Nur eine Lüge. Besser als nichts. Lust blieb, auch wenn sie einsam war.
Zwei Fliegen umkreisten den Stumpf. Mihály scheuchte sie fort. Einen Madenbefall im frisch amputierten Bein hatte der Mann nicht verdient. An seinem Kinn spross noch Flaum. Weit entfernt davon, ein Bart zu sein. Er schien noch jünger als Dávid, der ihm eben mit zitternden Fingern frische Verbände reichte.
Dávid. Sein Kleiner. Er folgte ihm seit drei Jahren als Geselle und half ihm dabei, Vlads Männer nach Kämpfen wie diesem zusammenzuflicken.
Im Normalfall gewann Vlad III., Woiwode der Walachei und erklärter Gegner des Osmanischen Reiches seine Schlachten. Nur diesmal nicht. Weil es keine Schlacht, sondern eine Flucht war. Vor seinem Halbbruder Radu, der Vlads Volk gegen ihren Herrscher aufgewiegelt hatte. Nun ja, niemand suchte sich seine Verwandtschaft aus und der Woiwode hatte diesbezüglich tief in die Scheiße gegriffen. Als Kind vom eigenen Vater als Geisel dem osmanischen Herrscher überlassen zu werden, war kein Honigschlecken. Auf Vlads Rücken reihten sich die Narben diverser Peitschenhiebe. Schlug das Wetter um, spürte er jeden einzelnen und rief Mihály und sein Arsenal diverser Wundsalben zu sich. Sie brachten nichts, doch das sagte er dem Herrscher nicht. Was den Schmerz auf Vlads Rücken linderte, waren die gleichmäßigen und festen Berührungen, mit denen er die Salben einmassierte. Ebenso gut hätte er dem Woiwoden reines Schafswollfett verabreichen können, würde es nicht so penetrant riechen.
Dávid spülte den Stumpf sauber und tupfte ihn sorgfältig ab. Das Würgen dabei versuchte er erst gar nicht zu unterdrücken. Brauchte er auch nicht. Mihály kannte die Schwächen seines Geliebten und verzieh ihm mehr, als sein Vater es jemals bei ihm getan hätte. Bei Ádám Szábo in die Lehre zu gehen, war auch für Mihály eine Herausforderung gewesen.
Seit er fünf war, trieb sich Mihály in Lazarettzelten herum. Seinem Vater war er schon früh beim Därmezusammennähen und Knochenrichten eine Hilfe gewesen.
Flinke Finger, die wissen, dass sie kein Schwert schmieden oder Stein schneiden, sondern die Krone der Schöpfung heilen sollen.
Bei diesen Worten hatte ihm sein Vater das Kinn angehoben und für einen Augenblick diese schreckliche und grausame Welt mit seinem Lächeln verzaubert, bevor er ihm mit vor Blut verkrusteter Hand eine Ohrfeige verpasste, weil er ihm das falsche Besteck angereicht hatte.
Wenn es ein Paradies gab, saß sein Vater jetzt zwischen Engeln und Blüten. Geschissen auf die Meinung seiner Richter, Ketzer gehörten ins Fegefeuer.
„Wenigstens schreit er nicht mehr.“ Dávids Blick zu ihrem Patienten troff vor Mitgefühl. „Ich habe fünf Kreuze geschlagen, als er endlich ohnmächtig wurde.“
„Du musst lernen, alles Störende während der Behandlung auszublenden.“ Wie oft predigte er seinem Kleinen diesen schlichten Trick? „Konzentriere dich nur darauf, was deine Hände machen.“
Über das blasse, doch sonst wunderschöne Jungmännergesicht huschte ein Lächeln. „Wie bei der Liebe mit dir?“ Er sprach leise, doch dass sie jemand aus dem Lazarettzelt hörte, war unwahrscheinlich. Wer nicht schlief, starb oder wimmerte.
„Wenn du mich in dich reinlässt, was leider zu selten geschieht, kann ich mich sogar auf zwei Orte gleichzeitig konzentrieren. Meinen Schwanz in dir und meine Hand an deiner Härte. Ich fühle jedes kleine Zucken, das von dir ausgeht, und weiß ganz genau, wann es auf meiner Faust heiß und nass wird.“
Dávid. Der sanfte Mann mit den großen, braunen Augen, der viel lieber dichtete oder schwermütige, vor unerfüllter Liebe tropfende Lieder sang, als anderen Menschen wehzutun.
Mihály beugte sich über den halb verbundenen Stumpf zu seinem Kleinen und küsste ihn auf die weichen Lippen. Sie öffneten sich sofort. Dávid wollte mit Liebe gefüttert werden. Über seinen süßen Mund, über seinen noch süßeren Arsch. Seit Dávid ihm eben diese Liebe in einer stürmischen Novembernacht vor Jahren gestanden hatte, das Herz übervoll mit Heimweh, waren sie ein Paar.
Tag für Tag verbargen sie diesen Umstand vor jedem anderen Menschen. Vlad sträubte sich gegen viele Zwänge und boykottierte einige gesellschaftliche Regeln, doch zum Thema Sodomie wollte Mihály ihn nicht herausfordern. Dazu war das Leben an Dávids Seite zu schön, wenn sie nicht gerade bis zu den Knöcheln in stinkendem Blut standen.
„Wann erreichen wir Visegrád?“, nuschelte Dávid noch an Mihálys Lippen. „Mir ist dringend danach, mich hinter dicken Festungsmauern zu verkriechen.“
Das Ziel ihrer Flucht. Die Festung des ungarischen Königs Matthias Corvinus. Wenn sie öfter mit Hinterhalten wie dem heutigen rechnen mussten, konnte es noch einige Zeit dauern, doch Dávid mit der bitteren Wahrheit zu konfrontieren, war grausam. Die Hände Dávids zitterten immer noch, auch wenn dank des Kusses sein Blick etwas von der Resignation verloren hatte. Gäbe es nur Menschen wie ihn, würde die Welt keine Kriege kennen.
Mihály zog den Verband stramm. Für diesen Tag waren sie fertig. „Weißt du, wohin ich mich zurückziehen möchte?“
Dávids Augen leuchteten. „In mich?“
Tief und innig. Doch nicht an diesem Ort, der nur mit Planen vor fremden Augen abgeschirmt war. Aber etwas Schönes, Berauschendes brauchten sie beide nach diesem schlimmen Tag. Dávid nahm seine Hände nach hinten, als er ihm sein Schnäuzchen erneut hinhielt. Das fremde Blut trocknete bereits an ihnen. „Ob wir einen Ort finden, an dem wir ineinander einschlafen können?“
Zarte, kostende Küsse. Wie er Dávids Liebkosungen liebte.
„Nähe bis zum Morgengrauen“, seufzte Dávid sehnsüchtig.
„Dann sollten wir uns beeilen.“ Lang währte die Nacht nicht mehr. Noch einmal stupsten sich ihre Zungen an, dann drang Mihály tief in Dávids Mund. Nur als Vorgeschmack auf das, was er gleich mit seinem längst sensiblen Geschlecht tun würde.
Dávid zuckte zurück. „Hast du das gehört?“
Der Ruf eines Käuzchens, das Wimmern der Verwundeten. Sonst nichts Ungewöhnliches.
„Da.“ Dávid sah sich um. Die Planen bewegten sich im Luftzug. Hinter ihr standen Schatten.
*
Das Eichhörnchen zuckte mit dem Puschelschwanz, beobachtete ihn und hopste näher. Josias saß ganz still, obwohl sich sein krummer Rücken an den Baumstumpf drückte und schmerzte.
Wieder einen Hopser auf ihn zu. Als ob das Tier ahnte, dass er ihm nichts tun würde. Bei Anna kam alles, was Fleisch lieferte, in den Topf. Josias fragte nie nach, was zwischen Pastinaken und Zwiebeln stückchenweise im Sud schwamm. Im Zweifel hatte er es wenige Momente vorher noch gestreichelt. Seine Mutter machte kein langes Federlesen, wenn es darum ging, satt zu sein und am Leben bleiben zu können. Dafür teilte sie auch hin und wieder mit dem Dorfschulzen das Lager. So wie in diesem Augenblick. Deshalb saß er hier. Im Wald und allein. Das Gekeuche des Schulzen konnte er sich nicht anhören, ohne dass ihm schlecht wurde. Anna ging es nicht anders. Josias hatte seine Mutter öfter dabei erwischt, wie sie sich hinterher übergab.
Ob ihr Leben anders verliefe, wenn sein Vater nicht der Leibhaftige wäre? Anna schwieg sich aus, wenn er sie nach seinem Vater fragte. Dabei brannte er vor Neugierde, warum sie sich mit dem Teufel eingelassen hatte. Sicher war er ein besserer Liebhaber als der Schulze und das bisschen Schwefel konnte nicht halb so schlimm wie der Schweinemist riechen, der dem Schulzen überall dranklebte.
Das Eichhörnchen wagte noch einen vorsichtigen Schritt zu ihm hin.
Noch ein bisschen und er könnte das Tier berühren. Wie niedlich es die Nase in die Luft streckte und schnupperte.
Hinter den Haselnusssträuchern knackten Zweige.
Das Eichhörnchen huschte mit keckernden Lauten auf die nächste Eiche. Wäre er nur halb so geschickt und flink gewesen, wäre er ihm gefolgt. Das lauter werdende Lachen gehörte zu Joscha und Bela. Den Söhnen des Schulzen.
Aufstehen. Schnell. Saß er, wenn sie ihn fanden, waren ihre Füße zu schnell auf der Höhe seines Gesichtes. Seine Nase schmerzte noch von der letzten Begegnung mit ihnen.
Sein Rücken war steif. Verdammt, er hatte zu lange bewegungslos dagesessen.
„Das Teufelsbalg!“ Joscha boxte sich in die Hand. „Wo ist deine Hurenmutter? Will sie ihren kleinen, buckligen Bastard nicht beschützen?“
„Sie reitet deinen Vater.“
Das gehässige Lachen der Brüder verstummte.
„Er hat’s gern, wenn nicht jedes Mal er es ist, der aufbockt.“ Zwischen seinen Schulterblättern sammelte sich der Schweiß. Dennoch biss er sich nicht auf die Zunge. „Ist sicher auch für eure Ziege eine Erholung oder nimmt er ab und zu eine Sau, wenn es aus seinem stinkenden Schwanz tropft?“
Gott, er war tot. Die Blicke der Brüder sagten nichts anderes.
„Lust, deinen Vater zu besuchen?“ Bela sprach leise aber der Hass in seiner Stimme ließ Josias’ Herz gefrieren. „Ich bin sicher, er freut sich, seinen Sohn überm Fegefeuer zu braten. Ist sicher ein gutes Gefühl, wenn einem der glühende Spieß so lange in den Arsch geschoben wird, bis er mit der Spitze zum Mund wieder rauskommt.“
Hätte er nicht die Schnauze halten können? Wozu? Wenn ihn Joscha und Bela allein erwischten, war er jedes Mal dran. Bis jetzt hatte er es überlebt. Das würde sich nun ändern.
Brüllend vor Zorn stürzten sie sich auf ihn. Den Strick, der seine Hose zusammenhielt, rissen sie ihm von der Hüfte und banden ihn um seine Handgelenke.
„Nicht zu hoch aufhängen“, keuchte Joscha und boxte ihn in den Magen. Lichtblitze vor den Augen aber das Erbrechen konnte er unterdrücken.
„Hier gibt es Wölfe, Missgeburt. Die riechen dein Blut meilenweit.“ Er warf den Strick über den untersten Ast der Eiche und zog Josias gerade hoch genug, dass seine Füße den Boden nicht berühren konnten. Zappeln und Treten half nichts. Es brachte ihm nur einen weiteren Schlag in den Magen ein. Bela kletterte den Stamm hinauf und knotete Josias fest. Das Seil schnitt ihm ins Fleisch und seine Schultern und sein verdammter Buckel fühlten sich an, als rissen sie auseinander.
„Welches Blut?“ Bela sprang seinem Bruder vor die Füße.
Grinsend schlenderte Joscha zu den Haselnussbüschen und brach dünne Zweige ab. „Das, was gleich aus dem Teufelsbalg herausfließen wird.“ Er drückte sie Bela in die Hand und riss einen Fetzen aus seinem Hemd, stopfte ihn Josias’ tief in den Mund. „Deine Mutter wird dich erst finden, wenn dir die Beine längst weggefressen wurden.“
Drei Jahre später …
Zu alt.
Er hätte es wissen müssen. Keine leuchtenden Leichenflecken und längst keine Totenstarre mehr. Spätestens am Geruch hätte der Junge erkennen müssen, dass der Körper faulte. Hatte er sich unklar ausgedrückt? Was war an frischen Leichen nicht zu verstehen?
Mihály trat vor Wut gegen die Pritsche. Der Frau, die zur Hälfte noch in einer Decke eingewickelt darauf lag, war es gleichgültig. Sie war tot. Schon viel zu lange, wie die gelbgrüne Färbung ihres Bauches zeigte. Aufgebläht und stinkend lag sie vor ihm und klagte ihn aus leergefressenen Augenhöhlen an, ihre Totenruhe gestört zu haben. Allerdings waren weder Silas noch er die ersten gewesen. Aus den kleinen weißen Eiern in den Mundwinkeln schlüpften längst die Maden.
Wie sollte er faulendes Fleisch sezieren? Wenn er sich nicht übergab, war er gut. Mihály kämpfte mit dem Brechreiz. Das Zungengeschwür des Metzgers hatte ihm am Nachmittag bereits zugesetzt, aber was vor ihm lag, würde spätestens dann bestialischer stinken, wenn er den Bauch aufschnitt.
Lohnte sich die Mühe, um ein Blick auf die Organe zu werfen, die er längst kannte?
Wenigstens die äußeren Zeichen des Verfalls musste er notieren, damit er sein Leben nicht umsonst riskierte.
Er rückte den Stuhl an die Pritsche, schob den Arm der Toten weg und platzierte Papierbögen und Tintenfass neben der halb nackten und trotzdem nicht mehr verführenden Hüfte.
Marmorierte Haut, Tendenz ins Grünliche, an den Fraßspuren der Unterschenkel wibbelte es agiler als am Mund der Leiche.
Gott, wie das stank!
Mihály tropfte Pfefferminzöl auf ein Leinentuch und hielt es sich unter die Nase. Nur Mut. Sein Vater hätte niemals eine Gelegenheit zum Lernen vergeudet. Ob ekelerregend oder nicht. Oft verbarg sich an den finstersten Orten das klarste Licht der Wahrheit.
Leider nicht mehr für diese Frau. Aus nur ihr bekannten Gründen hatte sie sich am Donauufer erhängt. Ein seltener Glücksgriff für ihn, ein augenscheinliches Drama für sie. Wäre Silas nur früher an dem Baum vorbeigekommen.
Der Bauch war prall. Was geschah, wenn er ihn öffnete, spielte sich in Sekundenschnelle in seiner Erinnerung ab. Es war nicht sein erstes überlagertes Forschungsmaterial. Unter der Haut leuchteten im Licht der zu wenigen Fackeln und der einzigen, kläglichen Kerze dunkel die Adern hervor.
Kein Tropfen Blut würde mehr in ihnen fließen. Es ruhte in den Füßen und Unterschenkeln und ein Stück weit in den Händen. Aber nicht im Fleisch. Nur in dem schlauchartigen Gewebe.
Mihály schmierte sich das Minzöl unter die Nase.
Warum sickerte das Blut nicht in die Beine, wenn man stand? Warum nur, wenn der Tod eingetreten war? Auch nachts, während des Schlafes, bildeten sich keine blauvioletten Flecken am Rücken, sondern der Lebenssaft verteilte sich gleichmäßig im Körper.
In das Herz hinein, aus dem Herz heraus führten zwei große Adern. Im Takt des Herzschlages spritzte beim Aderlass das Blut in die Schüssel. Sehr viel in recht kurzer Zeit.
Zu viel. Wurde das Blut in den Organen in derselben Geschwindigkeit verbraucht, bedeutete es eine immense Anstrengung für das Herz, es ständig neu zu bilden.
Da lag der Hase im Pfeffer. Schon sein Vater zweifelte an dieser Theorie. Woher nahm der Körper die Substanz für die Unmengen an neu zu produzierendem Blut?
Mihály schnitt vorsichtig entlang der Adern des Unterarmes durch die Haut. Die schlauchähnlichen Gefäße waren leer. Von dick zu dünn. Von oben nach unten. Und dann? Weg? Versickerte das Blut im Gewebe der Leber? Der Niere? In den Fingerspitzen und Fußzehen?
Er strich über den Hals, dessen Strangulationsmal sich tief in die Kehle eingegraben hatte. Wirkte das Leben in einem Menschen, schlug hier der Puls. Auch an den Hand- und den Fußgelenken.
Pumpte das Herz mit all seiner Kraft das Blut von sich weg, nur, damit es verloren ging?
Sein Magen rebellierte, obwohl das Minzöl die empfindliche Haut unter seiner Nase verbrannte. Seine Augen begannen zu tränen und die Tote löste sich in Nebel auf.
Verdammt! Er brauchte eine frische Leiche.
Und er brauchte einen anständigen und klugen Gehilfen, der sie ihm beschaffte. Am besten ohne Zunge, damit er ihn nicht verriet.
„Herr Szábo?“ Silas drückte sich mit dem Rücken an die Wand, neben der ein Gang aus dem Kellergewölbe ans Donauufer führte.
„Mir ist hundeelend. Wenn ich mich übergebe, muss ich es dann wegwischen?“
„Worauf du dich verlassen kannst und mein Erbrochenes kannst du gerne ebenfalls wegräumen.“ Der Geselle des Apothekers war verschwiegen, aber gierig. Pro Leiche ließ er sich zehn Heller zahlen. Für soviel Silbermünzen hätte er in Buda der teuersten Dirne seine Aufwartung machen dürfen.
Der Bengel war bildhübsch. Leider wusste er es auch und Mihály musste sich Tag für Tag zusammenreißen, um ihm nicht aus Versehen einen begehrlichen Blick zuzuwerfen.
Seine Neigung ging nur ihn etwas an und sollte er entdeckt werden, war es aus.
Sollte jemand hinter seine Leichenschnippeleien kommen, war es auch aus.
Sollte dem König klar werden, dass sein Leibarzt der Sohn eines zum Tode verurteilten und längst verbrannten Ketzers war, war es ohnehin aus. Außer der Woiwode hatte Matthias Corvinus davon überzeugt, dass es keinen besseren Wundarzt als Mihály gab. Nicht weit von ihm hockte Vlad im Salomonturm der Festung und war seit drei Jahren Matthias’ Gefangener.
Zugegeben, dort war er sicher vor seinen Verfolgern. Dennoch hatte er sich die Hilfe des Königs vermutlich anders vorgestellt.
Der Ausgang der Flucht vor Radus Truppen war in vielerlei Hinsicht anders als vorgesehen verlaufen.
Mihály wischte sich die Erinnerung an Dávids weiche Lippen aus dem Kopf. Aus dem Herz bekam er sie nicht raus. Das hatte er längst aufgegeben.
Silas ging ein paar Schritte weiter Richtung Ausgang und frischer Luft. Was stellte er sich an? War ihm der Gestank beim Abschneiden nicht aufgefallen?
Allerdings war Mihály selbst dankbar für den Luftzug. Dass der Keller des ihm zugewiesenen Hauses einen Gang nach draußen besaß, der kurz vorm Donauufer endete, gehörte zu den wenigen glücklichen Zufällen in seinem Leben.
Die leeren Weinfässer und das Gerümpel hatte er fortgeräumt.
Nun beherbergte das Gewölbe alles, was er für seine Forschung benötigte. Tisch, Stuhl, sorgfältig zugeschnittenes Papier, Federn und Tintenfass, eine Pritsche, zwei Truhen, in denen neben den Büchern seines Vaters auch ein zweites Operationsbesteck auf seinen Einsatz wartete, Planen zum Abdecken und einen reichlichen Vorrat an Fackeln und Kerzen.
Der perfekte Ort, um seine Forschungen am menschlichen Körper voranzutreiben. Aus Gründen der Sicherheit lehnte ein Ruderboot an der Wand. Direkt hinter dem Ausgang. Eine Flucht über die Donau ging leicht, schnell und vor allem unauffällig vonstatten.
Ohnehin war das Uferstück an dieser Stelle schwer einzusehen. Es versteckte sich unter einer mit Büschen bewachsenen Felsnase, und wer sich seitlich nähern wollte, musste einige Schritte durchs Wasser waten, weshalb die Dorfleute die Straße vorzogen, die sich oberhalb der Donau zur Siedlung und weiter den Hügelkamm hinauf zur Festung schlängelte.
„Herr Szábo“, jammerte Silas. „Beeile dich. Es wird Tag und ich muss zu meinem Meister.“
„Gleich.“
Verdammt noch mal. Was tat er sich an? Diese Leiche verriet ihm nichts, was er nicht längst wusste. Ein Fehlgriff, und ein lebensgefährlicher dazu. „Pack die Frau ein und hänge sie wieder auf.“
„Bitte?“ Silas klappte der Kiefer hinunter. „Das kannst du nicht von mir erwarten.“
Und ob er das konnte. Dafür bezahlte er ihn schließlich.
Mihály schippte dem Jungen eine weitere Silbermünze zu. „Ab in die Karre mit ihr und sieh zu, dass dich niemand sieht. Für heute brauche ich dich nicht mehr.“
Draußen färbte sich der Himmel grau. Die halbe Nacht war er in den Aufzeichnungen seines Vaters versunken gewesen und das Wenige an Schlaf, das ihm theoretisch geblieben wäre, hatte er mit sinnloser Fäulnis vergeudet. Er schlug den Körper in die Decke ein und half Silas, ihn auf die Handkarre zu hieven. „Kein Wort zu deinem Meister, wie immer.“ Herr Barti ging hoffentlich davon aus, dass Silas brav in seinem Bett lag, statt ehemalige Erhängte zurückzuhängen.
Der Junge schob seine Last fluchend durch den Gang und bog hinter dem Eisengatter links ab. Da er die Straße aus naheliegenden Gründen nicht nehmen konnte, blieb ihm nur das holperige Ufer. Hoffentlich war er schnell genug zuhause, um von seinem Meister nicht vermisst zu werden.
Vor einem halben Jahr hatte Silas ihn dabei erwischt, wie er ein ertrunkenes Mädchen aus der Donau fischte. Der Junge war ihm nachgeschlichen.
Gerade, als Mihály Haut und Fleisch des Brustkorbes zurückgeklappt und festgeklammert hatte, war Silas lautlos aus dem Schatten des Ganges getreten, um gegen eine entsprechende Bezahlung seine Hilfe und sein Schweigen anzubieten. Seitdem waren sie Verbündete. Leider benötigte der Apotheker seinen Gesellen tagsüber, sonst hätte Silas ihm auch beim Zähneziehen und Amputieren helfen können.
Mihály wählte ein Stück Seife aus Schafsfett, schwappte einen Eimer Wasser über die Pritsche und schrubbte den Schaum mit einer Wurzelbürste ins Holz. Den Leichengeruch konnte er nur während der Untersuchung ertragen, und das auch nur schwer. Ein zweiter Schwall Wasser spülte die Pritsche sauber.
Reichte die Zeit, um noch ein wenig zu schlafen? Der Himmel wurde stetig heller. Besser, er ging zu Sara ins Gasthaus und ließ sich ein Frühstück vorsetzen. Dort würde er zweifelsfrei auf die Herren Doktoren treffen, die seit Wochen Visegrád und damit auch den König heimsuchten.
Ob ihnen bewusst war, dass der Fluss des Blutes im Takt des Herzschlages vor sich ging? Während ihres letzten Vortrages hatten sie schwarze und gelbe Gallensäfte unterschieden, obwohl sie beide im selben Atemzug zugegeben hatten, nie einen Menschen von innen gesehen zu haben.
Durften sie auch nicht. Sie waren studiert. An Universitäten befasste man sich nur theoretisch mit Blut und allem, was damit zusammenhing.
Mihály zog sich das Wams aus und streifte das Hemd über den Kopf. Alles an ihm roch nach altem Tod.
Im linken der beiden Weidenkörbe lagen die feineren Seifen mit Lavendel, Rosmarin oder Salbeiduft. Die Morgenluft war eisig, als er zügig zum Ufer ging. Auf drei rannte er in den Fluss.
Teufel noch mal, war er kalt. Von oben bis unten seifte er sich ein und träumte dabei von Saras Badezuber, randvoll mit heißem Wasser, den sie ihm wenigstens einmal in der Woche zur Verfügung stellte.
Großzügig verteilte er den Schaum in seinen Haaren und unter den Achseln.
Zu viel Arbeit, zu wenig Gelegenheit, seine Forschungen voranzutreiben. Alles musste im Geheimen geschehen. Verflucht noch einmal.
Arme und Beine, Brust und Bauch. Wo er hinkam, schäumte es.
Zwischen seinen Backen, zwischen seinen Beinen. Auch was sich dort abspielte, war geheim. So geheim, dass er es nur in seinem Kopf stattfinden lassen konnte.
Seine Finger gaukelten ihm Zärtlichkeit vor. Schlossen sich nass und glitschig um seinen Schwanz, massierten sein Gehänge und taten so, als würden sie es nur waschen wollen. Welch eine Heuchelei. Er zwang sich, an sie zu glauben, obwohl die Lüge von ihm selbst stammte und gute drei Jahre alt war.
Breitbeinig stand er mit den Füßen im Wasser und sah einem kalten Herbsttag entgegen. Dabei sehnte er sich nach der Wärme eines anderen Mannes. Nach festen Berührungen, nach harten Stößen, die seinen Leib erzittern ließen.
Nacht für Nacht glitt seine Hand zwischen seine Schenkel. Ein Einschlaf-Ritual. Nacht für Nacht häufte er Sünde auf sich. Mit seinen Gedanken, mit seinen Träumen und Sehnsüchten.
Sein Griff wurde fester. Zwischen Seife und Haut pulsierten prall gefüllte Adern und das Blut in ihnen sang ihm zu, dass es voll Leben war. Dass es nicht in die Füße sickerte. Dass es nicht seine Beine blau färbte und zu stinken anfing.
Es floss heiß und stark durch ihn hindurch, drückte sich hart in seine Hand, biss ihm lustvoll in die Lenden.
Immer schneller glitt seine Härte durch seine Faust, immer fester krallte er sich dabei in die eigene Backe.
Nur eine Lüge.
Besser als nichts.
Lust blieb, auch wenn sie einsam war. Er warf den Kopf in den Nacken und hörte seinem Stöhnen zu. Noch zwei Stöße und er taufte den See mit seiner Sehnsucht. Milchweiß. Vielleicht freute sich ein Fisch darüber.
(Leseprobe aus “Der Sodomit”. Erschienen im Weltenschmiede Verlag, die Tage auch über Amazon erhältlich.)


