S.B. Sasori's Blog, page 8
March 11, 2014
Ein Tanz nackt und laut singend über den Markplatz.
Habe mein Ziel verloren. Ich kenne die Richtung, aber mehr nicht. Dabei hatte ich mir extra zu diesem Zweck eine Laterne aufgehängt. Schade, sie muss verrußt sein.
Nach langer Pause, nach langer Ruhe, gönnt mir mein Leben endlich verordnete Erholung, aber verwehrt mir den geistigen Fick. Tut es mir leid, dermaßen grob zu formulieren? Nein, kein bisschen.
Ich will mich zurück.
Will meinen Willen.
Will meine Kräfte.
Gott segne die Tastatur und Scheiß auf Blasphemie. Gott weiß, dass ich einen guten Draht zu ihm habe und ihn trotz seiner idiotischen Verfechter auf dieser Welt schätze.
Wer bin ich?
Die Gute?
Manchmal.
Die Ungeduldige?
Oft.
Die Vernünftige?
Habe ich versucht. Funktioniert nicht.
In erster Linie bin ich die, die kompromisslos ihre Helden fordert. Auch ihr Leben, aber es zickt zur Zeit und flüstert mir ins Ohr wie erholsam es ist, bequem sein zu dürfen.
Blöd nur, dass ich fürs Bequeme nie gedacht war.
Wenn ich meine Seele spüren will, muss sie ab und an wehtun.
Wenn ich meinen Körper spüren will, muss er ab und an schmerzen.
Doch mein Geist muss frei sein.
Gebunden in Vernunft und Vorsicht ist er das nicht.
Schwämme ich die Tastatur mit Tränen, will ich mich nicht dafür schämen. Auch nicht für sinnfreies Lachen.
Bin ich verrückt?
Ein bisschen, doch das war ich immer.
Zugegeben, ich hatte es lange Zeit übertrieben mit dem erzwungenen geistigen Flow. Die Rechnung hat mich schlucken lassen. Nach außen: „Das geht schon, kein Ding.“ Denn schließlich gibt es unendlich viel Schlimmeres. Doch nach innen die ständige Angst, sich zu verlieren in einem Sog aus Ruhe und Trägheit. Er lässt nach. Ich sehe die Sonne wieder. Aber ich bin nicht dafür geschaffen, mich aus Vernunft und Askese zu bauen.
Ich brenne gerne zu hell.
Wenn nur das Dunkle danach nicht wäre.
Aber in der Zwischenwelt von noch-nicht-hier-und-da-auch noch-nicht kann ich nicht leben. Existieren schon, doch das reicht mir nicht.
Mich stört es nicht, dass ihr das hier lest. Wenn, hätte ich es nicht geschrieben. Ihr lest schließlich auch meine Geschichten und was sind sie anderes als ein Tanz nackt und laut singend über den Marktplatz?
Gläsern zu sein hat Vorteile.
Einer davon: Wenn ich den Ruß von den Scheiben wische, könnt ihr den Funken sehen.
February 28, 2014
Höhlenmenschen mögen keine Geschichtenzipfel. Aber mehr bekommen sie zeitweilig nicht zu fassen.
Komme aus meiner Höhle gekrochen. Sie besteht weniger aus Felsen, eher aus Leere. So sollen Höhlen ja auch sein. Wenn sie nicht leer wären, könnte man sich nicht in ihnen verkriechen.
Wer will sich schon mit Bären und Wölfen anlegen, die im Zweifel auf ein älteres Wohnrecht pochen? Auch wenn sie nur imaginär sind, da sind sie trotzdem.
Kaum draußen blendet mich die Sonne. Das ist ihr Job. Da geht es ihr wie der leeren Höhle.
Wobei: Solange ich drin war, war sie ja nicht leer – Logik – feine Sache!
Auf einem – apropos „leer“ – blätterleeren Apfelbaumast sitzt meine Geschichte und baumelt anfangs gelangweilt, dann zunehmend ungeduldiger, mit den Beinen. „Endlich wach?“ Sie traut sich, bloß eine Braue zu heben und denkt nicht daran, den Spott und die Spur Häme in ihrem Gesicht den Platz zu verbieten. „Während du deiner vermeintlichen Regeneration gefrönt und dir die nicht vorhandenen Eier geschaukelt hast, musste ich mir zwei Monate den Arsch hier draußen abfrieren.“ Ein eleganter Hopser und die Story steht vor mir.
Breitbeinig, mit den Fäusten eindrucksvoll entschlossen an den Hüften, selbstbewusst mit einer kränkenden Spur Arroganz.
Beneidenswert.
Und dieses Etwas ist aus meinem Kopf gekrochen? Muss lange her gewesen sein.
War es auch, wenn acht Wochen der Ewigkeit entsprechen und das Leben nur einen Wimpernschlag währt. Ansichtssachen sind ebenso fein wie Logik. Bloß dass ich sie im Moment nicht verstehe.
„Was ist?“, herrscht mich die großkotzige Geschichte an und zerrt den schielenden Plot hinter dem Baumstamm hervor.
Himmel! Wo hat sie den denn ausgegraben? Bei seiner Entstehung ist entweder ne Menge schiefgelaufen oder aber der Winter hat ihm mehr zugesetzt als mir. Dumm grinsend beobachtet er sein eigenes Speichelfädchen, das sanft an seinem Kinn hin und her schwingt. Der arme Kerl. Ich hätte ihn wirklich nicht allein lassen sollen.
„Sollen wir noch länger heimatlos darben?“ Fordernd reckt die Story das Kinn in die Höhe. „Langsam schrammt dein Verhalten am Unsozialen entlang.“
Meint sie mit „Heimat“ meinen Kopf oder einen Umschlag?
Sie fixiert meine Stirn. Demnach ist ihr ein farbenfrohes Cover vorerst egal.
Glück gehabt. Ich enttäusche nur ungern überzogene Erwartungshaltungen an mich.
Ich klappe gedanklich, gefühlt real, meine Stirn samt passend großem Stück meines Schädelknochens auf und bitte die beiden von mir Verstoßenen – wegen der plötzlich bloßliegenden und sauerstoffüberfluteten Gehirnzellen etwas lallend – einzutreten.
Die Miststücke grinsen, nehmen Anlauf und springen.
Durch den Aufprall taumele ich zurück, krache mit dem Rücken an die Höhlenwand, widerstehe dem Versuch, mich sofort erneut zu verkriechen, und rüttele schließlich Story und Plot (ja, ich trenne beides) in eine für uns alle akzeptable Position.
Geschafft.
Mit einem leichten Linksdrall, da sich beide in der linken Hirnhälfte wohler fühlen als in der rechten, schwanke ich zu dem Platz, wo ich meinen Laptop zurückgelassen habe.
Ein Hauch Moos auf der Tastatur, eine kleine Nacktschnecke in der Rille zwischen der B- und der Leerstellentaste.
Ich schnippe sie weg.
Verluste gibt es immer und meins ist meins.
Einmal durchatmen, räuspern und … schreiben.
January 19, 2014
Nur eine Lüge. Besser als nichts. Lust blieb, auch wenn sie einsam war.
Zwei Fliegen umkreisten den Stumpf. Mihály scheuchte sie fort. Einen Madenbefall im frisch amputierten Bein hatte der Mann nicht verdient. An seinem Kinn spross noch Flaum. Weit entfernt davon, ein Bart zu sein. Er schien noch jünger als Dávid, der ihm eben mit zitternden Fingern frische Verbände reichte.
Dávid. Sein Kleiner. Er folgte ihm seit drei Jahren als Geselle und half ihm dabei, Vlads Männer nach Kämpfen wie diesem zusammenzuflicken.
Im Normalfall gewann Vlad III., Woiwode der Walachei und erklärter Gegner des Osmanischen Reiches seine Schlachten. Nur diesmal nicht. Weil es keine Schlacht, sondern eine Flucht war. Vor seinem Halbbruder Radu, der Vlads Volk gegen ihren Herrscher aufgewiegelt hatte. Nun ja, niemand suchte sich seine Verwandtschaft aus und der Woiwode hatte diesbezüglich tief in die Scheiße gegriffen. Als Kind vom eigenen Vater als Geisel dem osmanischen Herrscher überlassen zu werden, war kein Honigschlecken. Auf Vlads Rücken reihten sich die Narben diverser Peitschenhiebe. Schlug das Wetter um, spürte er jeden einzelnen und rief Mihály und sein Arsenal diverser Wundsalben zu sich. Sie brachten nichts, doch das sagte er dem Herrscher nicht. Was den Schmerz auf Vlads Rücken linderte, waren die gleichmäßigen und festen Berührungen, mit denen er die Salben einmassierte. Ebenso gut hätte er dem Woiwoden reines Schafswollfett verabreichen können, würde es nicht so penetrant riechen.
Dávid spülte den Stumpf sauber und tupfte ihn sorgfältig ab. Das Würgen dabei versuchte er erst gar nicht zu unterdrücken. Brauchte er auch nicht. Mihály kannte die Schwächen seines Geliebten und verzieh ihm mehr, als sein Vater es jemals bei ihm getan hätte. Bei Ádám Szábo in die Lehre zu gehen, war auch für Mihály eine Herausforderung gewesen.
Seit er fünf war, trieb sich Mihály in Lazarettzelten herum. Seinem Vater war er schon früh beim Därmezusammennähen und Knochenrichten eine Hilfe gewesen.
Flinke Finger, die wissen, dass sie kein Schwert schmieden oder Stein schneiden, sondern die Krone der Schöpfung heilen sollen.
Bei diesen Worten hatte ihm sein Vater das Kinn angehoben und für einen Augenblick diese schreckliche und grausame Welt mit seinem Lächeln verzaubert, bevor er ihm mit vor Blut verkrusteter Hand eine Ohrfeige verpasste, weil er ihm das falsche Besteck angereicht hatte.
Wenn es ein Paradies gab, saß sein Vater jetzt zwischen Engeln und Blüten. Geschissen auf die Meinung seiner Richter, Ketzer gehörten ins Fegefeuer.
„Wenigstens schreit er nicht mehr.“ Dávids Blick zu ihrem Patienten troff vor Mitgefühl. „Ich habe fünf Kreuze geschlagen, als er endlich ohnmächtig wurde.“
„Du musst lernen, alles Störende während der Behandlung auszublenden.“ Wie oft predigte er seinem Kleinen diesen schlichten Trick? „Konzentriere dich nur darauf, was deine Hände machen.“
Über das blasse, doch sonst wunderschöne Jungmännergesicht huschte ein Lächeln. „Wie bei der Liebe mit dir?“ Er sprach leise, doch dass sie jemand aus dem Lazarettzelt hörte, war unwahrscheinlich. Wer nicht schlief, starb oder wimmerte.
„Wenn du mich in dich reinlässt, was leider zu selten geschieht, kann ich mich sogar auf zwei Orte gleichzeitig konzentrieren. Meinen Schwanz in dir und meine Hand an deiner Härte. Ich fühle jedes kleine Zucken, das von dir ausgeht, und weiß ganz genau, wann es auf meiner Faust heiß und nass wird.“
Dávid. Der sanfte Mann mit den großen, braunen Augen, der viel lieber dichtete oder schwermütige, vor unerfüllter Liebe tropfende Lieder sang, als anderen Menschen wehzutun.
Mihály beugte sich über den halb verbundenen Stumpf zu seinem Kleinen und küsste ihn auf die weichen Lippen. Sie öffneten sich sofort. Dávid wollte mit Liebe gefüttert werden. Über seinen süßen Mund, über seinen noch süßeren Arsch. Seit Dávid ihm eben diese Liebe in einer stürmischen Novembernacht vor Jahren gestanden hatte, das Herz übervoll mit Heimweh, waren sie ein Paar.
Tag für Tag verbargen sie diesen Umstand vor jedem anderen Menschen. Vlad sträubte sich gegen viele Zwänge und boykottierte einige gesellschaftliche Regeln, doch zum Thema Sodomie wollte Mihály ihn nicht herausfordern. Dazu war das Leben an Dávids Seite zu schön, wenn sie nicht gerade bis zu den Knöcheln in stinkendem Blut standen.
„Wann erreichen wir Visegrád?“, nuschelte Dávid noch an Mihálys Lippen. „Mir ist dringend danach, mich hinter dicken Festungsmauern zu verkriechen.“
Das Ziel ihrer Flucht. Die Festung des ungarischen Königs Matthias Corvinus. Wenn sie öfter mit Hinterhalten wie dem heutigen rechnen mussten, konnte es noch einige Zeit dauern, doch Dávid mit der bitteren Wahrheit zu konfrontieren, war grausam. Die Hände Dávids zitterten immer noch, auch wenn dank des Kusses sein Blick etwas von der Resignation verloren hatte. Gäbe es nur Menschen wie ihn, würde die Welt keine Kriege kennen.
Mihály zog den Verband stramm. Für diesen Tag waren sie fertig. „Weißt du, wohin ich mich zurückziehen möchte?“
Dávids Augen leuchteten. „In mich?“
Tief und innig. Doch nicht an diesem Ort, der nur mit Planen vor fremden Augen abgeschirmt war. Aber etwas Schönes, Berauschendes brauchten sie beide nach diesem schlimmen Tag. Dávid nahm seine Hände nach hinten, als er ihm sein Schnäuzchen erneut hinhielt. Das fremde Blut trocknete bereits an ihnen. „Ob wir einen Ort finden, an dem wir ineinander einschlafen können?“
Zarte, kostende Küsse. Wie er Dávids Liebkosungen liebte.
„Nähe bis zum Morgengrauen“, seufzte Dávid sehnsüchtig.
„Dann sollten wir uns beeilen.“ Lang währte die Nacht nicht mehr. Noch einmal stupsten sich ihre Zungen an, dann drang Mihály tief in Dávids Mund. Nur als Vorgeschmack auf das, was er gleich mit seinem längst sensiblen Geschlecht tun würde.
Dávid zuckte zurück. „Hast du das gehört?“
Der Ruf eines Käuzchens, das Wimmern der Verwundeten. Sonst nichts Ungewöhnliches.
„Da.“ Dávid sah sich um. Die Planen bewegten sich im Luftzug. Hinter ihr standen Schatten.
*
Das Eichhörnchen zuckte mit dem Puschelschwanz, beobachtete ihn und hopste näher. Josias saß ganz still, obwohl sich sein krummer Rücken an den Baumstumpf drückte und schmerzte.
Wieder einen Hopser auf ihn zu. Als ob das Tier ahnte, dass er ihm nichts tun würde. Bei Anna kam alles, was Fleisch lieferte, in den Topf. Josias fragte nie nach, was zwischen Pastinaken und Zwiebeln stückchenweise im Sud schwamm. Im Zweifel hatte er es wenige Momente vorher noch gestreichelt. Seine Mutter machte kein langes Federlesen, wenn es darum ging, satt zu sein und am Leben bleiben zu können. Dafür teilte sie auch hin und wieder mit dem Dorfschulzen das Lager. So wie in diesem Augenblick. Deshalb saß er hier. Im Wald und allein. Das Gekeuche des Schulzen konnte er sich nicht anhören, ohne dass ihm schlecht wurde. Anna ging es nicht anders. Josias hatte seine Mutter öfter dabei erwischt, wie sie sich hinterher übergab.
Ob ihr Leben anders verliefe, wenn sein Vater nicht der Leibhaftige wäre? Anna schwieg sich aus, wenn er sie nach seinem Vater fragte. Dabei brannte er vor Neugierde, warum sie sich mit dem Teufel eingelassen hatte. Sicher war er ein besserer Liebhaber als der Schulze und das bisschen Schwefel konnte nicht halb so schlimm wie der Schweinemist riechen, der dem Schulzen überall dranklebte.
Das Eichhörnchen wagte noch einen vorsichtigen Schritt zu ihm hin.
Noch ein bisschen und er könnte das Tier berühren. Wie niedlich es die Nase in die Luft streckte und schnupperte.
Hinter den Haselnusssträuchern knackten Zweige.
Das Eichhörnchen huschte mit keckernden Lauten auf die nächste Eiche. Wäre er nur halb so geschickt und flink gewesen, wäre er ihm gefolgt. Das lauter werdende Lachen gehörte zu Joscha und Bela. Den Söhnen des Schulzen.
Aufstehen. Schnell. Saß er, wenn sie ihn fanden, waren ihre Füße zu schnell auf der Höhe seines Gesichtes. Seine Nase schmerzte noch von der letzten Begegnung mit ihnen.
Sein Rücken war steif. Verdammt, er hatte zu lange bewegungslos dagesessen.
„Das Teufelsbalg!“ Joscha boxte sich in die Hand. „Wo ist deine Hurenmutter? Will sie ihren kleinen, buckligen Bastard nicht beschützen?“
„Sie reitet deinen Vater.“
Das gehässige Lachen der Brüder verstummte.
„Er hat’s gern, wenn nicht jedes Mal er es ist, der aufbockt.“ Zwischen seinen Schulterblättern sammelte sich der Schweiß. Dennoch biss er sich nicht auf die Zunge. „Ist sicher auch für eure Ziege eine Erholung oder nimmt er ab und zu eine Sau, wenn es aus seinem stinkenden Schwanz tropft?“
Gott, er war tot. Die Blicke der Brüder sagten nichts anderes.
„Lust, deinen Vater zu besuchen?“ Bela sprach leise aber der Hass in seiner Stimme ließ Josias’ Herz gefrieren. „Ich bin sicher, er freut sich, seinen Sohn überm Fegefeuer zu braten. Ist sicher ein gutes Gefühl, wenn einem der glühende Spieß so lange in den Arsch geschoben wird, bis er mit der Spitze zum Mund wieder rauskommt.“
Hätte er nicht die Schnauze halten können? Wozu? Wenn ihn Joscha und Bela allein erwischten, war er jedes Mal dran. Bis jetzt hatte er es überlebt. Das würde sich nun ändern.
Brüllend vor Zorn stürzten sie sich auf ihn. Den Strick, der seine Hose zusammenhielt, rissen sie ihm von der Hüfte und banden ihn um seine Handgelenke.
„Nicht zu hoch aufhängen“, keuchte Joscha und boxte ihn in den Magen. Lichtblitze vor den Augen aber das Erbrechen konnte er unterdrücken.
„Hier gibt es Wölfe, Missgeburt. Die riechen dein Blut meilenweit.“ Er warf den Strick über den untersten Ast der Eiche und zog Josias gerade hoch genug, dass seine Füße den Boden nicht berühren konnten. Zappeln und Treten half nichts. Es brachte ihm nur einen weiteren Schlag in den Magen ein. Bela kletterte den Stamm hinauf und knotete Josias fest. Das Seil schnitt ihm ins Fleisch und seine Schultern und sein verdammter Buckel fühlten sich an, als rissen sie auseinander.
„Welches Blut?“ Bela sprang seinem Bruder vor die Füße.
Grinsend schlenderte Joscha zu den Haselnussbüschen und brach dünne Zweige ab. „Das, was gleich aus dem Teufelsbalg herausfließen wird.“ Er drückte sie Bela in die Hand und riss einen Fetzen aus seinem Hemd, stopfte ihn Josias’ tief in den Mund. „Deine Mutter wird dich erst finden, wenn dir die Beine längst weggefressen wurden.“
Drei Jahre später …
Zu alt.
Er hätte es wissen müssen. Keine leuchtenden Leichenflecken und längst keine Totenstarre mehr. Spätestens am Geruch hätte der Junge erkennen müssen, dass der Körper faulte. Hatte er sich unklar ausgedrückt? Was war an frischen Leichen nicht zu verstehen?
Mihály trat vor Wut gegen die Pritsche. Der Frau, die zur Hälfte noch in einer Decke eingewickelt darauf lag, war es gleichgültig. Sie war tot. Schon viel zu lange, wie die gelbgrüne Färbung ihres Bauches zeigte. Aufgebläht und stinkend lag sie vor ihm und klagte ihn aus leergefressenen Augenhöhlen an, ihre Totenruhe gestört zu haben. Allerdings waren weder Silas noch er die ersten gewesen. Aus den kleinen weißen Eiern in den Mundwinkeln schlüpften längst die Maden.
Wie sollte er faulendes Fleisch sezieren? Wenn er sich nicht übergab, war er gut. Mihály kämpfte mit dem Brechreiz. Das Zungengeschwür des Metzgers hatte ihm am Nachmittag bereits zugesetzt, aber was vor ihm lag, würde spätestens dann bestialischer stinken, wenn er den Bauch aufschnitt.
Lohnte sich die Mühe, um ein Blick auf die Organe zu werfen, die er längst kannte?
Wenigstens die äußeren Zeichen des Verfalls musste er notieren, damit er sein Leben nicht umsonst riskierte.
Er rückte den Stuhl an die Pritsche, schob den Arm der Toten weg und platzierte Papierbögen und Tintenfass neben der halb nackten und trotzdem nicht mehr verführenden Hüfte.
Marmorierte Haut, Tendenz ins Grünliche, an den Fraßspuren der Unterschenkel wibbelte es agiler als am Mund der Leiche.
Gott, wie das stank!
Mihály tropfte Pfefferminzöl auf ein Leinentuch und hielt es sich unter die Nase. Nur Mut. Sein Vater hätte niemals eine Gelegenheit zum Lernen vergeudet. Ob ekelerregend oder nicht. Oft verbarg sich an den finstersten Orten das klarste Licht der Wahrheit.
Leider nicht mehr für diese Frau. Aus nur ihr bekannten Gründen hatte sie sich am Donauufer erhängt. Ein seltener Glücksgriff für ihn, ein augenscheinliches Drama für sie. Wäre Silas nur früher an dem Baum vorbeigekommen.
Der Bauch war prall. Was geschah, wenn er ihn öffnete, spielte sich in Sekundenschnelle in seiner Erinnerung ab. Es war nicht sein erstes überlagertes Forschungsmaterial. Unter der Haut leuchteten im Licht der zu wenigen Fackeln und der einzigen, kläglichen Kerze dunkel die Adern hervor.
Kein Tropfen Blut würde mehr in ihnen fließen. Es ruhte in den Füßen und Unterschenkeln und ein Stück weit in den Händen. Aber nicht im Fleisch. Nur in dem schlauchartigen Gewebe.
Mihály schmierte sich das Minzöl unter die Nase.
Warum sickerte das Blut nicht in die Beine, wenn man stand? Warum nur, wenn der Tod eingetreten war? Auch nachts, während des Schlafes, bildeten sich keine blauvioletten Flecken am Rücken, sondern der Lebenssaft verteilte sich gleichmäßig im Körper.
In das Herz hinein, aus dem Herz heraus führten zwei große Adern. Im Takt des Herzschlages spritzte beim Aderlass das Blut in die Schüssel. Sehr viel in recht kurzer Zeit.
Zu viel. Wurde das Blut in den Organen in derselben Geschwindigkeit verbraucht, bedeutete es eine immense Anstrengung für das Herz, es ständig neu zu bilden.
Da lag der Hase im Pfeffer. Schon sein Vater zweifelte an dieser Theorie. Woher nahm der Körper die Substanz für die Unmengen an neu zu produzierendem Blut?
Mihály schnitt vorsichtig entlang der Adern des Unterarmes durch die Haut. Die schlauchähnlichen Gefäße waren leer. Von dick zu dünn. Von oben nach unten. Und dann? Weg? Versickerte das Blut im Gewebe der Leber? Der Niere? In den Fingerspitzen und Fußzehen?
Er strich über den Hals, dessen Strangulationsmal sich tief in die Kehle eingegraben hatte. Wirkte das Leben in einem Menschen, schlug hier der Puls. Auch an den Hand- und den Fußgelenken.
Pumpte das Herz mit all seiner Kraft das Blut von sich weg, nur, damit es verloren ging?
Sein Magen rebellierte, obwohl das Minzöl die empfindliche Haut unter seiner Nase verbrannte. Seine Augen begannen zu tränen und die Tote löste sich in Nebel auf.
Verdammt! Er brauchte eine frische Leiche.
Und er brauchte einen anständigen und klugen Gehilfen, der sie ihm beschaffte. Am besten ohne Zunge, damit er ihn nicht verriet.
„Herr Szábo?“ Silas drückte sich mit dem Rücken an die Wand, neben der ein Gang aus dem Kellergewölbe ans Donauufer führte.
„Mir ist hundeelend. Wenn ich mich übergebe, muss ich es dann wegwischen?“
„Worauf du dich verlassen kannst und mein Erbrochenes kannst du gerne ebenfalls wegräumen.“ Der Geselle des Apothekers war verschwiegen, aber gierig. Pro Leiche ließ er sich zehn Heller zahlen. Für soviel Silbermünzen hätte er in Buda der teuersten Dirne seine Aufwartung machen dürfen.
Der Bengel war bildhübsch. Leider wusste er es auch und Mihály musste sich Tag für Tag zusammenreißen, um ihm nicht aus Versehen einen begehrlichen Blick zuzuwerfen.
Seine Neigung ging nur ihn etwas an und sollte er entdeckt werden, war es aus.
Sollte jemand hinter seine Leichenschnippeleien kommen, war es auch aus.
Sollte dem König klar werden, dass sein Leibarzt der Sohn eines zum Tode verurteilten und längst verbrannten Ketzers war, war es ohnehin aus. Außer der Woiwode hatte Matthias Corvinus davon überzeugt, dass es keinen besseren Wundarzt als Mihály gab. Nicht weit von ihm hockte Vlad im Salomonturm der Festung und war seit drei Jahren Matthias’ Gefangener.
Zugegeben, dort war er sicher vor seinen Verfolgern. Dennoch hatte er sich die Hilfe des Königs vermutlich anders vorgestellt.
Der Ausgang der Flucht vor Radus Truppen war in vielerlei Hinsicht anders als vorgesehen verlaufen.
Mihály wischte sich die Erinnerung an Dávids weiche Lippen aus dem Kopf. Aus dem Herz bekam er sie nicht raus. Das hatte er längst aufgegeben.
Silas ging ein paar Schritte weiter Richtung Ausgang und frischer Luft. Was stellte er sich an? War ihm der Gestank beim Abschneiden nicht aufgefallen?
Allerdings war Mihály selbst dankbar für den Luftzug. Dass der Keller des ihm zugewiesenen Hauses einen Gang nach draußen besaß, der kurz vorm Donauufer endete, gehörte zu den wenigen glücklichen Zufällen in seinem Leben.
Die leeren Weinfässer und das Gerümpel hatte er fortgeräumt.
Nun beherbergte das Gewölbe alles, was er für seine Forschung benötigte. Tisch, Stuhl, sorgfältig zugeschnittenes Papier, Federn und Tintenfass, eine Pritsche, zwei Truhen, in denen neben den Büchern seines Vaters auch ein zweites Operationsbesteck auf seinen Einsatz wartete, Planen zum Abdecken und einen reichlichen Vorrat an Fackeln und Kerzen.
Der perfekte Ort, um seine Forschungen am menschlichen Körper voranzutreiben. Aus Gründen der Sicherheit lehnte ein Ruderboot an der Wand. Direkt hinter dem Ausgang. Eine Flucht über die Donau ging leicht, schnell und vor allem unauffällig vonstatten.
Ohnehin war das Uferstück an dieser Stelle schwer einzusehen. Es versteckte sich unter einer mit Büschen bewachsenen Felsnase, und wer sich seitlich nähern wollte, musste einige Schritte durchs Wasser waten, weshalb die Dorfleute die Straße vorzogen, die sich oberhalb der Donau zur Siedlung und weiter den Hügelkamm hinauf zur Festung schlängelte.
„Herr Szábo“, jammerte Silas. „Beeile dich. Es wird Tag und ich muss zu meinem Meister.“
„Gleich.“
Verdammt noch mal. Was tat er sich an? Diese Leiche verriet ihm nichts, was er nicht längst wusste. Ein Fehlgriff, und ein lebensgefährlicher dazu. „Pack die Frau ein und hänge sie wieder auf.“
„Bitte?“ Silas klappte der Kiefer hinunter. „Das kannst du nicht von mir erwarten.“
Und ob er das konnte. Dafür bezahlte er ihn schließlich.
Mihály schippte dem Jungen eine weitere Silbermünze zu. „Ab in die Karre mit ihr und sieh zu, dass dich niemand sieht. Für heute brauche ich dich nicht mehr.“
Draußen färbte sich der Himmel grau. Die halbe Nacht war er in den Aufzeichnungen seines Vaters versunken gewesen und das Wenige an Schlaf, das ihm theoretisch geblieben wäre, hatte er mit sinnloser Fäulnis vergeudet. Er schlug den Körper in die Decke ein und half Silas, ihn auf die Handkarre zu hieven. „Kein Wort zu deinem Meister, wie immer.“ Herr Barti ging hoffentlich davon aus, dass Silas brav in seinem Bett lag, statt ehemalige Erhängte zurückzuhängen.
Der Junge schob seine Last fluchend durch den Gang und bog hinter dem Eisengatter links ab. Da er die Straße aus naheliegenden Gründen nicht nehmen konnte, blieb ihm nur das holperige Ufer. Hoffentlich war er schnell genug zuhause, um von seinem Meister nicht vermisst zu werden.
Vor einem halben Jahr hatte Silas ihn dabei erwischt, wie er ein ertrunkenes Mädchen aus der Donau fischte. Der Junge war ihm nachgeschlichen.
Gerade, als Mihály Haut und Fleisch des Brustkorbes zurückgeklappt und festgeklammert hatte, war Silas lautlos aus dem Schatten des Ganges getreten, um gegen eine entsprechende Bezahlung seine Hilfe und sein Schweigen anzubieten. Seitdem waren sie Verbündete. Leider benötigte der Apotheker seinen Gesellen tagsüber, sonst hätte Silas ihm auch beim Zähneziehen und Amputieren helfen können.
Mihály wählte ein Stück Seife aus Schafsfett, schwappte einen Eimer Wasser über die Pritsche und schrubbte den Schaum mit einer Wurzelbürste ins Holz. Den Leichengeruch konnte er nur während der Untersuchung ertragen, und das auch nur schwer. Ein zweiter Schwall Wasser spülte die Pritsche sauber.
Reichte die Zeit, um noch ein wenig zu schlafen? Der Himmel wurde stetig heller. Besser, er ging zu Sara ins Gasthaus und ließ sich ein Frühstück vorsetzen. Dort würde er zweifelsfrei auf die Herren Doktoren treffen, die seit Wochen Visegrád und damit auch den König heimsuchten.
Ob ihnen bewusst war, dass der Fluss des Blutes im Takt des Herzschlages vor sich ging? Während ihres letzten Vortrages hatten sie schwarze und gelbe Gallensäfte unterschieden, obwohl sie beide im selben Atemzug zugegeben hatten, nie einen Menschen von innen gesehen zu haben.
Durften sie auch nicht. Sie waren studiert. An Universitäten befasste man sich nur theoretisch mit Blut und allem, was damit zusammenhing.
Mihály zog sich das Wams aus und streifte das Hemd über den Kopf. Alles an ihm roch nach altem Tod.
Im linken der beiden Weidenkörbe lagen die feineren Seifen mit Lavendel, Rosmarin oder Salbeiduft. Die Morgenluft war eisig, als er zügig zum Ufer ging. Auf drei rannte er in den Fluss.
Teufel noch mal, war er kalt. Von oben bis unten seifte er sich ein und träumte dabei von Saras Badezuber, randvoll mit heißem Wasser, den sie ihm wenigstens einmal in der Woche zur Verfügung stellte.
Großzügig verteilte er den Schaum in seinen Haaren und unter den Achseln.
Zu viel Arbeit, zu wenig Gelegenheit, seine Forschungen voranzutreiben. Alles musste im Geheimen geschehen. Verflucht noch einmal.
Arme und Beine, Brust und Bauch. Wo er hinkam, schäumte es.
Zwischen seinen Backen, zwischen seinen Beinen. Auch was sich dort abspielte, war geheim. So geheim, dass er es nur in seinem Kopf stattfinden lassen konnte.
Seine Finger gaukelten ihm Zärtlichkeit vor. Schlossen sich nass und glitschig um seinen Schwanz, massierten sein Gehänge und taten so, als würden sie es nur waschen wollen. Welch eine Heuchelei. Er zwang sich, an sie zu glauben, obwohl die Lüge von ihm selbst stammte und gute drei Jahre alt war.
Breitbeinig stand er mit den Füßen im Wasser und sah einem kalten Herbsttag entgegen. Dabei sehnte er sich nach der Wärme eines anderen Mannes. Nach festen Berührungen, nach harten Stößen, die seinen Leib erzittern ließen.
Nacht für Nacht glitt seine Hand zwischen seine Schenkel. Ein Einschlaf-Ritual. Nacht für Nacht häufte er Sünde auf sich. Mit seinen Gedanken, mit seinen Träumen und Sehnsüchten.
Sein Griff wurde fester. Zwischen Seife und Haut pulsierten prall gefüllte Adern und das Blut in ihnen sang ihm zu, dass es voll Leben war. Dass es nicht in die Füße sickerte. Dass es nicht seine Beine blau färbte und zu stinken anfing.
Es floss heiß und stark durch ihn hindurch, drückte sich hart in seine Hand, biss ihm lustvoll in die Lenden.
Immer schneller glitt seine Härte durch seine Faust, immer fester krallte er sich dabei in die eigene Backe.
Nur eine Lüge.
Besser als nichts.
Lust blieb, auch wenn sie einsam war. Er warf den Kopf in den Nacken und hörte seinem Stöhnen zu. Noch zwei Stöße und er taufte den See mit seiner Sehnsucht. Milchweiß. Vielleicht freute sich ein Fisch darüber.
(Leseprobe aus “Der Sodomit”. Erschienen im Weltenschmiede Verlag, die Tage auch über Amazon erhältlich.)
January 10, 2014
Ketzerei? Liebe. Sie war noch da. War noch nicht unter seiner stinkenden Angst erstickt.
Ein Teaser aus meinem aktuellen Projekt. Ich gebe zu, diese Geschichte war und ist für mich eine Herausforderung.
Mihály presste die Hände auf die Ohren.
Barti schrie. Ununterbrochen. Sie hatten den Apotheker seit Stunden in der Mangel. Mihály wollte sich nicht vorstellen, was sie ihm antaten.
Der Schweinehirte neben ihm in den Ketten erbrach sich ins längst stinkende Stroh. Er war kurz nach ihm in den Kerker geworfen worden. Nachdem er an die Tür getreten und gebrüllt hatte, dass er unschuldig sei, war eine Wache gekommen und hatte ihm den Schwertgriff ins Gesicht gerammt. Die gebrochene Nase konnte Mihály mit einem Griff richten, doch nicht die Fragen beantworten, die ihm der Hirte ständig stellte.
Was machten sie hier? Er wäre sich keiner Schuld bewusst.
Nach einer ersten Befragung durch Jacquier war er zitternd in die Zelle zurückgeführt worden.
Mihály erging es kaum besser.
Jacquiers kalter Blick brannte noch in seiner Seele. Zusammengekrümmt kauerte sie in seinem Leib und kotzte wie der Mann neben ihm.
Du wirst sterben.
Glasklar schnitt die Stimme der alles durchdringenden Erkenntnis Streifen aus seinem Herz.
Du wirst brennen.
Bartis Schreien erstickte in einem Röcheln, dann folgte Stille. Sie war nicht zu ertragen.
„Habe nie eine Sau gevögelt.“ Der Mann neben ihm schluchzte auf. „Warum sollte ich so etwas tun?“
Müßig, zu antworten. Unmöglich mit einer staubtrockenen Kehle. Angst schluckte die Spuke aus dem Mund.
Vielleicht kam der Hirte mit dem Büßerkreuz davon. Vielleicht mit einer Leibesstrafe. Mihály kam mit nichts davon.
Du schlägst deinen Buhlen ans Kreuz? Ist dir nichts heilig?
Die Augen des Inquisitors waren beinahe aus den Höhlen getreten.
Bevor oder nachdem du mit ihm Unzucht getrieben hast?
Dass das Gestell ein medizinisch notweniges Instrument zur Heilung war, interessierte ihn nicht. Vor Empörung Geifer spuckend brüllte er auf ihn ein. Gotteslästerei, Teufelsanbetung, Sodomie. Jede dieser Anklagen brachte ihm den Tod.
Zu viel Angst. Kein Denken war mehr möglich. Wer war der zitternde Haufen? Er.
Ein Wunder. Das Einzige, was ihm noch helfen konnte.
Ein Engel mit Josias Gesicht schwebte durch die gewölbte, Verzweiflung ausschwitzende Decke. Er berührte mit einem flammenden Schwert seine Fesseln, hob ihn auf den Arm und floh mit ihm in klare, kalte Nachtluft. Weit weg. Zu einem Ort ohne Menschen. Mihály spürte Seidentücher an seiner Wange und lauschte einem beruhigenden Herzschlag.
Wimmern vom Ende des Ganges. Es kam näher und die Vision einer himmlischen Rettung verschwand.
Rechts und links untergehakt schleppten die Wachen Barti in die Zelle. Sie warfen ihn ins Stroh. Wie ein Kind im Mutterleib krümmte er sich zusammen. Seine Hose war nass. Das Licht der Fackeln genügte, um zu sehen, dass es Blut war.
Sie zitterten beide. Wer kam als Nächstes dran? Ein Wachmann nickte zu ihm. Mihály schmeckte Galle.
„Es tut mir leid, Szábo“, flüsterte er, während er die Ketten an Mihálys Fußgelenken aufschloss. „Ich weiß, was ich dir verdanke.“
January 9, 2014
„Küss mir diese Süße weiter in den Mund.“ Hatte er geredet oder nur gedacht? Die Worte fühlten sich an, als hätten sie nie seinen Kopf verlassen.
Die Diskussionen zu diesen Szenen in den Leserunden waren für uns alle eine Herausforderung. Ich habe jede einzelne genossen. Auch für die Leseprobe zu “Ravens Gift” gilt: Nur für den, der es vertragen kann. (Achtung: Spoiler)
Im Grunde genommen war es nur die Kopie eines Videos, die sie ohne Dr. Johannsons Erlaubnis erstellt und mitgenommen hatte. Vivienne balancierte die CD auf ihrer Zeigefingerkuppe, während ihr Laptop hochfuhr. Nur ein Stück Plastik, doch ihr gesamtes Gewissen befand sich darauf. Ihre Finger huschten über das Tastenfeld und endlich grinste sie ein animierter Yeti an.
Sie könnte diese Plastikscheibe wegwerfen. Sie könnte aufhören, sich daran zu erinnern. Würde dadurch der Mann vom Seeufer aufhören zu existieren? Wenigstens für sie? Würde er aufhören, in ihrem Kopf nach Gerechtigkeit zu schreien? Nach Vergeltung? Sein Name war Samuel Mac Laman. Sie hatte in Morar nachgefragt.
Vivienne fuhr den Schlitten aus, legte die CD ein und wartete. Die erste Hälfte des Videos war nicht von Belang. Die Nachtgeräusche des Loch Morar vermischten sich mit Hamburgs Straßenlärm. Sie schloss das Fenster. Für das, was kam, brauchte sie keine Zeugen. Sie hätte die Lautstärke regulieren können, sie hätte Kopfhörer benutzen können, sie hätte den verdammten Lautsprecher komplett ausschalten können. Aber das wäre Verrat an dem Mann mit den Schuppen gewesen. Sein Leid verdiente es, von ihr gehört zu werden.
Der Steg, der Mann in der Reiterjacke, das Gewehr, mit dem er sein Opfer zum Bootsschuppen trieb. Dann Szenen, die trotz des Zwanges dermaßen lustvoll waren, dass sie sich schämte. Trotzdem starrte sie hin. Wegsehen ging nicht. Das hatte sie längst versucht.
Samuel sank zusammen, sein Peiniger kniete sich vor ihn. Ihr Herz begann zu hämmern.
Wieder wurden Samuels Beine auseinandergedrückt. Wieder verschwand der Kopf des anderen zwischen ihnen, wieder schrie Samuel sich die Seele aus dem Leib. Vivienne klappte den Laptop zu und starrte durchs Fenster auf die Alster. Was jetzt kam, wollte sie nicht sehen. In den letzten Wochen hatte sie das zu oft. Dieser Bastard in der Reiterjacke gehörte eingesperrt. An einen Ort ohne Sonne.
Die Leute in diesem schottischen Dorf hatten ihre Fragen nur widerwillig beantwortet. Samuel war selten in Mhorags Manor, nur, wenn er seine verrückte Mutter besuchte. Den anderen Sohn hatte seit Jahren niemand gesehen. Seltsame Söhne hatte Mia Mac Laman. Nur der Jüngste schien normal zu sein, aber der hatte einen anderen Vater. David Wilson. Den Mann in der Reiterjacke.
Woher sollten die Leute aus Morar auch wissen, was David Wilson nachts am Ufer des Sees tat? Die Gegend war einsam. Vielleicht hatte niemand je Samuels Schreie gehört. Was für ein trostloser Gedanke.
Der Bistro-Mann hatte sich über die Schulter gespuckt, bevor er weiter geredet hatte. Ob sie nicht die Gerüchte kenne, die um die Familie Mac Laman kreisten? Nein, kannte sie nicht. Sie wollte die Gerüchte über David Wilson hören, um ihm die Polizei auf den Hals zu hetzen.
Wilson? Ein netter Mensch, nur leider zu selten da. Immer höflich. Warum Mia nicht seinen Namen angenommen hatte, wusste niemand. Aber die Mac Lamans waren eine alte Familie. Traditionsbewusst. Schottisches Urgestein. Ein Jammer, dass ausgerechnet Mia nicht alle Tassen im Schrank hatte. Als junges Mädchen sei sie normal gewesen und zum Sterben schön. Aber dann … Nun ja, wer sich mit Dämonen einließ, setzte nicht nur seine Seele, sondern auch seinen Geist aufs Spiel.
Dämonen?
Der Mann hatte mit betrübter Miene genickt, allerdings vergessen, sich die Sensationsgier aus den Augen zu wischen. Mia Mac Laman sei von dem Wesen Mhorag höchstselbst verführt worden. Ihren Zwillingssöhnen sähe man das an. Wenigstens dem einen, dem mit der Glatze. Der Briefträger hätte den Jungen ohne Sonnenbrille gesehen. Teufelsaugen! Natürlich sei das ein Gerücht, aber wo Qualm war, war Feuer, und die Mac Laman Zwillinge waren unheimlich. Das bestritt im Ort niemand.
Der Mann hatte sicherheitshalber noch einmal ausgespuckt. Der andere Zwilling lebe zurückgezogen. Es hieß, er hätte eine verunstaltete Hand, daher der Handschuh. Nun ja, der Teufel hinterließ an seinen Kindern immer Zeichen. Das wüsste hier jeder.
Kein Teufel. Eine Chimäre. Halb Mensch, halb Wasserwesen. Oder, was wissenschaftlicher klang, ein Hybrid. Oder beides gleichzeitig? Vivienne raufte sich die Haare. Geschissen auf den Terminus. Der Kerl hatte gelebt, hatte Kinder gezeugt, die jetzt an ihrem Erbe zu leiden hatten. Woher kamen die Gene, die sich in sein Erbgut geschlichen hatten? Johannson vermutete, sie seien prähistorischen Ursprungs. Jedenfalls hatten sie einem der Zwillinge eine faszinierende Schuppenhaut auf seiner linken Körperhälfte beschert.
Diese seltsame Haut hatte ihn verraten und Johannson davon überzeugt, am Ziel seiner Wünsche angekommen zu sein. Seit Ewigkeiten jagte ihr Chef das Ungeheuer von Loch Morar. Mit Samuel hatte er einen Nachkommen des Monsters gefunden. Vivienne wischte sich über die Augen. Sie hätte damals schon eingreifen müssen. Hätte sich von einem fanatischen Kryptozoologen nicht wegschicken lassen dürfen. Johannson hatte den Ruhm für sich allein gewollt. Jetzt war er wie vom Erdboden verschluckt.
Mit Samuel? Ohne ihn? Oder hatte er ihn in Teilen mitgenommen?
So oft war sie kurz davor gewesen, in dem Hotel in Morar anzurufen. Vielleicht wusste die Empfangsdame, was mit Samuel Mac Laman geschehen war? Ob er wieder in Mhorags Manor angekommen sei, ob er noch fort wäre, wo er sein könnte? Aber sie hatte es nicht getan. Die Angst vor der Antwort war zu groß. Was, wenn er wie Dr. Hendrik Johannson verschwunden wäre? Was, wenn dieser alte Drecksack ihn in ein geheimes Labor gesperrt hätte? Was, wenn er Samuel längst getötet und seziert hätte?
Drei dicke Kluntjes plumpsten in die Teetasse und verursachten eine Überschwemmung auf dem Untersetzer. Sie war schuld, dass Johannson von Samuel erfahren hatte. Hätte sie ihm nur nie dieses verfluchte Video gegeben. Wäre sie nur nie in diese jämmerliche Abteilung gegangen. Kryptozoologie. Drauf scheißen sollte man.
„Hey, Vivienne!“ Das schlaffe Pochen an der Tür klang massiv nach durchgemachter Nacht. Erik stand mit verquollenen Augen und einem Paket in der Hand im Flur. „Ist abgegeben worden für dich.“ Aus seinem Mund stank es nach ungeputzten Zähnen. Widerlich. Vivienne drehte den Kopf weg.
Als Post Town war Mallaig angegeben. Morar lag um die Ecke. Wer zum Teufel schickte ihr Pakete aus diesem Kaff? Johannson. Ihre Adresse prangte in seiner grässlichen Krakelschrift auf dem braunen Papier.
„Liegt schon ein bisschen länger bei mir rum. Bin nicht dazugekommen, es vorbeizubringen.“ Erik kratzte sich durch sein ungewaschenes Haar. „Nachtschichten.“
Sollte sein Schulterzucken seine Schlampigkeit entschuldigen? Der Stempel auf dem Paket war von letztem Monat. Mein Gott!
„Du kompletter Idiot!“
Erik fuhr zusammen. „Sachte! Immerhin habe ich es angenommen.“
„Sachte? Du hast es vier Wochen bei dir Schimmel ansetzen lassen, du faule Sau!“
„Hey, ich hatte zu tun.“
Vivienne schlug ihm die Tür vor der Nase zu. Ein Monat. Was war hier drin? Proben? Der Kopf der Chimäre? Der Tee wurde bitter in ihrem Magen. Johannson war nicht irre. Er würde im Sommer keinen Kopf durch Europa schicken. Höchstens eingelegt in Formaldehyd. Dazu war das Paket zu leicht. Aber die Größe könnte hinkommen.
Entspann dich, Vivienne. Du bist ein Profi. Mach es einfach auf und sieh nach.
Zweimal fiel ihr das Messer aus der Hand, als sie das Paketband aufschnitt. Bevor sie die Pappdeckel auseinanderbog, atmete sie tief durch. Wenn etwas in dem Päckchen ihr sagte, dass der Mann noch lebte, würde sie ihn suchen und retten. Das war sie ihm schuldig.
Noch einmal atmen, dann klappte sie die Deckel auseinander.
Notizbücher. Disketten. Ein Brief.
Hallo Vivienne!
Ich breche die Expedition ab. Der Inhalt dieses Päckchens ist für Professor Klaus Wegener vom biologischen Institut Hamburg bestimmt und soll meine letzten zehn Jahre Forschungsarbeit vor ihm rechtfertigen. Sagen Sie ihm, ich sei kein Spinner und zeigen Sie ihm um Gottes Willen die Probe und das Video. Was er damit macht, ist seine Sache. Er war stets Rationalist. Er wird die richtige Entscheidung treffen.
Gruß,
Hendrik Johannson
Der Kerl hatte die Expedition abgebrochen? Bevor oder nachdem er Scheibenpräparate aus Samuel hergestellt hatte?
In Unmengen Blisterfolie steckte ein Fläschchen.
Haut? Sie hielt die Probe ins Licht. Dunkelgrün, an den Rändern glatt, relativ groß geschuppt. Sie schluckte die Übelkeit hinunter. Er war tot. Der Mann mit der schillernden Schuppenhaut, dessen Leid sie kaltherzig gefilmt hatte, war tot. Nein, sie war nicht kaltherzig gewesen. Nur zu feige, um ihm zu helfen, als dieser Reiterjacken-Kerl … Egal. Es war zu spät.
Johannson hatte Samuel für seinen Forscherruhm umgebracht.
*
Schwarzes Wasser. Überall. Es schluckte das Licht ebenso wie jedes Geräusch.
Wo war Laurens? Er hatte nach ihm gerufen, von irgendwo unter ihm. Samuel tauchte tiefer in das schwarze Wasser ein. Keine Stimme. Kein Laurens. Nur Stille. Doch Stille im Loch Morar war nicht möglich. Samuel konzentrierte sich auf die Geräusche, die nicht da waren, aber da sein müssten. War Laurens Stimme wirklich von hier unten hergekommen? Laurens hasste es zu tauchen. Er hatte Angst davor. Warum sollte er ohne ihn in den See gehen? Samuel war schon fast am Grund. Seine Zehen streiften über schlammigen Boden, seine Hände tasteten Felsen ab. Verdammt noch mal, als ob er blind wäre. Wenn er nicht aufpasste, schlug er sich in dieser Finsternis noch den Schädel ein.
Etwas Weiches streifte an seinem Fuß entlang. Samuel
griff hinein. Haare? Sie umschlangen seine Finger, streichelten über seine Unterarme. Dann etwas Hartes, Glattes. Stirn, Nase, Lippen. Sie waren offen. In ihrer Mitte war Schlick.
Nein!
Samuel fuhr hoch. Kein Wasser, keine Finsternis. Herrgott noch mal! Sein Herz donnerte in seiner Brust. Verdammter Traum!
Laurens stand am Fenster. Lebendig und schön. Der Nachtwind spielte mit ein paar Haarsträhnen, die mit dem Mondlicht um die Wette glänzten.
Samuel ging innerlich auf die Knie und küsste jedes Stückchen Boden, das Laurens jemals betreten hatte.
„Schlechte Träume?“ Laurens resigniertes Lächeln verriet, dass seine Träume auch nicht besser gewesen waren.
„Ziemlich schlechte.“ Das Gefühl von Laurens nassen Haaren zwischen seinen Fingern spürte er jetzt noch.
Laurens schlang die Arme um sich. Wie lange stand er dort schon in der Kälte?
„Ich wollte dich gerade wecken. Du hast so unruhig geschlafen, dass ich mir Sorgen gemacht habe.“
„Musst du nicht.“ Samuel schlug die Decke zurück. „Komm zurück ins Bett. Ganz dicht an mich ran.“ Er musste Laurens an sich spüren. Ihn nur zu sehen reichte nicht.
Laurens zog die Brauen hoch. „So schlimm?“
„Schlimmer.“ Du warst tot. Sei das niemals. Erst als sich Laurens an ihn schmiegte, beruhigte sich sein Herz. Er vergrub sein Gesicht in Laurens’ Haaren. Sie dufteten nach Nacht und Kälte.
Laurens seufzte und schmiegte sich näher an ihn. „Ich würde eine Menge für traumlose Nächte geben. Aber kaum schließe ich die Augen, geht der Horror los.“
„Was war es diesmal? Der See oder Davenport?“ Laurens’ Albträume variierten meist zwischen beiden Motiven.
„Davenport“, sagte Laurens leise. „Er rammt mir diese elende Flinte zwischen die Rippen und lacht dabei dreckig.“
James Davenport. Er hatte Laurens als Köder benutzt, um ihn zu fangen. Hatte Laurens wie ein Tier in einen Käfig gesperrt, ihn gequält.
„Du musst nicht mit den Zähnen knirschen.“ Laurens küsste ihn sacht auf die Wange. „Es ist vorbei. Ich würde nur mal gerne wieder von etwas Schönem träumen.“
„Von mir, wie ich ihm den Kopf abreiße?“ Das war ein Fest gewesen. Allerdings nur für ihn. Laurens hätte es niemals sehen dürfen.
Laurens drehte sich aus seiner Umarmung und stützte sich auf dem Ellbogen auf. „Es reicht mir, wenn ich Ravens Sarkasmus ertragen muss. Fang du nicht auch noch an.“
Wenn der Grund nicht bitter wäre, wäre das empörte Augenfunkeln von Laurens niedlich gewesen. Aber dieselben Augen hatten ihn damals fassungslos angestarrt. Das Entsetzen in ihnen würde er niemals vergessen können.
„Auch wenn es dein Ego runterziehen sollte, ich sehe kein Ungeheuer in dir, tut mir leid.“ Eine steile Falte wuchs zwischen Laurens’ Augenbrauen. Samuel zog sie mit dem Zeigefinger seiner linken Hand nach. Die Rauheit der Schuppen zu fühlen und gleichzeitig zu behaupten, er sein kein Monster, war naiv.
„Du fliehst vor mir.“ Jedes Mal, wenn er ihn lieben wollte. Zärtlichkeiten, ja. Massive Zärtlichkeiten. Aber keinen Schritt weiter. Laurens brauchte Zeit. Kein Wunder nach dem, was geschehen war. Aber Samuel brauchte keine Zeit mehr. Er brauchte Laurens und das nicht nur von außen. Mit diesem Mann verschmelzen können, seinen Körper vollkommen in Besitz nehmen, um ihn nach der Liebe aufgelöst vor Glück zurückzugeben. Seine Sehnsucht danach begann zu schmerzen.
„Blödsinn.“ Laurens wischte Samuels Hand weg. „Ich fliehe nicht. Ich kann nur nicht …“
„Meinen Schwanz in dir ertragen?“ So wie Laurens den Kopf hängen ließ, hatte er ins Schwarze getroffen.
Laurens sah ihn unglücklich an. „Da ist eine unsichtbare Wand.“
„Vor deinem Hintern oder vor meinem Schwanz?“
„Genau dazwischen.“
Diese Wand war erschreckend massiv. Seit sie sich kannten, hatte es Samuel nicht geschafft, sie einzureißen. Laurens legte sich seufzend zurück in seinen Arm.
„Kannst du mir nicht eine Räuberleiter bauen?“ Da er nicht lachte, meinte er es ernst. Samuel legte seine Hand auf Laurens’ Bauch. Es war schön zu spüren, wie der Atem durch ihn hindurch floss. In seinem Traum war Laurens starr und kalt gewesen.
„Was immer dir hilft, ich werde es tun.“ Behutsam zog er mit dem Finger Kreise um Laurens Nabel. „Ich kann das Licht löschen, deine Augen verbinden. Oder ich kann versuchen, dich zu hypnotisieren. Bei Zahnbehandlungen soll das angeblich wirken. Gegen die Angst und gegen den Schmerz.“ Damit schlüpfte diese Möglichkeit in die engere Wahl.
Laurens runzelte die Nase und schüttelte den Kopf. „Vielleicht solltest du mir einfach eins über den Schädel ziehen und mich dann nehmen. Wenigstens kann ich dir so nicht mehr von der Bettkannte springen.“
„Und das Highlight deines ersten Males mit einem Mann verpassen? Auf keinen Fall.“
„Dann nicht.“ Mit einem tiefen Seufzen legte Laurens seinen Arm um Samuels Hals. „Mach einen Gegenvorschlag.“
Wagte sich Laurens absichtlich weit vor? Samuel neigte sich zu ihm, küsste diesen wahnsinnig schönen Mund. Er öffnete sich für seine Zunge, nahm die Zärtlichkeiten dankbar von ihm an. Laurens jetzt zu lieben, ganz sanft, um die dunklen Träume zu vertreiben. Es wäre gut für ihn. Es wäre gut für sie beide.
Der Hals, das Grübchen zwischen den Schlüsselbeinen. Samuel ließ sich Zeit für jeden Kuss. Laurens streckte sich unter seinen Berührungen, stöhnte leise, als Samuel seine Brustwarzen liebkoste. Sie wurden fest unter seiner Zunge. Die glatte Haut unter seiner Schuppenhand zu fühlen, die Schauer, die sie in Laurens Körper auslöste. „Wenn du ein bisschen Anlauf nimmst, schaffst du es über diese Mauer.“ Samuel ließ seine Hand über Laurens’ Bauch weiter nach unten gleiten. Rieb sanft über die beginnende Härte. Sie wuchs, schmiegte sich in seine Handfläche. „Trau dich, Laurens.“ Dann würde er süchtig danach werden. So wie es David geworden war, doch den Gedanken verdrängte er besser.
Laurens streckte sich ihm entgegen. Wollte er es diesmal wirklich? Die Härchen an seinen Lenden dufteten nach Lust. Samuel nahm sie zwischen die Lippen, zupfte sanft daran. In seiner Hand begann es zu zucken. Samuel schloss seine Finger fester um Laurens’ Erektion, rieb ihn schneller. Je näher Laurens dem Rausch war, umso leichter würde er die Hürde nehmen können.
„Nicht weitermachen.“ Laurens keuchte, stemmte sich hoch.
„Ich bin überreizt. Wenn du mich weiter streichelst …“
„Kommst du in meiner Hand. Das wäre nicht das erste Mal.“
„Aber dann schaffe ich den Sprung über die Mauer nicht mehr.“
Dieses süße, verunsicherte Lächeln. Samuel küsste es, bis sich Laurens’ Lippen wieder für ihn öffneten.
Laurens’ Fingerspitzen glitten über seine Brustplatten. Als Samuel seufzte, drückte Laurens ihn zurück und setzte sich auf ihn. Seine Haare kitzelten in Samuels Gesicht. Er fasste hinein, zog Laurens zu sich herunter und presste seinen Mund auf die köstlichsten Lippen des Universums. Sie küssten ihn gierig zurück, bissen, saugten. Er bekam keine Luft mehr, doch Laurens hörte nicht auf. Die Art, wie er sich auf seinem Schoß rekelte, wie seine Zunge Samuels Mund nahm … Laurens wollte es.
Samuel drehte ihn unter sich. Sofort blitzte Angst in den blaugrünen Augen. Noch ein Kuss. Tief und innig. Er musste Laurens davon ablenken, dass er nach dem Spender auf dem Nachttisch tastete.
Laurens’ Kiefermuskeln verkrampften sich, als Samuel seine Beine auf seine Schultern legte. Sein Blick flehte, doch diesmal würde er ihn nicht fliehen lassen. Diesmal gehörte er ihm. Noch ein tiefer Kuss, noch ein zartes Saugen an ängstlichen Lippen. Laurens’ Herz raste. Samuel spürte es unter seiner Handfläche. Er sollte sich nicht fürchten. Er sollte sich lieben lassen. Es war so einfach. Er musste ihm nur vertrauen.
Als Laurens das kalte Gel an sich fühlte, zuckte er zurück. Nur ein wenig massieren, nur, um ihn daran zu gewöhnen. Laurens’ Augen wurden glasig. Er fasste in Samuels Haar, atmete schnell. Angst? Lust? Beides. Das erste würde vergehen, sobald er sich hingab.
Sein Finger glitt in Laurens’ Enge, die sich langsam entspannte. Laurens drückte den Kopf ins Kissen und schloss die Augen. Ein zweiter Finger. Laurens stöhnte laut, hob sein Becken an. Als sich Samuel zurückzog, schüttelte er ungeduldig den Kopf. Er war soweit, wollte mehr als nur zwei Finger. Und er würde mehr bekommen.
Vorsichtig drängte sich Samuel an ihn. Laurens hielt den Atem an.
„Bleib entspannt.“ Es durfte ihm nicht unnötig wehtun, aber er sehnte sich so sehr in diesen Mann hinein. Wie sollte er sich beherrschen?
Noch ein wenig fester. Laurens gab unter ihm nach. So war es gut, ganz langsam.
„Warte!“ Laurens schluchzte auf, robbte von ihm weg. „Ich kann’s nicht!“ Sein Blick huschte über Samuels Erregung, die die Schuppenhaut zu sprengen drohte. „Es tut mir leid, Samuel. Und du brauchst auch nicht fragen, ob ich oben sein will. Nein, will ich nicht. Wenigstens nicht jetzt.“ Er kämpfte mit den Tränen und Samuel mit seiner Enttäuschung. Oben, unten. Was spielte das für eine Rolle? Laurens weigerte sich. Wieder einmal.
„Mir tut es auch leid, Laurens.“ Er hatte genug Rücksicht auf Laurens’ Gefühle genommen. Was hielt ihn davon ab, diesen Mann in die Kissen zu drücken und ihm seine Liebe aufzuzwingen? In einer erschreckend deutlichen Vision band er Laurens’ Handgelenke an den Bettpfosten und fiel über ihn her.
Laurens zog die Beine an und schlang die Arme um die Knie. „Scheiße Mann, ich dachte, ich pack es diesmal.“
„Hier geht es nicht um einen Klippensprung in unbekanntes Gewässer, sondern um Liebe.“ Was die Fesselnummer in seinem Kopf ausschloss. „Du musst nichts packen. Du musst mir vertrauen!“
„Das tue ich!“
„Ja, sicher. Deshalb presst du auch deine Schenkel zusammen und starrst meinen Schwanz an, als ob er Widerhaken hätte.“ Unzählige Male hatte ihn Laurens berührt. Er wusste, dass die Schuppen dort geschmeidiger und glatter waren, als am Rest seines Körpers.
Laurens schüttelte den Kopf. Was sollte diese hilflose Geste mit der Hand? Eine Entschuldigung? Eine Erklärung für sein Verhalten? Samuel verstand beides nicht. Sie liebten sich, sie wollten sich. Warum konnte sich Laurens nicht einfach nehmen lassen?
„Ich weiß, dass ich dich mit meinem Verhalten kränke.“ Seine Hand hatte eine Zuflucht in seiner Mähne gefunden. „Ich weiß nur nicht, wie ich es ändern soll.“
Wie auch immer. Tu es und tu es bald, denn ich bin auch nur ein Mann, und die Schuppenhaut macht es nicht einfacher für mich. Samuel biss sich auf die Zunge, um die Worte nicht laut auszusprechen. Laurens’ Schuldgefühle würden an ihrem Dilemma nichts ändern. Er holte tief Luft und bemühte sich um einen gelassenen Tonfall. „Ist okay. Es war nur ein Versuch.“ Ein vergeblicher. Die Reihe seiner Vorgänger war lang.
Vielleicht würde es Laurens nie zulassen, vielleicht konnte er einen Mann nicht in sich ertragen. Nicht mit und nicht ohne diese Schuppen. Das resignierte Seufzen schluckte er hinunter. Aber das bittere Gefühl in seinem Herz blieb, und der Schmerz zwischen seinen Beinen warf ihm vor, Laurens nicht einfach genommen zu haben.
*
Es war nur eine Tür. Dahinter das Treppenhaus, der Flur, die Briefkästen. Ob seine Eltern eine Ansichtskarte aus Frankreich geschickt hatten? Sie gingen davon aus, dass er ein sinnreiches Studentenleben führte. Lernen, Prüfungen, Freunde treffen. Tom zog mit dem Finger die Maserungen der Wohnungstür nach. Seit geraumer Zeit war nichts sinnreich in seinem Leben. Neben einem Minimum an Nahrungsaufnahme und Schlaf gab es nur noch eine einzige Notwendigkeit: nicht gesehen zu werden.
Diese Wohnung war seine Burg. Schützte ihn vor den Blicken der Menschen, die trotz ihrer gewöhnlichen Hässlichkeit tausendmal schöner waren als er. Früher hatten sie sich nach ihm umgesehen und geseufzt vor Sehnsucht oder vor Neid. Heute würden sie ihn anspucken.
Und wenn er rannte? Schnell die Treppe hinunter, dann die Blechklappe aufschließen, die Post an sich reißen und nach oben zurück flüchten? Sicher quoll sein Briefkasten schon vor Werbeprospekten über. Vor einer Woche war Miyu da gewesen und hatte ihn geleert und den Kühlschrank gefüllt. Warum rief sie nicht an? Warum fragte sie nicht, ob er etwas brauchte? Sie war die Einzige, die ihn sehen durfte. Nur sie ließ er in die Wohnung. Nur mit ihr führte er kurze Gespräche, bevor sie Ausreden erfand, um wieder vor ihm fliehen zu können. Niemand sah dem Grauen lange ins Gesicht.
Wenn sie heute nicht kam, musste er sie anrufen. Es war kaum noch Essen da und Bargeld hatte er auch keines mehr. Nicht dass er viel benötigte. Wozu? Um Freunden Drinks zu spendieren? Um sich schicke Klamotten zu kaufen? Hier drin sah ihn niemand. Es war gleichgültig, ob er seinen Arsch in Seide oder Lumpen packte. Niemand würde sich dafür interessieren, nachdem er sein Gesicht gesehen hatte.
Tom ging zum Fenster und zog die Vorhänge zur Seite. Unten auf der Straße gingen Menschen vorbei, die ihr Leben lebten. Was lebte er? Lebte er überhaupt noch? Wahrscheinlich war er ein Gespenst, das seinen eigenen Tod nur noch nicht mitbekommen hatte. Was für ein erfrischend entspannender Gedanke. Gespenster brauchten sich vor den anderen nicht verstecken. Sie waren unsichtbar.
Tom öffnete das Fenster. Wenn Miyu käme, würde sie sonst über die abgestandene Luft klagen und noch schneller verschwinden. Am Anfang hatte er sie dafür gehasst. Jetzt hasste er nur noch einen Menschen auf dieser Welt.
Auch im Badezimmer roch es schlecht. Tom ließ die Tür aufstehen.
Ein Lufthauch wehte durch die Wohnung, erfasste das Tuch über dem Badezimmerspiegel. Es segelte auf die Fliesen.
Nicht hochsehen. Einfach das Tuch aufheben und mit geschlossenen Augen über den Glasrand hängen. Irgendwo musste Klebeband sein. Damit würde er es fixieren.
Er klammerte sich an den Rand des Waschbeckens, starrte auf die angetrockneten Zahnpastareste, die den Weg in den Siphon nicht geschafft hatten. Nicht hochsehen. Dort oben auf der Glasfläche erwarteten ihn Schluchten und Krater. Sie zogen sich quer über seine rechte Wange. Rot, geschwollen. Ein herunterhängendes Lid, ein triefendes Auge. Ein zur Hälfte vernarbter Mund, über dessen Unterlippe der Speichel lief. Dieser Mund hatte Samuels Lippen geküsst. Und Samuel hatte ihn entstellt. Mit einem einzigen Schlag ins Gesicht. Diese verdammten Schuppen hatten ihm die Haut von der Wange gerissen.
„Dein Tod für mein Gesicht, du Bestie.“ So furchtbar das Monster im Spiegel aussah, sein Wispern spendete Trost.
Es gab Tage, da lebte er nur für diesen Gedanken, Samuel Mac Laman büßen zu lassen. Dabei war dieser Traum von Rache lächerlich. Lächerlich wie er selbst. Woher den Mut nehmen, Samuel entgegenzutreten? Ihn zu bedrohen, ihn zu töten. Mit was? Allein mit seinem Hass?
Neben der Toilette stand ein Aschenbecher. Das Ding war schwer, hart. Tom holte aus. Glas splitterte. Wer kein Gesicht hatte, brauchte keinen Spiegel.
*
Das Ding im Käfig zuckte zusammen, als Raven das Licht anschaltete. Es kroch in die Ecke, zog dabei sein Bein durch eine Pfütze. Verfluchte Sauerei.
„Du hast einen Eimer zum Pissen. Benutz ihn gefälligst.“
Statt einer Antwort kam nur ein Wimmern.
War das Blut, das an den Gitterstäben klebte? Dann musste das gelbgrüne Zeug Eiter sein. Raven trat einen Schritt zurück. Um Nichts in der Welt würde er diese widerlichen Stangen mit bloßen Händen berühren. Das, was dahinter kauerte, schon gar nicht. Das hatte er nur einmal getan, um David in den Tod zu schicken, doch der ließ auf sich warten. Erstaunlich, wie resistent Davids Organismus seinem Gift gegenüber war. Er hatte ihn gebissen und in den Keller zum Sterben geschleppt. Dort wollte er ihn vergessen, dann entsorgen. Doch David hatte plötzlich nach Wasser gebrüllt. Raven hatte ihm den Eimer gefüllt und den Sterbenden damit in denselben Käfig gesperrt, in dem auch Laurens hatte leiden müssen. Aber David starb nicht. Im hintersten Kellergewölbe, weit von allen Ohren entfernt, die seine Rufe hätten hören können, atmete dieser stinkende Körper einfach weiter.
Ravens Magen krampfte sich zusammen. Das tat er jedes Mal, wenn er hier hinunter musste. Was hatte er sich nur aufgebürdet?
Und wenn er diesen halbtoten Mann tatsächlich hier unten vergaß? Wenn er vergaß, ihm Wasser und Nahrung zu bringen? Dann musste David sterben. Jeden Tag versuchte Raven, nicht in den Keller zu gehen. Nicht aus dem hinteren Gang das Wimmern zu hören, das ihn anflehte, ihn nicht zu vergessen. Es hatte sich in sein Hirn eingenistet, erinnerte ihn Tag und Nacht daran, dass es existierte. Was war er nur für ein erbärmlicher Feigling, dass er es nicht über sich brachte, diesen Mistsack krepieren zu lassen?
Wer hatte gesagt, Rache sei süß? War sie nicht. Sie war bitter. Für alle Beteiligten.
Raven stellte eine Wasserflasche dicht genug an den Käfig, dass David sie erreichen konnte. Auf dem Teller daneben fehlte kein Stück Brot.
„Keinen Hunger heute, Daddy?“ Er schnippte eine der trocken gewordenen Scheiben in den Käfig. „Sind dir die Zähne ausgefallen?“ Oder hatte er sie sich abgebrochen, als er in die Stangen gebissen hatte? Knochen gegen Eisen. Was für ein aussichtsloser Kampf.
Sein Stiefvater antwortete nicht. Er sah ihn nur mit diesem Blick an, der Raven bis in seine Träume verfolgte. Qual. Jedes Quäntchen davon hatte David verdient.
„Auf Samuel!“ Er prostete David mit der Wasserflasche zu. „Denk an ihn, wenn dein Fleisch zu stinken anfängt.“
Jede Sekunde aufgezwungener Lust sollte er bereuen. Jeden Schrei, zu dem er Samuel getrieben hatte, sollte er selbst ausstoßen. David sollte in der Verzweiflung ertrinken, die ihn in dem Moment ansprang, in dem Raven das Licht löschte und ihn allein ließ.
Noch vor wenigen Tagen hatte dieser Mistkerl an den Stäben gerüttelt und um Gnade gefleht. Jetzt nicht mehr. Auch Stimmbänder verrotteten.
David rollte sich auf die Seite und zog die Knie zum Kinn. Sein Hemd rutschte hoch. Die Haut, die zum Vorschein kam, war übersät mit Hämatomen, getrocknetem Blut und getrockneter Scheiße.
„Angst macht eklig, David. Hast du das nicht gewusst?“
Die aufgesprungenen Lippen bewegten sich, brabbelten.
Der Eimer hinter der Futterluke war leer. Offenbar gab Davids Körper seine Funktionen endlich auf. Auch gut, dann musste er wenigstens den Dreck nicht durch einen der Schächte entsorgen, die in den See mündeten. Fluchttunnel aus längst vergangenen Zeiten. David würden sie nicht mehr in die Freiheit führen.
„Bis später, Daddy.“
Das Licht ging aus, David heulte auf. Gott, er klang wie ein sterbendes Tier.
Raven drückte mit seinem Gewicht die Tür zu, lehnte sich dagegen und kämpfte gegen das Bedürfnis an, sich zu übergeben. Er hatte sich zum Rächer seines Bruders aufgeschwungen. Warum konnte er es nicht genießen? Diese Rache war gerecht. Trotzdem fühlte es sich an, als ob er Glut schlucken musste.
Raven flüchtete den Gang entlang wie jeden Tag. „Wenn ich morgen komme, sei endlich tot.“
Das Wimmern wurde leiser, es lag an der Distanz. Verflucht noch mal.
Und wenn er Samuel ins Vertrauen zog? Dann müsste er diese stinkende, hirnzersetzende Bürde nicht allein tragen. Raven blieb mitten auf der Kellertreppe stehen. Die Sehnsucht nach seinem Bruder drückte sein Herz ab. Nein, Samuel sollte nie wieder mit David belastet werden. Das war seine Aufgabe und er würde sie hinter sich bringen. Allein.
Den Körper würde er verbrennen. Dann war es endgültig vorbei.
Lautlos schloss er die Kellertür. Beide Schlüssel verschwanden in seiner Tasche. Bis jetzt waren weder Erin noch Finley misstrauisch geworden. Ob sie seit vier Wochen nicht in den Keller mussten oder ahnten, dass er dort etwas verbarg, wusste er nicht. Sie stellten keine Fragen, taten so, als gäbe es weder dieses Gewölbe, noch den Mann, den er dort unten gefangen hielt.
Schritte auf der Treppe? Raven drückte sich an die Wand. Samuel ging an ihm vorbei. An der Haustür blieb er stehen, legte seufzend den Kopf in den Nacken. Keine schöne Nacht für dich, Bruder? Willkommen in meinem Dasein aus Finsternis. Wo ist dein Sonnenschein? Du gehörst zu den wenigen Menschen, die ihn mit sich führen können. Warum tust du es nicht?
*
Türenquietschen, das Klicken des Feuerzeugs. War er der Einzige, der in dieser Nacht Geräusche verursachte? Selbst seine Schritte klangen einsam. Samuel setzte sich auf die Bank vorm Haus und blies Rauch in den Himmel. Wenn Laurens morgen früh erwachte, war er bereits in Glasgow.
Mias Arzt hatte auf einen Termin bestanden. Er wunderte sich, dass die Medikamente nicht ansprachen. Er würde sich noch mehr wundern, wenn er wüsste, dass Mia mit jedem Wort die Wahrheit erzählte. Dieser Termin hing über ihm wie eine dunkle Wolke. Wie sollte er seiner Mutter gegenübertreten? Von Davids Tod wusste sie nichts. Dass sie nicht verrückt war, wusste der Arzt nicht, und Samuel würde es ihm nicht begreiflich machen können. Sollte er sie einfach aus der Klinik herausholen und hierher bringen? Und damit riskieren, dass sie wieder zusammenbrach? Spätestens wenn sie erfuhr, dass Raven Davids Mörder war, würde sie das garantiert.
Ein Banktermin stand auch noch an. Das alte Haus schluckte Geld, das nicht da war, und ihm blieb nichts anderes übrig, als sich darum zu kümmern. Sowohl um Mia als auch um alles andere. Verdammt noch mal, heute wäre eine wirklich gute Nacht gewesen, um seine Sorgen in Laurens für einen Moment zu vergessen. Die Nachricht, dass sie sich erst gegen Mittag wiedersehen würden, hatte Laurens schweigend hingenommen. Seit der Katastrophe am See waren sie nie länger als wenige Augenblicke voneinander getrennt gewesen.
Die Tür quietschte wieder.
„Warum liegst du nicht in den Armen deines holden Ritters?“ Raven verzog den Mund zu einem spöttischen Grinsen. „Frisch Verliebte sollten Nächte wie diese gemeinsam verbringen.“
„Du musst es ja wissen.“ Er reichte Raven die Zigarette. Wenn ihm nach Provokation war, sollte er seinen Mund besser mit etwas anderem beschäftigen, als mit Reden.
Raven kletterte hinter ihm auf die Bank und setzte sich auf die Lehne. „Beziehungsstress?“
„Fragt das der Mann, der nie eine Beziehung hatte?“
Raven lachte. Es klang weder höhnisch, noch amüsiert. Höchstens traurig. „Ich nehme mir, was ich will. Von Fremden, Freunden oder meinem Bruder. Dazu brauche ich keine Beziehung.“ Er inhalierte tief und blies schließlich den Rauch über Samuel hinweg. „Streich die Fremden und die Freunde. Strenggenommen brauche ich nur dich. Die anderen überleben mich nur, wenn sie Glück haben.“
Samuel sah zu ihm auf. Das arrogante Spottgrinsen, das Ravens Sarkasmus normalerweise begleitete, blieb aus.
„Gratulation. Mich hast du.“ Das war das Praktische an Zwillingen, sie wurden einander bereits in die Wiege gelegt.
„In letzter Zeit nicht mehr.“ Raven legte ihm die Hand auf die Schulter. Nach einer Weile begannen seine Finger über die Schuppenhaut zu streicheln. „Du lebst nur noch für Laurens.“
Im Moment würde er lieber in Laurens leben. Samuel lehnte den Kopf an Ravens Bein. Es tat gut, in dieser Nacht nicht allein vor sich hin grübeln zu müssen.
„Hegt er immer noch Bedenken, ob er dich an seinen süßen Arsch lassen soll?“
„Ran lässt er mich. Nur nicht rein.“
„Die schüchterne Jungfrau.“ Die Kreise, die Ravens Fingerkuppen auf Samuels Haut zogen, wurden größer. „Du wirst ihn schon überzeugen. So etwa in hundert Jahren. Und bis dahin kannst du ihm jede Nacht gut zureden.“ Er lachte. Nur leise, aber über dieses Thema durfte er es nicht. Samuel nahm Ravens Hände von sich. „Mich hebt es nicht unbedingt an, wenn du in dieser Art über Laurens sprichst.“ Davon abgesehen, dass es Raven egal zu sein hatte, wer wen wohin ließ oder nicht. Das war nicht sein Problem.
Raven legte seine Hand an Samuels Kinn, drehte sein Gesicht so, dass er ihn ansehen musste. „Soll ich dich anheben, Bruder?“ Seine Zungenspitze glitt über die Unterlippe. Kurz blitzten seine Giftzähne auf. „Ich würde es heute Nacht gern tun.“ Zögernd griff er unter Samuels Kinn und drückte ihm den Kopf in den Nacken. Er strich mit dem Daumen über Samuels Kehle, zärtlich und verlockend. „Früher hattest du gegen einen kleinen Rausch nichts einzuwenden.“
Ein Traum aus Sinnlichkeit und Lust, durch Ravens Gift ausgelöst, in Ravens Armen genossen. Exakt das war es, was er jetzt brauchte. Das sehnsuchtsvolle Seufzen kam von allein über seine Lippen.
Raven lächelte verständnisvoll. „Es ist kein Verrat an deinem Liebsten, nur ein Biss.“
Sein Liebster lag oben im Bett und ließ sich nicht lieben. Trotzdem war es Verrat. Alles, was mit Ravens Gift zu tun hatte, war Verrat. Die Visionen, die das Gift lockte, verführten und betrogen. Die Gefühle, die das Gift an die Oberfläche zwang, verführten und betrogen. Und Ravens Küsse und Zärtlichkeiten waren ohnehin der pure Verrat an Laurens.
Ob Raven seine Gewissensbisse ahnte? Er fuhr Samuel durchs Haar und sein Blick war eine Mischung aus Sehnsucht und Skrupel. „Finley sagte mir, du übernähmest den Termin mit dem Seelendoktor.“ Er kletterte von der Bank und zog Samuel mit hoch. „Danke, Bruder. Es würde mir schwerfallen, Mia nach all den Jahren wiederzusehen.“
In seiner Stimme schwang der alte Zorn mit, dass sie damals nichts gegen Davids Übergriffe unternommen hatte. Raven hatte ihr das nie verziehen, und plötzlich wich Samuels Ärger über Ravens Spott. Hatte er ihr verziehen? Egal, wie sehr Finley und Erin sie in Schutz nahmen, sie hätte etwas tun müssen. Sie hätte ihm helfen müssen. Mit oder ohne Beruhigungsmitteln im Blut.
„An was denkst du?“ Raven berührte ihn am Arm und holte ihn aus den immer ungerechter werdenden Gedanken.
„Ich stelle fest, dass es mir auch schwerfällt, Mia morgen zu besuchen.“
Raven blieb stehen, legte ihm die Hände an die Wangen und wartete. Auf was? Dass er ihm die Erlaubnis für den Biss gab?
„Ich habe dich vermisst.“ Sein zarter Kuss schmeckte nach trösten wollen und selbst Trost brauchen.
Samuel erwiderte den Kuss, und sein Bruder seufzte leise. Er hatte sich in letzter Zeit nicht um Raven gekümmert. Das schlechte Gewissen wucherte wie Unkraut in ihm. Wieso bemerkte er die stachligen Ranken erst jetzt?
Raven biss sich auf die Lippen und drehte sich weg. „Verzeih mir.“
„Wegen dieses einen Kusses?“
„Nein, sondern weil ich mit dem Gedanken gespielt habe, dich in Gefahr zu bringen.“
„Dann wäre dir der Postbote lieber?“ Und wenn die Dinge schief liefen, hätte Morar danach einen hübschen kleinen Skandal. War sicher interessant, was der Arzt als Todesursache feststellen würde. Exitus durch eine unbekannte halluzinogene und nekrotisch wirkende Substanz, die durch zwei bissähnliche Wunden am Hals dem Opfer zugeführt worden war. Wo war Bram Stoker, wenn man ihn brauchte? „Du nimmst mich oder keinen, Raven.“ Wenn es eine Nacht für einen tröstenden Rausch gab, dann diese hier. Ravens Hand lag warm und vertraut in seiner, als Samuel den Weg hinunter zum See mit ihm ging. Hatte ihm Raven nicht geschworen, ihn nie wieder zu beißen? Schwüre waren geduldig. Raven offensichtlich nicht. Kaum war Mhorags Manor hinter der Biegung verschwunden, blieb er stehen und fuhr mit beiden Händen in Samuels Haar.
„Du hast es auch vermisst, gib es zu.“ Das sehnsüchtige Flüstern seines Bruders, ganz nah an seinem Ohr, stellte Samuels Härchen auf.
Warme Lippen an seiner Haut. Sie liebkosten seine Kehle, suchten die Stelle, unter der sie seinen Herzschlag spüren würden. Ja, er hatte es vermisst. Das Fallenlassen in einen Rausch, der alle Regeln aufhob. Er schlang die Arme um Raven. „Pass auf mich auf.“
Raven legte für einen Moment seine Lippen auf Samuels, weich und feucht, voll Zärtlichkeit. Als er ihn wieder ansah, war nichts als Liebe in seinem Blick. „Das habe ich immer getan.“
Noch während er sprach, kroch das Gefühl durch Samuels Körper, genau das hier zu wollen. Keine Erklärungen, keine Enttäuschungen. Nur ein Biss.
Ravens Zähne drückten sich in seine Ader. Es tat kaum weh. Sanftes Saugen, Ravens fester Griff, der Samuel unter allen Umständen halten würde.
Ein Schluck, dann noch einer.
Seine Beine gaben nach.
Hitze. Sie strömte durch seinen Körper, brannte in seinen Adern. Gleich würde er sich verlieren, in Visionen, über die Raven wachen würde. Jemand stöhnte. War es Raven? Vielleicht war er es auch selbst gewesen. Keinen Moment länger auf diesen Beinen, die weich wie Watte waren. Samuel ließ sich in die Arme seines Bruders sinken.
Behutsam legte ihn Raven ins Gras, zog sein Shirt aus und bettete Samuels Kopf darauf. Sein Gesicht verschwamm vor Samuels Augen. Er versuchte es zu berühren, aber seine Hand fiel zurück. Alles war schwer und schien trotzdem zu schweben.
„Schenk mir heute Nacht mehr, als nur dein Blut.“ Das Wispern schien von weit her zu kommen. Es war Ravens Stimme, aber was wollte er von ihm? Die verschwommene Silhouette, die unendlich weit in den schwarzen Himmel ragte, zog sich die Jeans aus. Samuel blinzelte gegen den Rausch an. Die Silhouette wurde sein Bruder, der nackt und schön über ihm stand. Nicht eine Schuppe. Nur glatte Haut über kräftigen Muskeln.
Raven streifte Samuels Hose ab, betrachtete ihn verträumt. Dann löste er sich wieder auf, wurde wie eine Wolke vom Wind auseinandergezogen. „Denke dir, ich sei Teil deines Traumes.“ Dieses verlockende Wispern perlte von Ravens Mund und tropfte wie Honig auf Samuel hinab. Es schmeckte süß. Samuel leckte es sich von den Lippen, traf dort Ravens Zunge, die dasselbe tat.
„Küss mir diese Süße weiter in den Mund.“ Hatte er geredet oder nur gedacht? Die Worte fühlten sich an, als hätten sie nie seinen Kopf verlassen.
„Dann liebe du mir deine Süße in den Körper. Ich kann dir nicht sagen, wie sehr ich sie brauche.“ Ravens Küsse, so drängend. Wie seine Berührungen. Streicheln, Kratzen, eine entschlossene Hand, die Samuels Beine auseinander schob, ihm guttat. Traumbilder. Das Gift wirkte schnell.
January 7, 2014
„Du musst nur nicken, wenn du nicht sprechen kannst.“ Samuel nickte. ‘Lass mich diese Nacht überstehen.’
Zur Erinnerung, zur Einstimmung oder zur Warnung. “Wer die Leseprobe zu Samuels Versuchung schafft, schafft dein ganzes Buch.” (O-Ton Verleger).
„Da vorne, auf dem Felsen am Ufer!“ Kyle stieß Adam an, der im Halbschlaf über der Angel hing. „Da liegt einer drauf.“ Das Wasser umspülte den unteren Teil des Rückens, aber Schultern und Arme waren deutlich zu sehen. Sein Magen krampfte sich zusammen, er hatte noch nie eine Leiche gesehen und wer immer da hing, musste tot sein. Adam stemmte den Kopf hoch und stierte durchs Morgenlicht. „Das ist doch kein Mensch.“ Nebenbei setzte er den Flachmann an, ohne den Blick seiner rot geäderten Augen von dem Etwas zu nehmen. „Was ist das auf seinem Rücken?“ Er drückte Kyle die Angel in die Hand und tastete nach seinem Feldstecher. „Ein Fisch, sag ich doch. Da sind Zacken aber einen solchen Brocken habe ich hier noch nie gesehen.“
„Seit wann haben Fische Arme?“ Er riss Adam das Fernglas aus der Hand und stellte es scharf. Da schwappte ein Arm im Wasser, aber warum sah er dunkel aus? Faulte der schon? Sein Frühstück drückte an die Magenwand. Kyle schluckte und wischte sich über den Mund. Jetzt nur keine Krise kriegen, Adam war dabei, auch wenn er ständig besoffen war. Wenn er sagte, das Ding sei ein Fisch, war es ein Fisch. Und diese Knubbel am Rücken? Scheißegal. Und die Hand, die an dem gammligen Arm hing? Auch scheißegal. Ausgerechnet jetzt zog ein Nebelfetzen über den Loch Morar auf das Westufer zu. Ein Fisch. Kein Problem. Kein Mensch. Und wenn doch? Zum Teufel mit Adam. „Ich seh mir das jetzt an. Und wenn ich mir vor Angst in die Hosen pisse.“
Adam lachte, aber mit jedem Ruderschlag lachte er leiser.
„Mach keinen Fehler, Junge.“ Er kroch zum Bug und kniff die Augen zusammen. „Nachher ist das eine Ausgeburt aus den Tiefen des Sees, die uns umschlingt und hinab zum Grund schleppt, um ihre Brut zu füttern.“
„Verdammt, Adam! Halt dein besoffenes Maul! Der ist tot, der umschlingt nichts mehr.“ Mhorag war eine Legende, ebenso wie Nessi. Trotzdem jagte ihm die Gänsehaut seines Lebens über den Rücken. Schuppen. Verdammt noch eins. Das Vieh hatte tatsächlich Schuppen. Je näher sie kamen, desto deutlicher sah er sie. Dicht an dicht, große auf dem Rücken und kleinere auf den Armen.
„Stinkt’s schon?“ Adam reckte den Hals. Der hatte Nerven! Kyle schnupperte, aber es war nichts Ungewöhnliches zu riechen. Er suchte Halt an dem Felsen und zog das Boot näher heran. „Ist mir egal, ob’s stinkt oder nicht. Ich steig aus. Ich will wissen, was das ist.“ Das eisige Wasser nahm ihm den Atem, als er bis zur Hüfte darin eintauchte und um den Felsen herum watete. Das konnte es nicht geben, der Körper sah aus wie eine Mischung aus Fisch und Mensch. Der Schädel war kahl und von hornigen Schuppen überzogen. Kyle tippte vorsichtig mit dem Finger daran, aber nichts geschah, außer dass ihm vor Herzrasen schwindelig wurde. Aus der Schläfe rann Blut und zog sich auf dem nassen Gesicht zu dünnen Schlieren aus. Die Nase war abgeflacht, die Lippen voll und über die Wangenknochen und das Kinn zogen sich winzige Schuppen, ebenso auf dem Nasenrücken. Das Vieh war nicht mal hässlich, nur dunkelgrün. Eigentlich sogar ein sehr schönes Grün. Es gab Autos in der Farbe.
„Komm aus dem Boot und hilf mir, Adam. Das blutet, das ist noch nicht lange tot.“ Er tastete sicherheitshalber nach dem Puls am Hals, aber durch die dicke, ledrige Haut fühlte er nichts. „Wo bleibst du?“
Bleich brabbelte Adam vor sich hin, schnappte sich ein Paddel und kletterte aus dem Boot. Er stakste durch das Wasser und stieß den Körper grob damit in die Seite, aber nichts geschah. Idiot! Kyle nahm ihm das Paddel aus der Hand. „Jetzt mach es nicht noch mehr kaputt.“
„Kaputter als tot geht nicht.“ Adam half ihm trotzdem, das Ding auf die Seite zu drehen. Gelbgrüne Augen. Die gehörten nie und nimmer zu einem Menschen.
Adam keuchte auf, taumelte zurück und bekreuzigte sich. „Ein Wasserdämon. Ich habe es gewusst, die Sagen haben recht. Das da ist Mhorag.“
„Es war Mhorag.“ In einer der großen Brustplatten war ein daumendickes Einschussloch. „Das Vieh ist gekillt worden, sauber von vorne erschossen.“ Wer wollte es dem Schützen übel nehmen? Bei dem Vieh hätte jeder abgedrückt.
„Was machen wir jetzt? Gehen wir zur Polizei?“ Adam sah Kyle unglücklich an. „Ich war lange genug im Knast, um einen Bogen um alles zu machen, was ne Uniform trägt. Nachher glauben die, wir hätten das hier auf dem Gewissen.“
„Du willst ihn irgendwo verscharren und vergessen?“
Adam zuckte die Schultern. „So was bringt nur Unruhe hierher. Mit dem hier locken wir Fremde wie die Fliegen an. Wissenschaftler, Behörden, Typen mit dunklen Anzügen, komischen Ausweisen, die zu viele Fragen stellen. Ich will keine Fremden. Ich will überhaupt keinen, den ich nicht kenne.“
Dann blieb nur eins. „Benzin?“
Adam kratzte sich am schuppenflechtigen Bart, nahm noch einen Schluck aus seiner Notfallflasche und nickte endlich. „Benzin.“
„Und wenn es bis nach Morar rüber qualmt?“
„Ist egal, wir sagen, wir hätten einen morschen Kahn verbrannt.“
In der Brusttasche befand sich Kyles Handy. Hoffentlich war es nicht nass geworden, das Ding hatte ein Vermögen gekostet. „Nur für uns, zur Erinnerung. Sonst wachen wir eines Tages auf und denken, wir hätten uns das hier nur eingebildet.“
„Was willst du mit dem Ding?“
„Ein Foto schießen.“
„Mit einem Handy?“
Kyle musste lachen, als er Adams neidvollen Blick sah. „Das ist das Neueste vom Neuen, Adam.“ Leider hatte es keinen Blitz, hoffentlich genügte das diesige Tageslicht. Kyle ging einen Schritt zurück, um den ganzen Körper aufs Bild zu bekommen. Wahnsinn. Das hier würde ihm niemand glauben.
*
Das aufleuchtende Display des Handys war die einzige Lichtquelle im Raum. Raven rief an, mitten in der Nacht. Samuel hatte keine Lust, das Gespräch anzunehmen. Raven würde ihm Vorhaltungen machen, dass er nach Mhorags Manor gefahren war. Sein Bruder kam niemals heim. Er verabscheute den See mit derselben Intensität, mit der er ihren Stiefvater hasste. Samuel streckte sich auf dem Bett aus und fühlte über seine linke Körperhälfte, bis der Schauer, den diese Berührung auslöste, bis in sein Inneres drang. Was immer Raven von ihm wollte, er würde ihn nicht davon abhalten, durch den See zu tauchen, um nach einer Antwort auf ihre Herkunft zu suchen. Sie wartete in den Tiefen des Loch Morar und brauchte nur gefunden werden. Bis jetzt hatte er vergeblich nach ihr gesucht.
Auf dem weißen Laken stachen seine dunklen Schuppen im Mondlicht ab. Samuel knöpfte sein Hemd zu. Heute Nacht konnte er seinen eigenen Anblick nicht ertragen. Vom linken Fuß bis zu den Fingerspitzen der linken Hand lagerten sich dicht an dicht graugrüne Schuppen, durchzogen von tiefschwarzen Maserungen. Eine Laune der Natur war gnädig gewesen und hatte sein Gesicht und seine rechte Körperhälfte verschont. Unterhalb des Schlüsselbeines dünnten die Verhornungen aus und nur dunkel verfärbte Haut zog sich bis hoch zum Kinn. Cooles Tattoo, hatte Tom gesagt und war zärtlich mit dem Finger darübergestrichen. Tom war fast noch ein Kind. Was wusste er schon? Das Display leuchtete wieder. Kannst du mich nicht in Ruhe lassen? Samuel warf es neben sich. Es hörte nicht auf, ihn zu nerven. Raven ließ ihn nie in Ruhe. Mit einem Seufzen ging er ran. „Was ist?“
„Ich wusste, du bist noch wach.“ Der Singsang seines Bruders verlockte ihn, sich zu entspannen. Ein Fehler. Nur weil Raven säuselte, hieß das nicht, dass er harmlos war.
„Ich brauche einen Beichtvater. Ich habe Darren gebissen. Er war überarbeitet und wollte einen Rausch, aber als ich sein Blut gekostet habe, hat es mich gepackt.“ Es war typisch für Raven, von Katastrophen zu flüstern, statt zu schreien. „Er hat eine ganze Menge meines Giftes abbekommen. Ich befürchte, in den nächsten Tagen zersetzt sich sein Körper.“
„Lebt er noch?“ Samuel schlug mit der Faust auf die Matratze und bildete sich ein, es wäre Ravens Kinn.
„Eben ist er aufgewacht. Er redet wirr und hat Schmerzen. Ich wette, morgen hat er die ersten Ausfallerscheinungen.“
Verdammt noch mal, in dieser Gelassenheit über den bevorstehenden Tod eines Freundes zu reden war widerwärtig. „Du hast versprochen, dich zusammenzureißen. Wenn du dich ausleben willst, nimm mich. Wie oft soll ich dir das noch sagen?“
„Du warst nicht da, Bruder, und du weißt, wie schwach mein Wille ist.“ Die Sehnsucht, seine Giftzähne in fremdes Fleisch zu schlagen, schwang in jedem von Ravens Worten. „Und Darren hat darum gebettelt, er wollte den Rausch und den hat er bekommen.“
„Wie lange wird er durchhalten?“ Es hatte keinen Zweck, zu trauern. Darren war ein Freund, aber was geschehen war, war geschehen und es war nur eine Frage der Zeit gewesen, dass er der Sucht nach der berauschenden Wirkung von Ravens Gift erlag.
„Wenn er mit Schmerzmitteln nicht geizt, könnte er sich noch eine Woche auf den Beinen halten, aber hübscher wird er in dieser Zeit nicht. Die ersten Hämatome bilden sich jetzt schon.“
Draußen zog ein Wolkenfetzen über den Mond. Samuel konzentrierte sich auf den Anblick, um seine Wut in den Griff zu bekommen. Vielleicht war es auch nur Enttäuschung, oder beides zusammen.
„Samuel? Bist du noch dran?“
„In Augenblicken wie diesen würde ich dich gerne hassen, Raven.“
„Ich weiß. Komm nach London. Du hast in Morar nichts zu suchen.“
Oh doch. Das hatte er. Seine und Ravens Wurzeln steckten im Schlamm dieses Sees. „Nur heute Nacht noch. Morgen fahre ich ab.“
Raven zischte. Es passte ihm nicht. „Ist David da?“
Samuel riss sich von dem Anblick des Sees los, der ihn mit einer Intensität in seine Kühle lockte, die Raven niemals verstehen würde. „Nein. Er ist auf einer Geschäftsreise. Sonst wäre ich nicht hier.“
„Gut. Das beruhigt mich. Sag Mum eine schönen Gruß von mir und sie soll David mit einer von Finleys rostigen Äxten erschlagen. Ian wird nicht heulen, der Kleine hat ein Recht darauf, die Wahrheit über seinen Vater zu erfahren und er ist längst alt genug dafür.“
Ihr kleiner Bruder würde verzweifeln. Er liebte seinen Vater mehr als alles andere auf der Welt, und es gab Wahrheiten, für die er nie alt genug sein würde. Raven wusste das.
„Du sagst Ian kein Wort. Du hast es mir geschworen.“
Raven schnaubte. „Und wenn David Ians Samthaut plötzlich deinen Schuppen vorzieht?“
Das durfte nie geschehen. Samuel schloss die Augen, aber die Erinnerungen fielen trotzdem über ihn her. Eines Nachts, vor zehn Jahren, hatte David auf dem Bootsteg gehockt, als er aus dem See auftauchte. David hatte sich an den Schuppen nicht gestört. Im Gegenteil, ihre eigenwillige Sensibilität hatte er während der Nacht erforscht und auf eine Weise genutzt, bei der Samuel fast den Verstand verloren hatte. Der Schmerz war unendlich gewesen, ebenso wie die Lust, die David geschürt und endlich dermaßen brachial gestillt hatte, dass Samuel zusammengebrochen war. Erst am nächsten Morgen war er in seinem Bett wieder zu sich gekommen. Das Spiel hatte David oft wiederholt. Dann war Samuel zusammen mit Raven nach London geflohen. Mia glaubte an einen Streit und akzeptierte, dass sich ihre ältesten Söhne mit ihrem Stiefvater überworfen hatten. Dabei ließ sie es bewenden.
Er beendete das Gespräch, warf sich eine Jacke über und schlich die breite Treppe hinunter. Erin und Finley würden schlafen, Mia in verworrenen Träumen teilnahmslos vor sich hin vegetieren. Die Eingangstür knarrte, als er sie hinter sich zuzog. Im Haus rührte sich nichts. Warum auch? Es gab nichts besonderes, außer, dass ein Monster versuchte, seinen Vater zu finden.
*
Arschkalt! Vivienne trat die Steine weg, um keine Abdrücke in den Hintern zu bekommen. Sie knautschte die Isomatte zusammen und setzte sich drauf. Was hatte sie nur geritten, sich bei einer Exkursion einzutragen, die von dem Idioten Dr. Hendrik Johannson geleitet wurde? Johannson war ein Spinner, wie alle Kryptozoologen, sie nahm sich da nicht aus, aber bei ihm war es besonders schlimm. Dass er seine Assistenten nicht zum schnelleren Arbeiten peitschte, war ein Wunder. Dieser Mann war besessen von etwas, das es mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit nicht gab. Jedenfalls nicht, wie er es wollte. Sie zerrte ihren Rucksack näher und baute Thermoskanne und Infrarotkamera vor sich auf. Wehe, sie schoss heute Nacht nicht perfekte Fotos von irgendetwas, das spektakulärer als ein Biber war. Das wird spannend, hatte Johannson behauptet und ihr die Nachtsichtausrüstung ins Auto geladen. Blödsinn! Kalt und klamm war es. Sie konnte ihre Füße nicht mehr spüren, und der alte Drecksack saß im warmen Stübchen eines kuscheligen Hotels und gab vor, Bildmaterial auszuwerten, das aus der Steinzeit der Technik kam. Sie schob ihre Brille höher auf die Nase und verkniff sich ein Gähnen. Wäre Johannson dabei gewesen, hätte sie sich eher die Zunge abgebissen, als ihre Müdigkeit zuzugeben. Aber er war nicht hier und das war gut so. Trocken wie ein Furz war der Kerl, außer seiner Begeisterung für Seeungeheuer konnte ihn nichts aus der Reserve locken. Seeungeheuer? Pah! Wenn es das mal wäre. Was hatte sie sich die Zunge fransig geredet, um ihm in den Schädel zu hämmern, dass sie es bei dieser Spezies mit einem Plesiosaurier zu tun haben mussten. Das vermutete jeder, der nicht völlig den Geist aufgegeben hatte. Nessi, Mhorag, das waren Überbleibsel aus prähistorischen Zeiten. Dr. Johannson hatte wirr gelacht und ihr ein mieses Foto gezeigt, auf dem ein Mann in einem ausgefransten Taucheranzug herumlag. Was anderes konnte das unmöglich sein. Mhorag hätte nichts mit einem Dinosaurier gemeinsam. Mhorag sei weder übermäßig groß, noch langhalsig, aber zweifellos ein Wasserwesen. Woher wollte der alte Knilch das wissen? Erst 1971 war Mhorag zum letzten Mal gesehen und fotografiert worden, wenn das Foto auch scheiße war, es zeigte Höcker, einen langen, schmalen Kopf und einen langen Hals. Basta! Vielleicht sei Mhorag menschlicher als sie alle, hatte Johannson mit geheimnisvollem Lächeln gemeint. Seeschlangen waren nicht menschlich. Dinosaurier auch nicht, aber Johannson am allerwenigsten. Er sah aus wie ein Golem, dem der Lehm faulig geworden war.
Vivienne setzte sich in eine bequemere Lage und überschaute mit dem Nachtsichtgerät das Westufer. Durch den Restlichtverstärker wurde alles in schauriges Grün getaucht. Der See lag ruhig vor ihr. Hin und wieder huschte etwas Kleines, Flatterndes knapp über die Wasseroberfläche. Ein Fuchs schlich durchs Gras, tappte ans sandige Ufer. Sie wollte keine Füchse. Sie wollte Ungeheuer, vorzugsweise mit langen Hälsen und Höckern, weil sie sich dann besser in eine prähistorische Spezies einordnen ließen und sich Johannson endlich geschlagen geben musste. Plötzlich hob der Fuchs den Kopf, witterte und huschte davon. Da kam jemand den gewundenen Weg von diesem alten Gemäuer herunterspaziert. Mitten in der Nacht. Der Mann sah sich um und wandte sein Gesicht dem Mond zu. Vivienne zoomte ran. Auch wenn alles an ihm dank des Nachtsichtgerätes grün war, er war ein hübsches Exemplar seiner Art. Kannst du nicht schlafen? Ich auch nicht. Aber ich habe einen Grund, und der ist alt und schimpft sich Wissenschaftler. Offenbar hatte der Mann auch einen Grund, dem Bett fern zu bleiben. Er zog sich aus. Vivienne zoomte noch einmal.
„Dreh dich zu mir, mein Hübscher.“ Sie biss sich auf die Lippe. So ein geiler Arsch! Wetten, der sah von vorn noch besser aus? Sah er. Vivienne fiel das Fernglas aus der Hand. Mist, verdammter! Er sah sich um, sie erstarrte zu Etwas, das schwieg und nicht atmete. War er ein Nachtschwimmer? Oder ein Konkurrent? Aber er hatte keine Tauchausrüstung dabei, als er endlich ins Wasser watete. Was lag da für ein dunkler Schatten auf seiner linken Seite? Da war kein Baum, kein Fels, nichts, was den Schatten im Mondlicht hätte werfen können. Lautlos glitt er ins Wasser und tauchte sofort unter. Vivienne sah auf die Uhr. Eine Minute, zwei, fünf. Nirgends tauchte sein Kopf wieder auf. Ein Selbstmörder mit massiver Disziplin? Wo blieb der Kerl? Sie hatte keine Lust, Zeugin eines persönlichen Dramas zu werden. In ihrem eigenen Leben gab es genug. Der Mann blieb weg. Das konnte nicht sein. Sie packte die Infrarotkamera, schlich sich näher ans Ufer und stoppte die Zeit. Acht Minuten. Kein Mensch konnte so lange ohne Luft unter Wasser bleiben. Zehn Minuten. Würde es noch Sinn machen, wenn sie Hilfe holte? Sie selbst würde unter keinen Umständen in dieser Kälte nach einem Fremden tauchen. Fünfzehn Minuten. Der Kerl war ersoffen, wie eine Ratte. Krasse Art, sich aus dem Leben zu stehlen, untertauchen und nicht mehr nach oben zu schwimmen. Sie zitterte vor Kälte und Anspannung, aber fortgehen konnte sie nicht. Ab wann trieb eine Wasserleiche an die Oberfläche? Würde die Restluft in den abgestorbenen Lungen dafür ausreichen oder brauchte es dazu die Fäulnisgase, die sich erst nach Stunden entwickeln würden? Zischend öffnete sie eine Redbull Dose. Sie würde ausharren, und wenn es morgen würde.
Da, mitten auf dem See bildeten sich Kreise. Ein Schopf sah kurz aus dem Wasser, um sofort wieder abzutauchen. Eine Stunde dreißig. Das konnte unmöglich derselbe Mann sein. Vivienne duckte sich tiefer hinter den Busch und schaltete die Infrarotvideokamera an.
*
Durch die Wasseroberfläche schimmerte Mondlicht. Samuel tauchte tiefer, strich über den Morast des Seegrundes und wirbelte schwarze Schlieren auf, die er sehen und schmecken konnte. Die sanfte Strömung streichelte seinen Körper und er ließ sich treiben. Hier unten war er geborgen. Am liebsten würde er nie wieder auftauchen, aber die Luft wurde langsam knapp und mittlerweile war es so dunkel, dass selbst er kaum noch etwas erkennen konnte. Hättest du nicht eine Flaschenpost deponieren können? Hallo Sohn. Ich bin dein Vater und aufgrund diverser Umstände leider nicht in der Lage, mich dir persönlich vorzustellen. Er wusste nicht einmal, ob sein Vater sprechen konnte. Vom Schreiben ganz abgesehen. Mias Berichte waren wirr, wie alles, was ihren Mund verließ. Samuel schraubte sich höher. Außerhalb des Sees warteten andere Probleme auf ihn. Darrens bevorstehender Tod war nur eines davon. Toms naives Buhlen ein anderes. Er wartete in London auf ihn. Wunderte sich, dass der Mann, den er begehrte, ständig vor ihm auswich und mitten im Sommer hochgeschlossene Kleidung trug.
Er strich dicht über einem Felsen entlang. Der raue Stein schrammte über seine linke Körperhälfte, gerade fest genug, um zu stimulieren, und zart genug, um nicht zu schmerzen. Und wenn er Tom die Wahrheit über sich gestand? Vielleicht liebte er ihn dann trotzdem noch. Tom mit dem weichen Haar, dem glühenden Blick und dem Verlangen, Samuel viel näher zu kommen, als er es jemals zulassen konnte. Sein stummes Lachen klang fremd in seinem Kopf. In dieser Nacht würde er eine Entscheidung treffen. Er hatte Tom lange genug hingehalten und würde morgen nach London fahren, um Klarheit in eine unmögliche Verbindung zu bringen, indem er sie löste.
Er tauchte aus dem Wasser auf und schwamm zum Ufer. Das fahle Licht glitt über den Bootsteg, und er streckte sich auf den morschen Planken aus. Der Nachtwind kühlte seinen nassen Körper, der immer schwerer wurde, bis er sich nicht mehr aufraffen konnte, hoch zum Haus zu gehen. Das lange Tauchen kostete Kraft, auch wenn er es genoss. Das für menschliche Augen kaum wahrnehmbare Licht verwandelte die Unterwasserwelt in einen verwunschenen Ort der Konturen und Silhouetten. Ein Paradies, das nur für ihn geschaffen war. Er hätte es gern geteilt, aber selbst Raven hielt es nicht lange genug im Wasser aus. Er besaß die Schuppen und die aufgefächerten Lungen, Raven die Giftzähne und den hypnotischen Blick einer Schlange. Sie hatten sich die Monstrosität ihres Vaters brüderlich geteilt.
Schritte. Samuel setzte sich auf. Wer kam nachts in diese winzige Bucht? Das Geräusch knirschender Steine wurde lauter. Eine Gestalt näherte sich. Der Kragen der Barbourjacke war hochgestellt und über der Schulter lag das Jagdgewehr. David. Was zum Teufel machte er hier? Sein Magen krampfte sich zusammen, er musste weg. Seine Jeans und sein Hemd lagen am Anfang des Stegs. Samuel sprang auf. Nackt durfte David ihn auf keinen Fall vorfinden. Die Schritte wurden lauter, aber nicht lauter als sein Herz, das wie wild gegen seine Rippen schlug. Er war kein Teenager mehr, aber David überragte ihn immer noch. Samuel wurde schlecht, seine Hände flatterten und schafften es erst nach Ewigkeiten, den Gürtel zu schließen.
„Lass das. Du wirst ihn doch wieder öffnen.“ Hohn und Gier. Beides schwang in der verhassten Stimme. David stand hinter ihm. Zu nah. „Du warst lange weg. Wir haben viel nachzuholen.“
Gleich würde er sich übergeben müssen. Samuel atmete zischend ein und drehte sich um. David sollte sehen, dass er kein Kind mehr war. „Warum bist du früher als geplant zurückgekommen? Ein Zusammentreffen mit dir hätte ich mir gern erspart.“ Er zwang Gleichgültigkeit in seinen Blick.
Sie wurde mit Davids Gier erwidert, der ihn in aller Ruhe betrachtete. „Wie ich sehe, haben sich deine Schuppen weiter verdunkelt. Sie stehen dir sehr gut, auch die silbernen Strähnen in deinem schwarzen Haar. Hast du sie mir zu verdanken?“ Ein Hauch Bedauern klang mit, doch schon verzog sich der schmale Mund zu einem Grinsen. „Ich kann einen Teil des Druckes, den du zweifellos empfindest, von dir nehmen. Jetzt gleich, wenn du willst.“
Bis zum Ufer war es nur ein Sprung. Sollte David ihn anrühren, würde er ihn in die Tiefe ziehen und ertränken. David musste seine Gedanken erraten haben, denn er nahm die Büchse von der Schulter und klemmte sie lässig unter den Arm. Als das metallische Ratschen erklang, hielt Samuel den Atem an.
„Du willst einem Sohn den Vater nehmen?“ Mit gespieltem Entsetzen schüttelte David den Kopf. „Du weißt, wie sehr mich Ian liebt. Würdest du ihn über unser kleines Geheimnis aufklären, wem würde er dann glauben? Ist es nicht naheliegender, dass er dich für deine perversen Verleumdungen verachtet?“
Ian würde ihn hassen bis in die Ewigkeit, würde keine einzige Wahrheit über David akzeptieren. David leckte über seine Unterlippe, während sein Blick auf Samuels Brust hängen blieb.
„Los, geh zu dem Schuppen.“ Er nickte zu dem Verschlag, in dem Finley Ersatzteile für die Motorboote aufbewahrte. „Ich will, dass du dich abstützen kannst.“
„Denkst du nicht, die Zeiten sind vorbei?“ Lustig, mit staubtrockener Kehle reden zu müssen, aber Samuel räusperte sich nicht. Das hätte zu viel seiner Angst verraten.
David wedelte ihn mit dem Gewehrlauf rückwärts zum Bretterverschlag. Als er mit dem Rücken an die Holzbohlen stieß, bohrte sich gleichzeitig der Lauf in seinen Bauch. Nachlässig streifte er Samuels Hemd hoch und fuhr über die linke Leiste. Der Schauer ging durch und durch und David lächelte kalt.
„Wie zu erwarten, quillst du über vor Lust und hast kein Ventil. Es ist wie damals, weißt du noch, wie du dich vor Ekstase gewunden hast? Oder war es der Schmerz, der dich flehen ließ?“ Er bohrte seine Fingernägel in die weiche Stelle unter seinem Brustbein, wo der Hornpanzer in Haut überging. Samuel biss sich auf die Zunge, bis er Blut schmeckte. Es würde wieder geschehen. Das Entsetzliche war, dass etwas in ihm genau das wollte. Die Nägel kratzten an Samuel hinab, und er unterdrückte ein Keuchen, als der Schmerz über seine Haut flirrte.
Davids Augen wurden weit. „Ich kann dir nicht sagen, wie sehr ich es genieße, die Angst in deinen Augen zu sehen.“
„Ich könnte dich töten.“
Etwas an seiner Stimme ließ Davids Blick noch weiter werden.
„Vielleicht ist mir egal, was Ian von mir denkt? “
David schüttelte entschieden den Kopf. „Ist es nicht. Du liebst deinen Bruder und seine Verachtung würdest du nicht aushalten. Ich bin vor dir sicher, Samuel. Nur du nicht vor mir.“ Mit einer langsamen Bewegung stellte er die Büchse aufrecht an die Bretterwand, gerade weit genug weg, dass Samuel sie nicht erreichen konnte. „Ich weiß, was du willst, mein Sohn.“
Samuel schlug Davids Hand weg. „Einen Dreck weißt du von mir.“
Sofort packte ihn David hart am Kinn. „Sieh mich mit diesen Honig-Augen nicht so an. Wir beide wissen, dass du jetzt schon bereust, meine Hand weggestoßen zu haben.“
Samuel schloss die Augen. David durfte die aufflammende Erregung nicht sehen, die sich unter den Hass mischte. Sie würde siegen. Verdammt, sie würde wieder siegen. Sie sammelte sich unter der Schuppenhaut, wanderte die sensible Naht zwischen seinen Körperhälften entlang und wartete auf den Schmerz. Er würde in Lust enden. Gleißender, unerträglicher Lust. Davids Atem strich über sein Gesicht, seine Zunge leckte über Samuels Kinn, schob sich grob zwischen seine Lippen. Der Kuss war tief. Ließ ihn kaum noch atmen. Er hätte zubeißen können, stattdessen ließ er zu, dass sich David an ihn drängte und fest über Samuels Brustplatten strich. Zehn Jahre Sicherheit brachen zusammen und rissen zehn Jahre Mäßigung mit in den Abgrund. David biss ihn in die Lippe, leckte über die Wunde, biss erneut.
„Los, Samuel. Worauf wartest du?“ Mit der freien Hand fuhr ihm David den Rücken hinab und krallte sich in menschliches Fleisch. „Du willst, was ich dir gebe. Nimm es endlich.“
Dem Schmerz konnte er nicht mehr ausweichen. Der Lust auch nicht.
Samuel erwiderte den Kuss mit einer Heftigkeit, die David aufstöhnen ließ. „So ist es gut“, keuchte er, bevor er sich noch tiefer in ihn verbiss. „Und jetzt bitte mich.“
Niemals.
„Sag es.“ Davids Hand legte sich um Samuels Kehle und drückte zu. „Sag: bitte David.“ Mit der freien Hand griff er Samuel zwischen die Beine. Was er dort fühlte, verschleierte seinen Blick. „Du willst es so dringend, Samuel. Hör auf, dich selbst zu belügen.“
Samuel wollte es, und er hasste es. Trotzdem stellte er sich breitbeiniger hin und David verstand die Geste sofort. Ausgiebig erforschte er Samuels Erregung, gierig und grob, während er mit breiter Zunge quer über Samuels Hals leckte. „Ich warte, Sohn.“
Sein Atem war kalt auf der nassen Haut. Samuel legte den Kopf in den Nacken, ertrug Davids Bisse an seinem Kehlkopf. Als er viel zu fest mit den Fingernägeln die Naht zwischen den Hornplatten entlang fuhr, keuchte Samuel auf. Es war vorbei. Er hatte verloren. „Bitte.“
David hielt inne, lächelte ihn mit soviel Lüsternheit im Blick an, dass sie Samuel auf seiner Zunge schmecken konnte.
„Dreh dich um, Samuel. Du kennst das Spiel, das wir spielen werden.“ Wie zärtlich Davids Raunen klang, doch es war nur Tarnung. Samuel gehorchte und David streifte ihm das Hemd von den Schultern.
„Ich bin nicht der Böse in diesem Spiel.“ Die Sanftheit in Davids Stimme ließ Samuel erschaudern. „Ich bin der, der dir Erleichterung verschafft.“ Mit festem Strich führte er seine Hand über Samuels linkes Schulterblatt den Rücken hinunter bis zu den Lendenwirbeln. Samuel stöhnte auf, als sich wilde Lust in seine Eingeweide krallte. Er durfte es nicht zulassen, aber alles in ihm wollte es. Die Ekstase, den Schmerz und die abgrundtiefe Scham, die folgen würde. Er lehnte sich zurück, um David an sich zu fühlen. Er würde seine Grausamkeiten nicht lange ertragen können, aber noch massierte er kraftvoll über Samuel Brust und Bauch und tat ihm damit unendlich gut. Beinahe zärtlich küsste sein Stiefvater über seinen Hals, wo die Schuppen in Haut übergingen. Samuel legte den Kopf zur Seite und versuchte, sich zu entspannen.
„Sag mir, wie viel zu willst.“ David umfasste seine Hüfte, zog ihn dicht an sich und öffnete Samuels Gürtel, dann die Knöpfe der Jeans. Mit jedem Knopf atmete er lauter. Samuel tastete nach Davids Hand und führte sie dorthin, wo seine Erregung zu schmerzen begann. Er musste wahnsinnig sein, das hier zuzulassen. David stöhnte ekstatisch, als seine Finger über die viel flacheren und glatteren Schuppen glitten. Der Impuls seiner Berührungen schoss Samuel bis ins Rückenmark.
„Ich würde alles dafür geben, um zu wissen, wie sich das hier für dich anfühlt.“ David kratzte mit den Nägeln über den Schaft. Samuel schrie auf.
„Na, na, na. Ganz ruhig. Das hier ist erst der Anfang.“ Mit der freien Hand streifte David die Jeans weiter hinunter. Samuel brach der Schweiß aus. David rieb ihn so grob, dass er sich an der Bretterwand abstützen musste. Splitter bohrten sich in seine Handflächen, aber das war nichts im Vergleich zu dem, was David mit ihm machte.
„Darf ich dein Keuchen als ‘Gib mir alles` werten?“ David drängte sich an ihn. Noch fühlte Samuel den groben Stoff an seiner nackten Haut. Das würde sich ändern.
„Du musst nur nicken, wenn du nicht sprechen kannst.“
Samuel nickte. Lass mich diese Nacht überstehen.
Gleichmäßig strich David immer wieder über seine linke Brust. Die Nerven unter den Schuppen begannen zu vibrieren, nicht mehr lang und sie würden brennen vor Schmerz.
Mit ungewohnter Sanftheit küsste David über Samuels Nacken. „Lass die Zügel fallen. Es wird dir gut tun, und der Schmerz wird erträglicher.“
„Sie werden mich hören, David. Erin, Mia und Finley.“ Vor Lust konnte er kaum die Worte formulieren. Der Bogen war überspannt. Er konnte nicht mehr zurück, und David wusste das.
„Sie schlafen tief. Nur ich werde deinen Lustschrei hören, und ich werde ihn genießen, glaube mir.“
Samuel schnappte nach Luft, als sich David zu fest an den Rand des Schuppenpanzers krallte. Dafür erstarrte die Hand zwischen seinen Beinen.
„Ich spüre seine Härte und sein Pulsieren trotz der Schuppen.“ Er biss ihn ins Genick und knurrte dabei wie ein Tier. „Vielleicht sollte ich mich zum krönenden Abschluss unseres Rendezvous von dir nehmen lassen. Ich bin sicher, es würde mir sehr gefallen.“
Die Vorstellung war krank, aber sie überschwemmte Samuel mit einer wilden Erregung. Warum rieb ihn David nicht weiter? Er presste sich gegen den Druck seiner Hand. „David, bitte.“
Sein Stiefvater lachte leise, aber auch er zitterte vor Erregung. Samuel fasste über seine Schulter, umschlang Davids Hals und hielt sich an ihm so fest, wie er konnte. Er wusste, was jetzt kam. David würde ihn schreien lassen. Er hatte es schon oft getan und Samuel über die Grenzen des Erträglichen hinausgeführt.
David keuchte auf, schmiegte sich mit der Wange an Samuels Oberarm und setzte die Fingernägel unterhalb des Schlüsselbeins an. Samuel krallte sich im Kragen der Jacke fest. Ohne Halt würde er die nächsten Minuten nicht aufrecht überstehen.
„Bist du bereit, Samuel?“
Er war bereit. Bereit für die Lust, bereit für den Schmerz und bereit für den Dank, den David danach einfordern würde.
David kratzte langsam über den dünnen Grenzbereich, aus dem die Schuppen aus der Haut hervorgingen. Samuel bäumte sich auf, es half nichts. Der Schmerz fraß sich rasend schnell durch seinen Körper. David setzte wieder an, Samuel schrie. Heiße Wellen überzogen seinen Körper, er bebte, zitterte, wartete auf die Lust, die kommen musste, um ihn durchhalten zu lassen. Als sie ihn endlich ansprang, knickten seine Beine ein. David riss ihn wieder hoch, rieb ihn mit der einen Hand schneller, quälte ihn mit der anderen heftiger. Samuels Nerven standen in Flammen. Er hielt es nicht mehr aus.
Sein Schrei brach sich an den Felswänden. David ließ nicht nach. Sein grausames Lachen streifte Samuels wunden Geist. Er griff tief in empfindliches Gewebe, kratzte über die Schuppen, aber seine Hand zwischen Samuels Beinen erstarrte von neuem.
„David!“ Ohne Ekstase würde ihm der Schmerz den Verstand nehmen. Wieder das Lachen, das kein Erbarmen kannte.
Samuel biss sich auf die Lippen, schmeckte seine Tränen und sein Blut. Kein klarer Gedanke war mehr möglich. Nur noch Schmerz und Lust, die einen Reigen tanzten, der ihn zerreißen würde. Er wollte David anflehen, aber er konnte kein Wort formulieren. Erst als er das Wimmern nicht mehr unterdrücken konnte, hatte sein Stiefvater Erbarmen.
Zu schnell, zu fest. David rieb ihn, wie im Wahnsinn, brüllte heiser, als Samuel längst keinen Laut mehr ausstoßen konnte und er sich in seiner Hand ergoss. Zitternd sank er an David hinab. Er presste die Hände auf den Bauch und fühlte Blut. Sein Stiefvater kniete sich vor ihn, zog ihm mit einem heftigen Ruck die Jeans aus und spreizte seine Beine.
„Es ist genug, David. Lass mich in Ruhe.“ Sein Mund war staubtrocken und ihm war schwindelig vor Schmerz und überstandener Lust.
„Es ist dann genug, wenn dein letzter Tropfen mir gehört.“
Als er Davids Lippen an sich fühlte, schloss er die Augen. Er biss sich in den Handballen, um nicht wieder zu schreien. Eines Tages würde er diesen Mann töten und mit Ians Verachtung leben.
*
Was noch vor Kurzem ihr Magen gewesen war, war jetzt ein Stein. Vivienne traute sich nicht zu atmen oder auch nur ihre verkrampfte Lage zu ändern. Was war das eben gewesen? Was hatte dieser Mann mit der Reiterjacke dem anderen angetan? Zwischendurch hatte sie sich die Ohren zugehalten, aber den Blick hatte sie nicht von dem Schauspiel abwenden können. Dann war der Kerl plötzlich aufgestanden und gegangen. Hatte den anderen einfach am Ufer liegend zurückgelassen. Fast wäre sie losgelaufen, um ihm zu helfen, aber da hatte er sich aufgerappelt. Jetzt hockte er im Sand, den Kopf auf die Knie gelegt und die Arme fest um die Beine geschlungen. Er rührte sich nicht. Das war kein Wunder, nachdem, was er eben durchgemacht hatte.
Sie musste das Bildmaterial auswerten. Im Mondschein hatte seine Haut an einigen Stellen geschimmert, das konnte keine Restnässe vom See gewesen sein. Der Arm, das Bein, selbst die Hand hatte im Mondlicht seltsam ausgesehen. Hendrik musste sich das ansehen. So schnell wie möglich. Im Osten kroch fahlgraues Licht über die Baumkronen. Endlich sah der Mann auf, zog sich schwerfällig an und ging den Weg zurück zum Haus. Viviennes Hände flatterten so sehr, dass sie die Kamera umstieß, statt sie auszuschalten. Auf dem Weg zum Auto betete sie, dass die Aufnahmen scharf genug waren, um ihren Verdacht zu bestätigen. Er war eine Chimäre. Ein Mischwesen mit Schuppen am Loch Morar. Zu abgefahren, um ein Zufall zu sein. Ihre Zähne schlugen aufeinander. Sie musste zu Hendrik.
*
Wo kam der süßliche Geruch her? Laurens hob die Bettdecke.
Die Mischung aus Patchouli und Maiglöckchen war widerlich und sie entströmte Julias verschwitztem Körper. Er hatte es gestern Nacht schon bemerkt, je heftiger er sie geliebt hatte, desto intensiver hatte es gestunken. Er hätte nicht mit ihr schlafen sollen. Von Anfang an war der Wurm drin gewesen. Ihre Haut war zart, ihre Haare blond, ihre Augen blau und ihre Lippen voll. Aber zu weich. Vorsichtig tippte er mit dem Finger dagegen. Er versank eindeutig zu schnell und zu tief in dem rosa Fleisch. Er strich sich die Haare nach hinten, sie waren steif vom getrockneten Schweiß. Wieder hatte es ewig gedauert, bis er endlich gekommen war. Und zuletzt hatte es nur geklappt, weil er Fantasien beschworen hatte, vor denen er sich jetzt fürchtete. Eine davon war ein schuppengepanzertes Wesen, das seine lange Zunge in seinen Mund steckte, während es ihn mit seinem breiten Schwanz umschlang. Schließlich hatte es ihn unter sich begraben, die raue Haut rieb dabei an seiner Brust. Plötzlich war das Blut in seine Lenden geschossen. Julia hatte erleichtert geseufzt. Hätte sie geahnt, dass er auf erotische Fantasien mit Ungeheuern stand, wäre sie ihm aus dem Bett gesprungen. Was auch kein Übel gewesen wäre.
Diese Mail von seinem Vater war daran schuld. Und dieses verwaschene Bild von irgendwas, das er solange animiert hatte, bis aus dem Etwas, das schlaff über einem Felsen lag, ein schuppenüberzogenes Wesen geworden war. Er sei Mhorag auf der Spur. Das war sein Vater schon seit Jahren und zwar völlig umsonst. Mhorag, Nessi, Ogopogo und wie die Viecher alle hießen, denen sein Vater nachjagte. Dr. Hendrik Johannson, Ziel allen Spotts seitens seiner Kollegen. Laurens schüttelte müde die Gedanken an seinen Erzeuger aus seinem Kopf. Hendrik war nicht zu helfen, besser er befasste sich nicht mit ihm. Aber die Computeranimation war trotzdem bildschön. Dieses schmale Gesicht mit dem breiten Mund und den Reptilienaugen faszinierte ihn. Gestern hatte es ihm als Vorlage für einen Echsenkrieger gedient, den er für Miyu gezeichnet hatte. Sie würde begeistert sein von dem neuen Helden ihres hoffentlich eines Tages erfolgreichen Computerspiels.
“Laurens?” Bevor er es verhindern konnte, stand Jarek schon im Zimmer. Dafür, dass sein Mitbewohner meistens bis mittags schlief, sah er außerordentlich frisch aus.
“Oh, Besuch?” Jarek grinste zum Bett. “Dann stammten die spitzen Schreie von Julia?” Er setzte sich neben ihn auf die Bettkante und strich behutsam über Julias Rücken. „Wart ihr betrunken?“
„Ein bisschen. Sie hatte Liebeskummer, und ich habe sie getröstet. Das ist daraus geworden.“
Julia hatte ständig Liebeskummer, aber diesmal war es mit dem Trösten definitiv zu weit gegangen. Plötzlich hatte sie ihn aufs Bett geschubst und ihr Top ausgezogen. Ratz fatz klemmte eine ihrer Brustwarzen zwischen seinen Lippen und vor Schreck hatte er zugebissen. Das war ihr erster Schrei gewesen.
„Du siehst nicht zufrieden aus. Hat sie nicht alles mit dir gemacht, was du gerne gehabt hättest?“
Laurens rollte die müden Augen. Jareks anzügliches Grinsen ging ihm auf den Geist. „Weder hat sie meinen Mund mit einer gespaltenen Zunge genommen, noch hat sie mich mit einem langen gezackten Schwanz gewürgt.“
Einem Psychiater gleich, schlug Jarek die Beine übereinander, faltete die Hände und sah ihn an. „Laurens, du Sau. Und mit so was wie dir teile ich meine Wohnung.“ In stummer Entrüstung schüttelte er den Kopf, dann hakten sich seine Mundwinkel wieder an seine Ohren. „Sag schon, auf was stehst du noch?“
„Nicht auf Patchouli.“ Eklig, er roch überall nach dem süßen Zeug. Seine Arme, seine Brust und von seinen Lenden stieg es auch auf. Selbst Lippenstiftreste dekorierten die Innenseite seiner Oberschenkel. Jarek zog die Decke weg und grinste, als er die roten Spuren sah. „Mann, dir ging`s doch gut. Es gibt keine bessere Stelle an dir für Julias hübschen Schmollmund.“
Auch da waren ihre Lippen zu zögerlich gewesen. Hätte sie ein bisschen mehr Initiative gezeigt, hätte er sich keine Horrorszenarien ausdenken müssen. Er fischte seine Boxer vom Boden und kämpfte sich durch das Chaos seiner nicht vorhandenen Ordnung zum Fenster durch. Frische Morgenluft drang ins Zimmer, sofern sie in der Sutton Row um sieben Uhr dreißig noch so genannt werden konnte. Was machte er nur falsch? Er war einundzwanzig und bis auf eine klägliche Ausnahme noch nie wirklich verliebt gewesen. Julia grunzte, drehte sich im Schlaf auf die andere Seite und sabberte auf sein Kopfkissen. Nein, sie würde diese Situation sicher nicht ändern. Liebe musste sich anders anfühlen. Er schlang die Arme um sich und drückte so fest zu, wie er konnte. Schon spürte er wieder den rauen Schuppenschwanz des Echsenkriegers um sich. Irrsinn, sich Visionen von diesem gefakten Foto hinzugeben. Was musste der Kerl auch wie hingegossen aussehen? Es war ein Kerl, mit Schuppen oder ohne. Das war auf dem Foto nicht zu übersehen. Selbst auf dem Originalbild war diese Tatsache erkennbar. Als er den Echsenkrieger gezeichnet hatte, war es ihm schwergefallen, ihn mit einem Lendenschurz auszustatten. Das ziehende Gefühl wurde stärker. Laurens schielte zu dem Original, das unschuldig auf seinem Schreibtisch lag. Das Ziehen breitete sich aus und sammelte sich an einer Stelle, die von seiner zu weiten Boxer nur notdürftig kaschiert wurde.
Vor seiner Nase erschien eine Kaffeetasse. „Na? Morgenlatte?“ Jarek schnalzte. „Kannst stolz darauf sein. So ein Gerät hat nicht jeder.“
Idiot! Laurens drehte sich von Jarek weg und schnappte ihm die Tasse aus der Hand. Der setzte sich auf den Schreibtisch, haarscharf neben die geklonten Echsenkrieger. „Jetzt sind erstmal Semesterferien und heute Abend werden die ausgiebig gefeiert. Wir trinken uns den Stress weg, mit Ian und Grace und meinetwegen auch mit diesem Upperclass-Nerd, der mit dir Monsterbildchen dealt.“
„Der Nerd ist meine einzige verlässliche Geldquelle.“ Von seinem Vater war nur sporadisch was zu holen. Hendrik verpulverte Laurens Erbe mit seinen aberwitzigen Exkursionen.
Jarek verzog das Gesicht. „Trotzdem ist Tom ein Arsch. Seine Arroganz ist widerlich. Er wechselt nur deshalb ein Wort mit mir, weil er weiß, dass wir beide befreundet sind und er deine Kreativität missbrauchen muss. Kaum hört er mich sprechen, verdreht er die Augen.“
Laurens schlug ihm auf die Schulter. Jareks Englisch war tatsächlich erbärmlich, aber durch höhnisches Gerede würde es nicht besser werden. „Mir sagen auch alle, dass mein Akzent zu hart klingt. Mach dir nichts draus. Wir sind die armen Emigrantenschweine, die im Vereinigten Königreich Bildung abgreifen.“
Jareks Nase verschwand in seiner Tasse. Als sie wieder auftauchte, sah er schon zufriedener aus. „Falls Julia heute Abend mitkommt, könntet ihr an eurem beginnenden Glück anknüpfen. Die atmosphärische Düsternis des Jackes Inn inspiriert sie vielleicht zu gewagteren Dingen, als nur deinen prachtvollen Schwanz zu küssen.“ Selbstgefällig tätschelte er ihm den Kopf. „Du kriegst den Dreh noch raus, wie man sich gekonnt von den Weibern verwöhnen lässt. Ich bin dir gerne behilflich, wenn du Ratschläge brauchst.“
„Ich brauche deine Nachhilfe nicht!“ Warum pochte sein Herz plötzlich vor Wut? Er regte sich sonst auch nicht über Jareks blöde Sprüche auf.
„Brauchst du doch.“ Jarek fühlte zwischen Laurens Beine und weckte damit den Hund, der gerade wieder eingeschlafen war. „Mann, reagiert der sensibel. Dabei tatsche ich dich doch nur an.“
„Jarek!“ Himmel aber auch, die Berührungen durch den dünnen Stoff ließen ihn immer härter werden. Jarek pfiff lautlos durch die Zähne und nickte zu Julia. „Weck sie auf und steck den hier in sie rein. Sie wird begeistert sein.“
Laurens pflückte Jareks Finger von sich. “Ist es absolut notwendig, dass ich permanent meinen Schwanz in alles reinstecken und dabei auch noch tun muss, als ob es mir gefiele?“
Jarek nickte wie paralysiert. “Eigentlich schon. Vielleicht nicht in alles, aber in eine ganze Menge. Und nein, du sollst nicht nur so tun, als ob es dir Spaß machen würde. Es sollte dir wirklich gefallen. Sex ist was Gutes, Mann, und du bist bestens dafür ausgestattet.“ Er fischte ein Gummiband aus dem Stiftständer, strich Laurens Haare nach hinten und band sie zu einem Pferdeschwanz zusammen. „So sieht es cooler aus und dein markantes Kinn kommt besser zur Geltung.“
„Verarschst du mich jetzt?“
Mit einem offenherzigen Augenaufschlag nickte Jarek. „Ja. Aber stimmen tut es trotzdem. Du bist ein Traumboy, dir fehlt es nur an Feuer.“
Laurens wärmte sich die Finger an der heißen Tasse. Vor Leidenschaft innerlich zu brennen musste etwas Fantastisches sein. Vor Lust nicht mehr atmen zu können, die Erregung in einer Intensität zu empfinden, die an Schmerz grenzte, und sich vor jeder Steigerung dieses Gefühls ebenso zu fürchten wie es zu ersehnen. Das war er, der Jackpot. Er hatte ihn noch nicht gewonnen, und aus Julias schlaffen Händen würde er ihn garantiert nicht erhalten. Das winzige und hart erarbeitete Zucken und anschließende Entspannen heute Nacht war der Mühe kaum wert gewesen. Liebe musste sich anders anfühlen. Vollkommen anders.
January 6, 2014
Leseprobe zu Schlangenfluch 3 – Seans Seele
Zweige knackten. Rechts und links flatterten erschrockene Vögel aus den Büschen. Raven schloss die Augen und konzentrierte sich auf jedes Geräusch. Ein ungleichmäßiges, angestrengtes Atmen wurde lauter, kam näher.
Das Mädchen war ihm demnach gefolgt. Es war ihre Entscheidung. Mit keinem Wort, mit keiner Geste hatte er sie dazu getrieben. Am Bootssteg, auf dem Weg zum Haus, selbst im Garten hatte sie auf ihn gelauert. Ihre Blicke verschlangen ihn und ihr Seufzen war unüberhörbar. Hielt sie ihn für einen Vampir? Träumte sie sich in ihrem Wahn in seinen Arm, um sich vollkommene Schönheit und ewige Jugend in den Hals beißen zu lassen? Das Gegenteil wäre der Fall.
Raven setzte sich an den Fuß der Mauer und sah in den Abendhimmel. Noch streiften ihn rotgoldene Sonnenstrahlen, doch bald würde sich die kalte Dunkelheit der Herbstnacht über den Resten der Kapelle ausbreiten. Und über den leblosen Körper einer jungen Frau.
Das Mädchen kannte sein Schicksal noch nicht. Leichtsinnig, seinem eigenen Tod nachzulaufen, statt panisch die Flucht zu ergreifen.
Die zögernden Schritte wurden lauter. Eine sommersprossige Hand schob die Zweige auseinander, die den schmalen Fußpfad beinahe unpassierbar machten. Raven drückte sich tiefer in den Schatten der Ruine.
Das Mädchen stammte aus Morar. Ein, zwei Gespräche hatte es ihm aufgezwungen und ihn dabei mit Fragen überschüttet. Sie hieße Nancy, wollte Journalistin werden und würde bald nach Glasgow ziehen, um zu studieren. Warum er stets eine Sonnenbrille trug, warum er während der Dämmerung das Haus verließ, ob es ihn störte, dass so viel Unheimliches über seine Familie erzählt würde.
Nein, das störte ihn nicht. Er war das Unheimliche dieser Familie.
Nancy ließ ihren Blick über die Mauerreste schweifen. Ihre Lippen glänzten feucht vom ständigen Benetzten mit ihrer Zunge. Sie war nervös. Roch nach Angst. Kein unangenehmer Duft, doch es gab bessere. Das Aroma frischer Pfirsiche oder die herb rauchige Komposition, die Samuels Schuppenhaut entströmte. Weder das eine noch das andere würde ihm jemals wieder zur Verfügung stehen. Doch Nancy tat es.
Raven löste sich aus dem Schatten. Das Mädchen zuckte erschrocken zusammen, ging einen Schritt zurück, stolperte und verfing sich in den Zweigen.
„Du hast nach mir gesucht?“ Raven streckte ihr die Hand entgegen. Das Mädchen ergriff sie und ließ sich aus dem Dickicht ziehen. Ein buntes Blatt hatte sich in ihren braunen Haaren verfangen. Es zierte sie wie ein seltener Schmuck.
„Sie haben mir neulich gesagt, Sie hätten nichts gegen meine Gesellschaft.“
„Falsch. Ich sagte, ich hätte nichts gegen deine Nähe.“ Wenn sie nicht sofort floh, würde er ihr nah sein, bis zu ihrem Tod. Wäre er in der Lage, sie ziehen zu lassen? Oder würde er ihr hinterhersetzen, wie ein Raubtier seiner Beute? Blau schimmernde Venen pulsierten unter ihrer hellen Haut. Versprachen Frieden, lockten mit der Aussicht, die Einsamkeit für einen Augenblick vergessen zu können.
Mit einem Ruck zog er sie zu sich. Der Angstgeruch wurde stärker. Raven fasste ins schmale Genick, strich fest über die angespannten Halssehnen. „Was genau willst du von mir?“
Nancy schnappte nach Luft, suchte seinen Blick. „Sie.“ Ihr Gesicht färbte sich dunkelrot. „Seit ich Sie zum ersten Mal gesehen habe, faszinieren Sie mich. Sie gehen allein am Ufer spazieren, blicken auf den See, als ob er ihre Seele verschlungen hätte, und wenn Sie …“
„Du lügst.“ Keinen Schritt aus dem Haus ohne Sonnenbrille. Nancy konnte seine Blicke weder sehen, noch interpretieren. Davon abgesehen besaß der See nicht seine Seele. Sie war mit Samuel nach London geflohen. Sie hasste ihn. Ebenso wie ihn sein Bruder hasste. Ohne Seele war ein Mord aus Leidenschaft ein Kinderspiel. Und Leiden würde er schaffen. Gleich nach der Lust. Er würde Nancy damit überschwemmen, die ihren eigenen Tod ansah, als wäre er das Wunder dieser trostlosen Welt. Langsam, damit sie sich daran gewöhnen konnte, zog er die Brille ab. Das erschrockene Keuchen erstickte Raven mit einem festen Kuss. Zappeln? Wozu? Das Mädchen brauchte nichts tun, als stillzuhalten. Raven fuhr ihr mit der Hand unter die Fleecejacke. Wanderte höher, bis er das ängstlich trommelnde Herz fühlte. Nancy stöhnte in seinen Mund, krallte sich an ihm fest. Sie wollte seine Lippen nicht hergeben, versenkte ihre nasse Zunge in seinem Mund. Ungeschickt und plump. Nicht zu vergleichen mit der sinnlichen Stimulation, die ihm Samuel mit jeder Liebkosung geschenkt hatte.
Du musst noch viel lernen, Nancy. Bedauerlich, dass du keine Gelegenheit mehr dazu haben wirst.
Ob fähig oder nicht. Nancys Blut rauschte heiß und schnell und weckte ein gieriges Ziehen in ihm. Zuerst würde er die Zähne in ihrem Fleisch versenken, dann sich selbst.
Raven befreite seine Lippen von ihrer unerfahrenen Zudringlichkeit und legte sie sanft auf ihren Hals. Ihr Puls pochte an seine Zähne. Fühlte sie den stärker werdenden Druck?
Kaum hörbar, das Reißen der Haut. Nancy stöhnte auf, presste ihre Kehle fester an seine Lippen, während sich seine Zähne tief in sie gruben. Eine Nacht, prall gefüllt mit den sinnlichsten Träumen, einem Rausch, der ihre Lustempfindungen über alle Grenzen hinweg schleudern würde, nur um anschließend qualvoll zu sterben und in einem Loch verscharrt zu werden.
Ich werde dich halten, bis es vorbei ist.
Mehr konnte er für Nancy nicht mehr tun.
≈
Das Weibchen war tot. Auch die vier Jungtiere und der Zuwanderer von vorletztem Frühjahr. Er hatte die Führung an sich gerissen und für frisches Blut gesorgt. Wusste der Teufel, wo er plötzlich hergekommen war, doch Chen Sun hatte gejubelt vor Glück.
Die Alte, die mit den tiefen Narben am Unterarm, und ein Tier mit graubraunen Schuppen hatte es ebenso erwischt.
Isabell zoomte das Bild näher heran. Blutungen aus Mund und Nase, zerfetzte Haut. Das nannte Sun ein Problem? Das war eine Katastrophe. Großer Gott! Die gesamte Population des Tian-Chi-Sees hatte es dahingerafft.
Mit eiskalten, zitternden Händen kämpfte sie mit dem Verschluss der Wodkaflasche. Nicht die Nerven verlieren. Sie hatte bisher alles überlebt. Die Armut in den Favelas von Bogotá, den hassenswerten Vorschlag ihrer vom Schicksal kleingehaltenen Mutter, nach Moskau auszuwandern und auch die stickigen Container, in die sie die Schleuser hineingepfercht hatten. Und Stanislaw. Isabell krallte sich in ihre kurzen Haare und zerrte die Erinnerung aus ihrem dunklen Versteck. Oh ja. Stanislaw hatte sie auch überlebt. Nur er würde sie nicht überleben.
Ob sein Kartell dahintersteckte?
Isabell goss das Glas voll. Nach drei großen Schlucken entspannte sich ihr Magen etwas. Niemand wusste von der Spezies S78. Es sei denn, Chen Sun hätte geplaudert. Aber warum? Er war nicht lebensmüde, lediglich verrückt. Der Grund seines Irrsinns lag nun nebeneinander aufgereiht auf kahlen Felsen dicht unter dem Himmel.
Was hatte der dürre Chinese ins Handy geschluchzt! Kaum ein Wort konnte sie verstehen. Unsinniges Gerede von Traditionen, Generationen, Familienstolz und der erhabenen Pflicht, sich rund um die Uhr um nicht einmal zwei Hände voll Viecher zu kümmern, die von der Evolution ohne die Familie Sun längst ausradiert worden wären. Gewürm hätschelte man nicht. Man zertrat es. Normalerweise. Doch Spezies S78 war die glorreiche Ausnahme. Spielsüchtig und verschuldet war Sun angekrochen gekommen. Hatte ihr mitten in einem Casino in Shenyang seinen Plan vorgestellt, die Droge des Jahrhunderts zu kreieren. Was er dazu brauchte? Ihr Geld, ihren Schutz und ihr Vertrauen. Nun lag ihre Investition in der Gegend herum und blutete aus allen Körperöffnungen.
„Schwesterherz!“ Luis kam. Ein zufriedenes Grinsen auf dem Gesicht. Isabell drehte den Laptop so, dass ihr Bruder Suns gemailte Fotos nicht sehen konnte. Auf diesen Schock musste sie ihn vorbereiten.
„Sieht nach einer guten Ernte aus. Die kleinen Felder geben eine Menge her.“ Seufzend setzte er sich zu ihr und leerte mit wenigen Schlucken ihr Glas. „Das Team macht sich gut. Vor allem Sean. Du hast nicht übertrieben mit seinen Führungsqualitäten.“
Sie übertrieb nie. Der Ire kam aus dem Dreck, hatte ihn überlebt ebenso wie sie. Das machte ihn zwingend zu einer starken Persönlichkeit. Luis zog das Hängeregister näher und pickte sich Seans Personalakte heraus. „Stricher mit Siebzehn. Wie kommt ein Ire nach Bangkok?“ Kopfschüttelnd blätterte er sich durch das wenige, was Isabell aus Seans Leben festgehalten hatte. Sean war nicht sehr gesprächig gewesen, doch ohne Hintergrundinformation bekam keiner bei ihr einen Job.
„Sein Zuhälter hieß Onkel Bob?“ Luis lachte. „Bei dem gab es Aufstiegsmöglichkeiten für die Jungs. Respekt!“
Vom Stricher zum Personalmanager eines kriminellen Unternehmens. Sean passte perfekt ins Team. Wer Strichjungen motivieren und vor problematischen Kunden schützen konnte, kam auch mit ihren Arbeitern zurecht. Hinzu kam, dass Sean ein guter Schütze war. Mittlerweile auch mit links.
„Ist er loyal?“, fragte Luis über den Rand der Akte hinweg. „Oder sticht ihn übertriebener Ehrgeiz?“
„Jeder Straßenköter leckt die Hand, die ihn füttert.“ Sie fütterte all ihre Köter überreichlich. Sie sollten keinen Grund haben, auch nur über ein Abwerbungsangebot der Konkurrenz nachzudenken.
„Henry ist begeistert von ihm. Er ist sicher, dass Sean mit links besser schießen kann, als Bruno mit rechts.“
„Hat er bewiesen.“ Sonst säße sie nicht hier. Litt sie an Paranoia, dass sie hinter dem Mordanschlag ebenfalls Stanislaw vermutete? Luis goss sich nach und schwenkte versonnen die klare Flüssigkeit im Glas. „Baxters kleines Spielzeug gefällt mir dafür gar nicht. Tom ist ein Kriecher, der mit keinem aus dem Team klarkommt. Dein Lieblingsmongole faselt etwas von Dämonenbalg, wenn er an ihm vorbeigeht.“
„Timur hält jeden für besessen.“ Selbst bei ihr spuckte er über die Schulter, wenn sie ihm zu nah kam. Solange er ihr Geld nahm, dafür seinen Job im Team machte und schwieg, durfte er sich von Dämonen umgeben wissen, wie er wollte. Dass ihrem Bruder Tom nicht gefiel, war kein Wunder. Luis war schön und liebte alles Schöne. Tom war entstellt, wie sie es damals gewesen war.
Automatisch griff sie zum Schminkspiegel. Nur dünne, helle Linien zogen sich über ihre Wangen, über ihre Nase. Baxter hatte sie gerettet. Vor dem Hohn der Welt. Er würde auch den Jungen retten, doch bis dahin gehörte er zum Team. Ob es Luis passte oder nicht.
Ihr Bruder nahm ihr den Spiegel aus der Hand. „Wenn wir mit Snaky Tears Erfolg haben, schuldest du niemandem irgendetwas. Pjotr ist hingerissen von den Kostproben, die wir ihm geliefert haben. Als ich den Preis nannte, hat er gelacht. Er will es als neue Superdroge in seine Clubs einführen. Reine Natur!“ Luis kicherte. Noch. Würde er die Bilder sehen, würde sich das ändern.
„Die Vorstellung, dass das Zeug von seltenen Kreaturen stammt, die in keiner ernst zu nehmenden Suchmaschine auftauchen, hat ihn geradezu begeistert. Auch wenn er nach wie vor der Meinung ist, wie würden mit einer Unterart der Kugelfische experimentieren.“
„Warum? Hat es ihm die Beine weggehauen?“ Pjotr war einflussreich, skrupellos und über die Maßen reich. Doch offensichtlich mangelte es ihm an Bildung.
„Irgendwie schon.“ Luis Fingerkuppe glitt sanft über den Glasrand. „Du hättest ihn hören sollen, wie er geschwärmt hat. Snaky Tears muss seine kleine Privatfeier ungemein aufgemischt haben. Er will einen exklusiven Vertrag mit uns. Dass wir vorerst nur Kleinstmengen produzieren können, stört ihn nicht. Er will die Larven der neureichen Moskauer Szene damit anfüttern. Wohldosiert, versteht sich, und direkt aus seiner Hand.“
„Er kann niemanden mit Snaky Tears anfüttern.“ Die Produzenten der Superdroge lagen hingemetzelt auf über zweitausend Höhenmetern am Rand eines Kratersees und würden spätestens am nächsten Tag zu stinken anfangen. Langsam drehte sie den Laptop zu Luis. „Diese Bilder schickte mir Chen Sun vor etwa einer Stunde. Ob es ein Anschlag war oder die Dämlichkeit eines Fischers weiß er nicht.“
Luis stellte das Glas weg. Mit zusammengekniffenen Augen rutschte er samt Stuhl näher zum Tisch. „Scheiße.“
„Denkst du nicht, dass diesem Desaster ein originellerer Titel gebührt?“
Luis fuhr sich über den Mund. Seine Lippen blieben fahl. „Sind das alle?“
„Nicht ein einziges Exemplar hat überlebt.“ Sun hatte ihr diese Tatsache ins Ohr geschrien.
„Dann sind wir tot.“
Wie sie unreflektierte Aussagen hasste. Auch wenn sie von ihrem eigenen Bruder stammten.
„Mit Pjotr spielt man nicht. Er will etwas, er bekommt es. Weißt du, wie weit seine Kontakte reichen?“ Luis Stimme driftete ins Schrille ab. „Der hat Kumpel, die tummeln sich im Kreml genauso oft wie auf den Jahresabschlussversammlungen diverser Drogenkartelle!“
„Kein Grund zum Schreien.“ Pjotr war schon ihr Stammkunde gewesen, als Snaky Tears noch eine Idee in Suns Kopf gewesen war. „Er wird sich mit den regulären Opiumlieferungen begnügen müssen.“
Das hysterische Lachen ihres Bruders klingelte in ihren Ohren. „Pjotr interessiert dein Opium nur, wenn es als Trägersubstanz für dieses gottverdammte Gift dient! Er will die Geilheit! Er will die Zügellosigkeit! Und zwar nicht bei sich, sondern bei der Brut seiner zwielichtigen Freunde, die er anschließend mit der Sucht ihrer missratenen Kinder erpressen kann!“
„Dann sag Sun, er soll sich nach Ersatz umsehen. Die Erde ist groß. In irgendeinem Loch wird eines dieser Viecher schon noch herumkriechen.“ Und Gnade ihnen Gott, wenn nicht. Pjotr schuf nicht nur Chancen, er zerquetschte sie auch zwischen seinen dicken Fingern zu Staub. Den Traum von Reichtum und Macht würde sie wegen dieses Desasters nicht bröckeln lassen. Sun musste handeln, und zwar schnell.
„Du fliegst nach Moskau zurück und beschaffst mir dort etwas, in dem Chen Sun arbeiten kann.“
Luis blähte die Wangen. „Von was reden wir? Eine Datscha oder eine verlassene Fabrik?“
„Etwas dazwischen. Im Zentrum, aber dennoch verborgen vor neugierigen Blicken.“ In Zukunft würde sie die Zucht von S78 persönlich überwachen. Die nordkoreanische Grenze war viel zu weit ab vom Schuss und ganz offensichtlich war Sun allein mit dieser Aufgabe überfordert.
Was brauchte er noch, falls er fündig wurde? Wasser! Das war besonders wichtig. „Ein Seegrundstück wäre passend, doch es muss sich einzäunen lassen und im Gebäude sollte genug Platz für das Team und mindestens fünf ausgewachsene Tiere sein.“
„Mir ist zwar nicht schlüssig, wo Sun ein ganzes Rudel auftreiben soll, aber bitte.“ Schulterzuckend schrieb sich Luis ihre Wünsche aufs Handy. „Nur nebenbei. Von Pjotr weiß ich, dass Stanislaw für ein paar Tage in Moskau ist. Zur Beerdigung seiner Tante. Hast du Lust, seine eigene dranzuhängen?“ Die Ruhe in seiner Stimme täuschte. Er war angespannt. So wie sie. Luis hatte sie nach Stanislaws Spezialbehandlung gefunden. Er wusste, warum sie den Russen tot sehen wollte. Wer nicht hören will, fühlt. Stanislaw hatte ihr mit kaltem Lächeln den Kopf in den Nacken gezogen und ihr diese Weisheit ins Gesicht geschnitten.
Konnte sich Kälte gut anfühlen, wenn sie nach und nach den Körper umklammerte? Unter einer Eisschicht schlug ihr Herz hart und fordernd. Es wollte sein Recht. Es sollte es bekommen.
In Fesseln. Geknebelt. Wimmernd vor ihr kniend. Diesen Anblick war Stanislaw ihr schuldig. „Gib mir zwei Tage. Dann komme ich mit dem Team nach. Und lass ihn nicht entkommen.“
„Kein Problem.“ Sein Lächeln war hinreißend grausam. „Pjotr meint, Stanislaw sei mindestens die ganze Woche über bei seiner Familie.“
Dann sollte er seine Lieben genießen, solange er es noch konnte.
Jemand klopfte zaghaft an der Tür. Dünn und mit gesenktem Kopf betrat Tom das Zimmer. „Du wolltest Tee, Isabell?“
Richtig, sie hatte Tom völlig vergessen.
Die Tasse klapperte gegen die Kanne und Tom brabbelte Entschuldigungen.
„Stell es auf den Tisch, bevor du noch alles verschüttest, und dann verschwinde.“ Sie musste allein sein, um sich gedanklich in Stanislaws Blut zu suhlen. Zu grausam? Zu überzogen? Nein. Lediglich konsequent.
„Wenn du noch etwas brauchst, Isabell …“
Das Tablett fiel scheppernd zu Boden.
„Idiot! Reichen dir die Narben bis ins Hirn?“
Zitternd und bleich starrte Tom auf den Bildschirm. Verdammt, Luis hatte vergessen, das Foto der Tian-Chi-Population zu minimieren.
≈
Nebel.
Raven lehnte die Stirn an die Fensterscheibe und sah dem weißen Wabern zu. Wie eine klamme Daunendecke lag es auf dem See und schluckte nicht nur die Schemen, sondern auch die Geräusche der Männer, die das Westufer absuchten. Hofften sie eine weitere verfaulte Wasserleiche zu finden? War das Glück ihnen hold, konnte das geschehen. Davenports kopfloser Körper und sein rotgesichtiger Handlanger steckten noch irgendwo in den Eingeweiden des Sees. Es grenzte an Ironie, dass die Polizei ausgerechnet Dr. Hendrik Johannsons Leichnam gefunden hatte, an dessen Tod sowohl Samuel als auch er unschuldig war. Die Lokalpresse hatte sich mit der Sensation Tag für Tag geschmückt. Deutscher Kryptozoologe tot im Loch Morar gefunden! Todesursache noch unklar. Weiter unten in den Artikeln erschien regelmäßig ein Hinweis auf Mhorag. Die Leute in Morar jubelten. Endlich lief ihr heimisches Seeungeheuer Nessi den Rang ab. Was sie wohl sagen würden, wenn sie erführen, dass Mhorag sein Vater und längst tot war? Vielleicht bildete er sich auch alles ein. Vielleicht hatte es nie einen Mann mit Schuppenhaut und Schlangenaugen gegeben und seine Mutter war nie von ihm verführt worden. Dann wären auch Samuel und er nur eine Einbildung und ihr seltsames Leben ebenfalls. Ein guter Gedanke, der seine Einsamkeit mit einschloss und ebenfalls zu einer Illusion werden ließ. Ein müdes Lachen kroch träge seine Kehle hinauf. Davids Gift hatte ihm ganz offensichtlich das Hirn zersetzt.
Raven lehnte sich an die Wand, rutschte langsam daran hinunter. Vorsichtig fühlte er über seinen Unterarm. Er war bedeckt mit kleinen Narben. Die jüngsten Bisswunden waren vier Tage alt und schon fast verheilt. Noch ein, zwei Tage konnte er aushalten, aber dann musste er wieder zu David, um sich seine Portion Glück und Vergessen zu holen. Von Mal zu Mal vertrug er das Gift besser. Bedauerlicherweise wurden aber auch die Abstände zwischen den Bissen kürzer. Anfangs hatte er noch zwei Wochen ohne ausgehalten. Inzwischen war das ein Albtraum.
Ewig würde er diese Kreatur, die er nur noch aus Gewohnheit David nannte, nicht einsperren können. Irgendwann musste er sie und sich von dieser Situation erlösen. Am sichersten mit einem Kopfschuss, der zuerst seinen transformierten Stiefvater das Hirn ausschalten würde, dann vielleicht ein zweiter für sich selbst. Warum nicht? Sonderlich stark hatte er nie an seinem Leben gehangen. Doch nun war es nicht nur Ballast und wurde von Träumen zusammengehalten, die ihm das Monster in den Arm biss, sondern gefährdete auch noch unschuldige Menschen.
Nancy schlief für die Ewigkeit sechs Fuß tief in feinem, silbernem Sand. Ob ihre Familie sie vermisste?
Raven leckte über seinen Arm, presste Lippen und Zähne auf eigenes Fleisch. Nur eine Illusion. Sie brachte keinerlei Befriedigung.
„Raven?“ Finley klopfte an die Tür. „Ich habe etwas zu essen dabei. Darf ich hereinkommen?“
Lieber nicht, alter Mann aber du wirst dich nicht aufhalten lassen. Sein Magen boykottierte allein bei dem Gedanken an Erins Hausmannskost.
„Raven? Wo bist du?“
„Hier unten.“
Finley kam um das Bett herum, auf seinem Handteller wackelte ein Tablett. „Warum sitzt du auf dem Boden?“
„Mir war danach.“
„Meinetwegen.“ Ächzend ließ sich der Alte auf ein Knie nieder und stellte das Tablett neben ihm ab. Quark, eine Banane, Zwieback. Dazu ein Becher Kamillentee. Okay, Erin hielt ihn für sterbenskrank. Genau so sah er vermutlich auch aus.
Finley musterte ihn, zog seine Augenbrauen noch enger zusammen, als sein Blick über Ravens Arme glitt. Verdammt, die Narben! Raven zog die Ärmel seines Pullovers bis über die Handgelenke. Nur ganz langsam entknautschte sich Finleys Stirn wieder. „Samuel hat mich vorhin angerufen. Er fragte nach dir und ich habe ihn angelogen. Zum wiederholten Male übrigens.“
„Inwiefern?“ Raven tunkte den Zwieback in den Tee. Wenn die Kante abbrach, würde er Essen von seiner To do Liste streichen.
„Ich sagte ihm, dir ginge es gut.“ Der alte Mund zog sich schief. Finley besaß eine seltsame Art, zu grinsen. „Aber ich denke, er hat‘s mir nicht geglaubt.“ Sein Blick auf den aufgeweichten Zwieback sprach Bände. Raven legte ihn auf den Teller zurück. „Hat Samuel gesagt, wann er gedenkt, seinem Elternhaus einen Besuch abzustatten?“ Wie er rhetorische Fragen hasste. Vor allem, wenn er sie selbst stellte und ohne nachzudenken beantworten konnte. Samuel hatte ihn angebrüllt, ihn niedergeschlagen und ihm klar und deutlich zu verstehen gegeben, dass er nie wieder etwas mit ihm zu tun haben wollte. Ian hatte es nur beim Anbrüllen gelassen, doch geflohen war er ebenfalls. Anscheinend hatte er auf seine Brüder eine abstoßende Wirkung. Nur, weil er sich von dem Geliebten des einen hatte vögeln lassen und dem anderen gestanden hatte, der Mörder seines Vaters zu sein. Was dummerweise gelogen war. David lebte. Allerdings hätte ihn Ian nicht mehr erkannt.
„Dein Bruder wohnt bei Laurens. Von Kommen hat er nichts gesagt. Ist auch ein bisschen viel verlangt. Immerhin hast du dir mit Samuel einiges geleistet.“ Finley brach ein Stück von der Banane ab und hielt es ihm vor die Lippen. Als sie geschlossen blieben, steckte er es sich seufzend selbst in den Mund.
Toll, wenn ein eingebildeter Lichtschein in der Dunkelheit versank. Ein Versöhnungsversuch mit Samuel hätte diesen grauen Tag gerettet. Finley versuchte sein Glück mit dem Tee. Raven schlug ihm die Tasse aus der Hand. Das pissgelbe Zeug sickerte in den Flickenteppich, während Finley sein Repertoire an gälischen Flüchen aufsagte.
Warum noch warten? Es war war ein guter Tag für Davids Gift. Ein Tag früher, ein Tag später. Es spielte keine Rolle mehr.
„Gibt es etwas, was ich in den nächsten achtundvierzig Stunden erledigen muss?“ Nach dem Biss ging nichts außer im Bett liegen und träumen. „Wenn nicht, lass mich in Ruhe.“
„Was ist im Keller, Junge?“
„Geht dich nichts an, Finley.“
„Wo sind die Schlüssel?“
„Ich habe deinen Schwur.“
„Scheiß drauf!“
„Wir wissen beide, dass du dein Versprechen halten wirst.“ Finley war vom alten Schlag. Seine Familie hatte jeher den Mac Lamans gedient, sie geschützt, war für sie gestorben. Lange bevor sie ihr Blut mit einem Seeungeheuer gekreuzt hatten. Für Finley waren Schwüre Tatsachen wie der See und der Horizont über dem Meer.
„Danke fürs Essen, grüße Erin und wir sehen uns übermorgen wieder.“ Wäre Finley nicht schon etwas schwerhörig gewesen, hätte er die Schlüssel unter Ravens Pullover klimpern hören können.
Für sein Alter ungewöhnlich schnell packte Finley ihn am Kragen und zog ihn dicht vor seine rot geäderte Nase. „Höre mir mal genau zu, Junge. Seit Samuel gegangen ist, hast du jeden Halt verloren. Du siehst aus wie ausgekotzt. Sieh dich doch an!“
„Einen Teufel werde ich und nun lass mich los oder willst du mich erwürgen?“
Finleys Miene verzog sich, als hätte er plötzlich Zahnschmerzen bekommen. „Du gehst jeden Tag da hinunter. Und wenn du wiederkommst, bist du nicht ansprechbar.“
Das war falsch. Nach den Biss-Tagen machte er Pause. Dann stand David auf Diät. Aber auch sonst brauchte er nicht viel. Grünzeug, Fisch. Andere fütterten Kaninchen, er sein Monster. Endlich nahm Finley seine knochigen Finger weg. „Gib mir die Schlüssel oder ich breche die Tür auf.“
„Dann breche ich dir das Genick.“
Finley zuckte zusammen. „Das hast du nicht gesagt, oder?“ Die ausgestreckte Hand zog sich wieder zurück. Ohne Schlüssel. Als Raven nichts erwiderte, stand Finley auf. „Mir kommt gerade der Gedanke, dass du das ernst meinen könntest.“ Er ging. Schweigend und mit hängenden Schultern.
Tut mir leid, alter Mann. Aber niemand außer mir rührt David an.
January 4, 2014
Endlich ist es soweit! Schlangenfluch 3 – Seans Seele – ist auf dem Weg!
Im Februar 2014 kann losgelesen werden!
Voraussichtlicher Klappentext:
Der junge Ire Sean lebt am Rand der Gesellschaft. Als er in Bangkok unter die Räder kommt, nimmt ihn die Drogenhändlerin Isabell bei sich auf. Sie plant, mithilfe des Giftes einer uralten Spezies die Droge des Jahrhunderts zu kreieren.
Über Shenyang und Moskau führt der Weg nach Morar, einem kleinen Ort in den schottischen Highlands.
Doch was Sean dort vorfindet, nimmt ihm in vielerlei Hinsicht den Atem.
December 20, 2013
Frohe Weihnachten!
Für euch alle ein besinnliches oder turbulentes Fest, je nach Geschmack, und einen guten Rutsch ins neue Jahr!
Bild: Ly Fabian
Herzlos: ein Glasengelmord
„Eindeutig ein Gewaltverbrechen.“ Der Nussknacker beugte sich steif über den Scherbenhaufen aus Durchsichtig und Rot, bis seine lange Nase fast den Glaskopf des zerschlagenen Engels berührte. Am Stück war er von den fragilen Schultern gebrochen und hatte nur einen kleinen Rand des Halses mitgenommen. Leider nicht den Heiligenschein. Stückchenweise verteilte er sich auf der Tischplatte.
„Ich bin untröstlich“, wimmerte der Lebkuchenmann und vergoss dicke Tränen aus Zuckerglasur. „Der kleine Engel war reizend. Jedes Mal, wenn jemand die Tür oder das Fenster öffnete, tanzte er im Windzug und klingelte gemeinsam mit seinen Freunden.“
Da lag der Hase im Pfeffer! Auch unbeabsichtigte Rempeleien sorgten untergründig für Aggression.
Untergründig? Der Nussknacker sah nach oben, wo die restlichen Engel an dünnen Fäden baumelten und betreten auf ihren zersplitterten Freund blickten.
Im Untergrund waren die Glaskerle hohl.
Völlig hohl. Wo kein Herz war, konnten auch keine Aggressionen geweckt werden.
Dann ein Mord aus Eifersucht!
Das Opfer klingelte schöner als die anderen, weshalb einer von ihnen am Erfolgsdruck scheiterte und seine bestialischsten Seiten zeigte.
Auch für Eifersucht brauchte man ein Herz.
Gedanklich strich er dieses an sich interessante Motiv von seiner Liste.
Ein hitziger Wichtel aus Pfeifenputzern und Walnusskopf stakste wichtigtuerisch am Tischrand entlang. „Leichtsinn“, warf er in den Raum. „Die ständige Höhe und die damit verbundene dünne Luft sind dem Engel zu Kopf gestiegen und er schleuderte sich absichtlich grob gegen die anderen.“
„Marie hasste es, Pogo zu tanzen.“ Der Lebkuchenmann scharrte unglücklich mit dem abgerundeten Fuß. „Sie war mehr fürs Sanfte.“
„Marie?“ Herrje! Die Engelbande da oben besaß Namen? Dann stand das Motiv fest: Größenwahn.
„Wenn sich billiger Tand einbildet, was besseres zu sein, kann das ja nicht gut gehen.“ Der Wichtel warf dem Lebkuchen einen Blick zu, für den er beim Nussknacker zwischen den Holzkiefern gelandet wäre.
„Namen!“ Er spukte eine Made aus, die, kaum auf der Tischplatte aufgeklatscht, erschrocken zusammenzuckte und hektisch unter den Adventskranz kroch. „Genügt es uns nicht, unserer Bestimmung nachzukommen? Wozu brauchen wir individuelle Bezeichnungen?“
„Brauchen wir ja nicht.“ Die Stimme des Lebkuchenmannes war kaum ein Flüstern. „Ich habe ihr den Namen zum zweiten Advent geschenkt, weil ich nichts andere besaß.“ Sein Genick knackte gefährlich kross, als er traurig den Kopf hängen ließ. „Und immer nur Zuckergusskrümel fand ich langweilig.“
„Zurück zum Problem.“ Persönliche Befindlichkeiten halfen niemandem weiter. „Der Engel …“
„Marie“, sagte der Lebkuchenmann schüchtern.
„Meinethalben.“ Der Nussknacker atmete tief ein. War er der Einzige mit Verstand im Kopf? Was im Wichtelschädel los war, hatte er eben gesehen: hohl gefressen. Ganz klar. Der wäre der nächste, der Unsinn anstellte. „Marie ist tot, was bedauerlich aber nicht zu ändern ist. Es stellt sich die Frage, warum sie nur noch aus Scherben besteht.“
„Trotteligkeit“, vermutete der Pfeifenputzerwichtel.
„Mord!“ Ganz eindeutig. Der Nussknacker hätte gerne die Arme über der Brust verschränkt, aber dazu waren sie zu kurz.
„Liebeskummer.“ Der Lebkuchenmann wollte die Hände vors Gesicht schlagen, doch auch seinen oberen Extremitäten fehlten notwendige Zentimeter. Seine süßen Tränen konnte er erst am Kinn abwischen. „Sie wollte mit mir durchbrennen, bevor es mich am Sonntag zerlegt.“ Sintflutartig rannen Zuckergussströme aus seinen Smartieaugen. „Sie wollte eine Zukunft mit mir am Stück und fern von Fichtenduft und Last Christmas.“
Verständlich aber gänzlich utopisch. „Werter Freund. Nun lösen sie sich mal nicht auf.“ Auch das tröstende auf die Schulter klopfen scheiterte an der allgegenwärtigen Kurzarmigkeit. „Ein Glasengel und ein Lebkuchenmann. Also wirklich! Was habt ihr euch dabei gedacht?“ Der eine staubte ein, der andere wurde gegessen.
„Nichts.“ Der Lebkuchenmann zog weißen Rotz in die nur angedeutete Nase. „Wir haben nur gefühlt.“
„Liebe!“ Der Pfeifenputzerknilch traute sich, erneut eine Made auszuspucken. Allerdings war sie weniger agil wie ihre Vorgängerin und blieb nach zwei kläglichen Robb-Versuchen zusammengekringelt liegen. Er kickte sie mit dem Holzperlenfuß vom Tisch und sie rollte bis zur Küchentürschwelle. Kurz vor dem Absturz in eine Dielenritze riss sie erschrocken die Augen auf.
Zu spät.
Sie hätte früher aus ihrer Lethargie aufwachen müssen, doch schäbiger als das Innere des Nusskopfes konnte ein staubiger Spalt auch nicht sein. Vielleicht war sie froh über die Wendung ihres Schicksals.
Der Nussknacker klappte den Unterkiefer auf und zu. Denken verspannte ungemein und ein paar Lockerungsübungen konnten nicht schaden.
„Liebe als Motiv scheidet aus.“ Selbst dann, wenn sie von einem Selbstmord ausgehen mussten. „Sieh selbst, Lebkuchenmann. Marie war hohl und herzlos.“ Warum verweigerte jeder, das Offensichtliche zu erkennen?
„Aber ich nicht.“ Der zu kurze Arm des Lebkuchenmannes war lang genug, um auf die linke Brusthälfte zu tippen. Ein großer roter Zuckerschrift Kringel leuchtete auf dem etwas zu dunklen, da leicht angekokelten Braun.
Ein Herz.
Eindeutig.
(Vielen Dank für das wunderschöne Foto, Carola Schwalm :-) )


