die Zahl irgendwo gefunden. Was nichts daran änderte, dass sie seitdem fleißig benutzt wird. So ist das nun mal.

Ich mache es kurz: Aus den Zahlen des Entwicklungsministeriums geht hervor, dass Deutschland 2020 (der zuständige Minister hieß Gerd Müller von der CSU) einen Zuschuss für den Ausbau eines Radschnellwegenetzes in Lima genehmigte, einer der Städte mit der schlimmsten Luftverschmutzung auf der Welt. Zur gleichen Zeit wurden 55 Millionen als Kredit für den Aufbau eines umweltschonenden Bussystems gegeben. 2022 wurde weitere 24 Millionen Euro für Radwege in Peru zugesagt, ebenso weitere hundert Millionen als Kredit, vergeben durch die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW). Kredite sind rückzahlbar, Zuschüsse nicht.

Von 315 Millionen keine Spur.

Jetzt wäre noch die Frage, ob es richtig ist, wenn eines der reichsten Länder der Welt, dessen Wohlstand nicht ganz ohne jeden Zusammenhang mit der Ausbeutung ärmerer Regionen ist, ein armes Land bei der Bekämpfung der Klimakrise unterstützt. Ich finde schon. Ich halte das für gerecht und vernünftig.

Man kann aber auch sagen: Die Welt ist uns egal, wir allein sind wichtig.

Aber das gehört nicht hierher.

Hierher gehört schon eher ein anderer Punkt: wie nämlich unbegründete Behauptungen und falsche Zahlen ihren Weg in die Öffentlichkeit finden. Man behauptet sowas einmal im Bundestag, dann wird es von den passenden Medien wiederholt und noch mal wiederholt, dann kursiert es in den sozialen Medien und am Ende landet es als Transparent auf einem Trecker.

So geht das mit den Lügen. So sät man sie. Und hofft, eines Tages zu ernten. Es wäre dumm, wenn wir das nicht sähen.

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Published on January 28, 2024 07:58

December 31, 2023

Der Aufräumer

Im Grunde bin ich ein ordentlicher Mensch, aber meinem Büro sah man das seit Jahren nicht mehr an. Ich hatte einfach so viel zu tun und war so viel auf Reisen, dass ich nichts mehr dahin legte, wo man es hätte wiederfinden können, sondern alles nur noch auf große Stapel von Büchern, Briefen, Akten, Zeitschriften warf. Es war fürchterlich und am Ende so schlimm, dass ich mein Büro zu hassen begann, in dem ich nur noch herumstaksen konnte wie ein Storch im Salat. Ab einem gewissen Punkt war ich soweit, dass ich glaubte, man könne dieses Büro ohnehin nie mehr in Ordnung bringen, alles sei sinnlos, und ich müsste den Raum aufgeben und einfach ein neues Büro beziehen.

Irgendwann raffte ich mich aber doch auf und schaffte wenigstens soweit Ordnung, dass der Fußboden des Arbeitszimmers wieder zu sehen war und sich alle Bücher in den Regalen befanden, wenn auch unsortiert. Im Rahmen dieser Arbeiten verlagerte ich sechs Schachteln jeweils ein Regal tiefer. Sie haben Schubladen, in denen ich Rechnungen für meine Umsatzsteuer und für die Krankenversicherung aufhebe, aber – der Mensch ist ein Gewohnheitstier – nun lege ich diese Belege immerzu in die falschen Fächer, weil meine Bewegungen aus Jahren des Chaos so automatisiert sind, dass ich stets in falscher Höhe ins Regal fasse. Ich lege also Quittungen von meinen Lesereisen in die weiße statt in die grüne Schublade und Arztrechnungen versuche ich zwischen die Bücher von Sempé und Wilhelm Busch zu stopfen, bis ich merke, dass ich mich langsam mal umstellen muss.

Übrigens dauert Aufräumen bei mir immer sehr lange. Ich finde ja dauernd etwas, das ich gar nicht gesucht habe, meine erste Kolumne für das Süddeutsche Zeitung Magazin zum Beispiel, erschienen am 25. Mai 1990. Das ist beinahe 24 Jahre her, und da ich demnächst 68 werde, stelle ich fest, dass ich schon mein halbes Leben lang solche Kolumnen schreibe. Das hat mich so melancholisch gestimmt, dass ich erst einmal nicht weiter aufräumen konnte, dann aber doch.

Später fand ich einen Zeitungsartikel mit dem Titel Der Wurzelhalsschnellkäfer steht für eine zwecklose Welt. Ich entdecke den Text seit Jahren jedes Mal, wenn ich aufräume, und jedes Mal überlege ich auch, ob ich ihn endlich wegwerfen sollte. Ich tu’s dann doch nicht, auch diesmal habe ich es nicht getan. Irgendwie reizt mich diese Wendung zwecklose Welt.

Warum? Wir leben in einer komplett verzweckten Welt, kaum jemand tut etwas um seiner selbst willen. Man treibt Sport, um fit zu bleiben, isst gesund, weil man alt werden möchte, verreist, um sich zu erholen. Warum tun wir all das nie, weil wir den Sport selbst genießen, das Essen und das Reisen auch?

Außerdem würde ich, wenn ich nicht schon Schriftsteller wäre, am liebsten Koleopterologe sein – Käferkundler also – und meine Tage mit Käferjagd und Käferbestimmung verbringen. Einfach nur so. Zwecklos. Da müsste man vielleicht auch nicht so viel aufräumen. Außer ein paar Käferbeinchen.

Na ja, das alles wäre mal eine Betrachtung wert. Eine Kolumne. Demnächst oder erst nach dem nächsten Aufräumen?

Ach, Kolumnenthemen brauche ich immer. The beat goes on.

Und Bücher schreiben muss ich ja auch noch. Im Regal mit meinen eigenen Werken (ich hebe pro Buch immer drei Exemplare auf) habe ich neben der Heiterkeit in schwierigen Zeiten schon Platz für das nächste Buch geschaffen, das aber erst im Spätsommer erscheinen wird.

Es ist einfach schön zu wissen, wo es einmal stehen wird.

Jetzt muss ich es nur noch schreiben.

Das konnte ich bisher nicht. Ich musste aufräumen.

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Published on December 31, 2023 07:56

October 20, 2023

Emmanuel Carrère, V13. Die Terroranschläge in Paris. Gerichtsreportage. Diogenes

Vielleicht muss man diesem Buch eine Triggerwarnung für empfindliche Gemüter voranschicken. Es ist nämlich an gewissen Stellen nicht leicht zu ertragen. Es geht um die Anschläge in Paris am Freitag, 13. November 2015 (vendredi 13, daher der Titel V13). In der Konzerthalle Bataclan, auf den Terrassen mehrerer Cafés und Restaurants und vor dem Stade de France (während des Spiels Frankreich-Deutschland) wüteten islamistische Terroristen. Sieben von ihnen sprengten sich in die Luft, 131 Menschen rissen sie in den Tod, fast 700 wurden verletzt und viele mehr schwerst traumatisiert. In V13 wird der gesamte Prozess vom September 2021 bis zum Juli 2022 geschildert - und das geht nicht ohne fürchterliche Details des Gemetzels insbesondere im Bataclan.

Das alles ist aber nicht nur auszuhalten, sondern als Lektüre dringlich zu empfehlen, weil Emmanuel Carrère mit seinem Buch ein Meisterwerk gelungen ist. Carrère ist ein in Frankreich und auch darüber hinaus sehr bekannter Schriftsteller und Filmemacher, vielmals preisgekrönt. Er begleitete den Prozess für den Nouvel Observateur und schrieb dann dieses Buch, das heißt, er tat zehn Monate lang beruflich nichts anderes als im Gerichtssaal zu sitzen und den Opfern und ihren Angehörigen, den Staatsanwälten, Nebenklägern und Verteidigern, den Zeugen, Polizisten und Angeklagten zuzuhören.

Ich würde diesem großartigen Werk eine geradezu reinigende Kraft zuschreiben. Das hat einerseits mit den prozessualen Prozeduren zu tun, den klaren und nüchternen Regeln, die sichtbar machen, was gesehen werden muss, es ordnen, klären und am Ende einem Urteil zuführen. Es kommt hier aber auch auf den Autor an, der sich an Spinozas großes Gebot hält: „nicht urteilen, nicht weinen, nicht toben, nur verstehen“.

So arbeitet Carrère, und das ist im höchsten Maße beeindruckend, zumal er ein unglaublich guter Autor und sein Text von Claudia Hamm hervorragend übersetzt ist. Ich habe mir vieles angestrichen in diesem Buch, eines möchte ich noch zitieren, die Sätze nämlich, die er nach dem Plädoyer der drei Staatsanwältinnen und Staatsanwälte notierte.

„Ich weiß nicht, ob dieser Charakterzug einen guten oder schlechten Richter aus mir machen würde, aber ich lasse mich leicht überzeugen. Ich schließe mich den Überlegungen von anderen leicht an, was einerseits eine Qualität ist - Unvoreingenommenheit -, andererseits eine Schwäche, die Gefahr, ein Fähnchen im Wind zu sein, das immer die Meinung dessen teilt, der das letzte Wort hat. Meine innere Überzeugung ist labil und unentschieden. Nachdem ich also zu Protokoll genommen habe, was mich an der Anklagerede überzeugt hat - so ziemlich alles -, nehme ich mir vor, mit wachem Blick zu beobachten, wie ich mich davon abbringen lassen werde.“

Und, halt, noch dieses auch, nur um zu zeigen, dass Verstehen am Ende nicht Urteilslosigkeit bedeutet. Denn dies schrieb er zum Ende der Verhandlung hin über einen Angeklagten, der überlebte, weil er seinen Sprengstoffgürtel nicht zündete.

„Bis zum Erbrechen hat man sich, ich auch, Fragen zu den Gemütszuständen von Salah Abdeslam gestellt. Hat ihn sein Sprengstoffgürtel im Stich gelassen? Hat er Angst bekommen? Hat er einen Anfall von Menschlichkeit gehabt? Sind seine Bitten um Entschuldigung aufrichtig? Aber was bedeutet schon seine Aufrichtigkeit? Was kümmern uns die Gemütszustände von Salah Abdeslam? Ein mickriges Mysterium: eine von Lügen umhüllte, abgrundtiefe Leere, mit der sich so eingehend beschäftigt zu haben man im Nachhinein ein wenig entsetzt ist.“

Abdeslam, so urteilten die Richter, wird bis zu seinem Tod im Gefängnis sitzen. (Gerade erst wurde er in Brüssel in einem weiteren Terrorprozess erneut zu lebenslänglicher Haft verurteilt.) 

Emmanuel Carrère, V13. Die Terroranschläge in Paris. Gerichtsreportage. Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Matthes & Seitz Berlin, Diogenes, 25 Euro

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Published on October 20, 2023 03:43

Kent Haruf, Das Band, das uns hält. Diogenes

Kent Haruf habe ich spät entdeckt, durch einen Literaturtipp vor zwei, drei Jahren irgendwo, von Matthias Brandt, glaube ich. Er empfahl Unsere Seelen bei Nacht, das auch mit Robert Redford und Jane Fonda verfilmt wurde. Es war der Hammer, ich fraß den kleinen Roman in drei Tagen. Danach kam Ein Sohn der Stadt. Als ich den zugeklappt hatte, beschloss ich, nun alles von Haruf zu lesen. Das ist nicht so schwer, er hat nur sechs oder sieben Romane geschrieben, 2014 ist er gestorben, leider schon mit 71.

Und jetzt bin ich beim letzten angekommen, glaube ich jedenfalls.

Jetzt habe ich Das Band, das uns hält abgeschlossen.

Alle Bücher Harufs spielen in einer Kleinstadt in Colorado. Sie heißt Holt, und es gibt sie nur in Harufs Geschichten. Der Ort ist fiktiv, und das Personal seiner Bücher hat, soweit ich das sehe, manchmal Überschneidungen, manchmal nicht. Die Gemeinsamkeit aller Bücher ist diese kleine, unbedeutende, nichtssagende und doch eigenartige und schöne kleine Stadt irgendwo in der Weite der Great Plains – und vor allem das einfache, schwierige, manchmal schöne, fast immer scheiternde und doch hoffnungsvolle Leben der Leute dort.

Auch Das Band, das uns hält hat den großartigen Sog, der von allen Romanen Harufs ausgeht. Man will immer weiter und freut sich auf jede Stunde des Lesens. Hier geht es um das Leben der 80jährigen Edith Goodnough und um die Existenz der Menschen um sie herum, ihres fürchterlichen tyrannischen Vaters Roy zum Beispiel, den Bruder Lyman und um die Nachbarfamilie Roscoe, deren Sohn Sanders Roscoe der Erzähler ist. Sie alle leben auf einsamen Höfen ein paar Meilen von Holt entfernt. 

Über jede dieser Existenzen bricht, wie in alle Büchern des Autors, eine Tragödie herein, mit der die Leute fertigwerden müssen – und dieses Ringen schildert Haruf in seiner dichten, farbigen, unspektakulären, plastischen Sprache, der man nicht auskommt und selbstverständlich auch nicht auskommen will, warum denn? Jedes seiner Bücher entfaltet einen unwiderstehlichen Sog. Ich wollte schon nach wenigen Seiten nie mehr weg aus Holt, wollte nur noch diese Geschichten lesen, nichts sonst. Haruf konnte erzählen - oh, wie er das konnte! - voller Zartgefühl und Zuneigung für die Leute, voller Hoffnung trotz aller Desaster, den Blick immer auf die Würde jedes Einzelnen und den Gemeinsinn der Meisten gerichtet. Wer in dieser Zeit an den Umständen und den Menschen zu verzweifeln droht, muss Haruf lesen und zwar alles von ihm. 

Kent Haruf, Das Band, das uns hält, aus dem amerikanischen Englisch von pociao und Robert de Hollanda, Diogenes, 25 Euro

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Published on October 20, 2023 03:40

David Van Reybrouck, Oden. Insel

Ich reise dieser Tage nach Belgien, zuerst nach Gent, dann Brügge, dann Antwerpen, vielleicht  auch noch Brüssel. Mal sehen. Da wird wenig Zeit sein, stundenlang zu lesen, aber ein Buch wie Oden von David Van Reybrouck ist genau richtig: kurze, abwechslungsreiche Texte über die verschiedensten Themen.

Außerdem ist Reybrouck Belgier, geboren in Brügge, ein arrivierter Autor, Weltreisender, unglaublich vielseitig, Schriftsteller, Dramatiker, Journalist, Historiker. In diesem Buch sind Kolumnen vereint, die er für das niederländische Online-Magazin The Correspondent schrieb. Er nennt die Texte Oden, wobei man hier nicht an die äußere lyrische Form denken darf, die wir mit Oden verbinden , wenn wir Pindar im Kopf haben, Horaz oder später Klopstock und Hölderlin...

Oder vielleicht doch ein bisschen? Seine Texte sind keine Lyrik, aber sie haben dennoch etwas Lyrisches, sie haben das Schwärmende, Rühmende, das zu einer Ode immer gehört.

Reybrouck hat Oden an alles Mögliche geschrieben, an Freunde, Künstler, Politiker, Bekannte und Unbekannte, an David Bowie oder Kofi Annan, aber auch an Dinge, die Bahnhofsgaststätte, den Umkleideraum, schließlich an emotionale Zustände, das Zuhören, das Wiedersehen, die Eifersucht, die Nonchalance.

Fast jeden Tag lese ich ein bisschen in diesem Buch, immer so zwischendurch, ein oder zwei Oden, es sind ja kurze Texte, aber gedankenreich, empfindsam, voller Neugier und Überraschungen, großem Wissen und vieler Erlebnisse, spannender Assoziationen und biografischer Anklänge, geschrieben auf der ganzen Welt. (Es erinnert von daher übrigens ein bisschen an den Atlas eines ängstlichen Mannes von Christoph Ransmayr, eines meiner Lieblingsbücher seit langer Zeit.)

Man muss nicht nach Belgien fahren, um es zu lesen, das kann man überall, und man sollte es auch tun.

David Van Reybrouck, Oden, aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert, Insel, 20 €

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Published on October 20, 2023 03:38

Axel Hacke's Blog

Axel Hacke
Axel Hacke isn't a Goodreads Author (yet), but they do have a blog, so here are some recent posts imported from their feed.
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