Christina Widmann's Blog, page 14

October 5, 2019

Claire: Stadthexen

Magische Praktiken und Kraftorte für das urbane Leben

Lieber Leser,

ich weiß nicht, warum ich hin und wieder Zauberbücher lese. Ich glaube nur, was sich wissenschaftlich beweisen oder logisch erklären lässt. Was erhoffe ich mir von Autorinnen wie der angeblichen Hexe namens Claire? Einfälle für einen Fantasy-Roman?

In Stadthexen schreibt Claire über magische Wohnungsreinigung, Stadt-Schreine im Park und an Straßenkreuzungen, Rituale für drinnen und draußen. Die Geister des Wohlstands wohnen vor dem Schaufenster von Juweliergeschäften; wer sie zu sich nach Hause locken will, kann ihnen eine Spur aus Glitzerstaub streuen. Natürlich in den frühen Morgenstunden, wenn keiner schaut.

Diese Hexe hält wenig von fest vorgeschriebenen Ritualen. Sie liefert zwar ein paar Rezepte, aber betont immer wieder: Der eine macht es schlicht, der andere pompös, für beide wirkt es gleich. Auf die Einstellung kommt es an. Wer sein Ritual kurz und einfach hält, weil ihm der Schnickschnack albern vorkommt, für den würde es ausgeschmückt gar nicht wirken. Wer es aber kurz macht, weil ihm sein Zweck mehr Zeit nicht wert ist, dem werden die "Spirits" beleidigt sein. Nicht Harry Potter mit genau vorgeschriebenen Zauberstabbewegungen, sondern Harry Dresden, bei dem die Magie so wirkt, wie der Magier in seinem Innersten glaubt, dass sie wirken muss.

Das hintere Fünftel des Buches ist Claires Stadtpflanzenlexikon. Hier hätten mir ein paar Bilder gefallen. Wer die Pflanzen und Bäume noch nicht kennt, muss mit einem Bestimmungsbuch losziehen.

Hochachtungsvoll
Christina Widmann de Fran

Stadthexen: Magische Praktiken und Kraftorte für das urbane Leben

erschienen: 2016 bei Heyne
Ich danke für ein Rezensionsexemplar.

ISBN: 978-3-453-70296-7

Leseprobe vom Verlag: hier klicken

Erhältlich gedruckt und als eBuch auf Amazon.de.

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Published on October 05, 2019 03:46

September 30, 2019

Tracy Banghart: Grace and Fury

Dear Author,

In a world where women aren't allowed to read or write, you introduce us to two sisters. Serina grew up learning to wear gowns so she could dance her way into the prince's harem. Her sister Nomi learned to be her handmaid. But the prince chooses Nomi as his Grace, and Serina is sent to a prison colony because of a book that Nomi stole from the royal library. So far, I liked your book. The fish-out-of-water plotlines made me forgive you a graceless style and stereotypical descriptions.

While Nomi has to brave the palace life, Serina lands on Mount Ruin, a volcanic island for female prisoners. And that place killed the book for me. Do you know what prisoners are, what they have always been for every government? Cheap work force. But on this prison colony, nobody puts the ladies to weave doormats. Instead, the guards let them camp by themselves wherever they want on the island. Why feed them if they aren't working?

They guards amuse themselves by making women fight to the death in an amphitheater for the scarce - or so you write - food supplies. The winner's camp gets to eat, the other camps must starve until the next fight. Do you know what happens when you land a few hundred people on an island and let them starve? They eat their dead, and then they kill each other to eat. The women on Mount Ruin bury their dead, so they aren't starving yet.

But they wouldn't be. Volcanic ashes make fertile soil. You write that orange trees, berry bushes and other edible plants grow there. The prison colony has been going for at least fifty years - surely at least one farmer's wife or daughter got sent there in all this time? The women wouldn't be just collecting the fruit they found. They'd be planting more orange trees and berry bushes. In fifty years they would have transformed the island from a wilderness into a farm.

Instead, you have them train to fight. Their method of choice: punching each other while an older woman looks on and occasionally tells them what they're doing wrong. That's the worst dojo I've ever read about. Surely in fifty years the ladies would notice that you learn faster if you don't break each other's bones in the training? And why do all of them train? It would make more sense to train only the strong while the weaker women specialize in farming (see above).

There's so many things the women would have at least tried in fifty years. The guards feel so safe they patrol the island alone. Take out the guards one by one, take their rifles, take the barracks, take the boat, take off. Or, since their never seems to be a roll call, some women could hide away while the rest goes to the amphitheatre. They could raid the unguarded barracks, steal the food and the weapons. If they were really starving, they'd also raid each other's camps.

The guards, on the other hand, would keep a girl or two in their barracks as household slaves. They'd patrol in groups or at least in pairs through this wilderness full of battle-trained women. And they wouldn't leave their barracks - with the food in them - unguarded.

I might have overlooked all this if you had kept the pace fast and the tension high enough, but several scenes on the island bored me and I started fact-checking your descriptions: half-molten ceramic vases in the wake of a lava stream? Nope, lava isn't hot enough to melt ceramic.

The palace intrigues devolve into a love triangle. The big plot twist at the end - I saw it coming from a hundred pages away. Both plotlines contain way too much "we should all be equal" rhetorics. You tell what you should be showing. Instead of making us readers think, you force-feed us your pre-chewed thoughts. And you had to force and twist Viridia's history and society pretty far to make it oppressive for women. You don't mention that men suffer just the same, a few nobles excepted: Women have to work in factories. So do the men, and they get the more dangerous tasks. Women can't choose their husband, they're bought. Men can't marry who they want, either, they have to buy their bride. If they can't afford the girl they love, they have to settle for a cheaper girl or stay alone.

Only the rich and powerful have a choice, as usual.

Yours sincerely
Christina Widmann

Grace and Fury by Tracy Banghart

Published in 2018 by Little, Brown and Company, New York.

ISBN: 9780316471411

Available on Amazon.co.uk.

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Published on September 30, 2019 03:26

September 28, 2019

Joana Osman: Am Boden des Himmels

RomanLiebe Autorin,

ein Engel kommt nach Palästina. Die einen halten ihn für ihren Retter, die anderen für einen Terroristen. Er selbst versteht nicht, was los ist. Und eine arabische Journalistin, die Geister sehen kann, muss den Engel aus dem Gefängnis holen.

Sie überraschen mit einem einfallsreichen Anfang. Ihnen glücken zwei, drei herausragende Szenen wie die, in der Malek verhaftet wird. Was Ihnen noch fehlt, ist ein Gespür fürs Erzähltempo. Die ersten Seiten von Am Boden des Himmels habe ich verschlungen. Dann aber wurde es zäh. In Gedanken zückte ich den Rotstift und strich Stellen an, die Sie hätten weglassen können, zum Beispiel die Seiten aus der Sicht von Chaim Levy. Da passiert nichts. Wir erfahren nur, wie der Mann denkt - und so wichtig ist er nicht, dass wir es wissen wollten.

Dror und Lior, Lior und Layla, Majed und Malek - die Namen ähneln sich. Wir Leser müssen uns anstrengen, sie auseinanderzuhalten. Im echten Leben heißen viele Leute ähnlich oder gleich. In jeder mittelgroßen Schule arbeiten zwei Lehrer namens Meier. Aber in Büchern können Sie es uns leichter machen und lauter verschiedene Namen wählen. Sie können die Menschen auch unterschiedlich sprechen lassen. Gut, die einen fluchen zwischendurch auf Arabisch, die anderen auf Hebräisch, aber wenn beides in lateinischer Schrift umschrieben ist, kann ich es nicht auseinanderhalten. Deshalb klingen Ihre Figuren alle gleich, Frau Osman, der alte Mann wie die junge Frau. Nur Omar der Gassenjunge hat eine eigene Stimme.

Sie wissen Ihre Schauplätze gut zu beschreiben. Wo man die Beschreibung hinschreibt und wie viel davon, das wissen Sie noch nicht. Ich wollte keinen Reiseführer lesen, sondern einen Roman.

Was erzählt man, was zeigt man - und wie zeigt man es? Sie tapsen ungelenk durch die Blickwinkel. In Jerusalem fallen Schüsse, fliegen Pflastersteine. Wie schlimm es war, wollen Sie uns zeigen, indem Sie einen Polizisten erschöpft nach Hause kommen lassen. Spannender hätten wir die Tumulte aus Omars Sicht erlebt.

An dieser Stelle ertappe ich micht dabei, dass ich auf kariertem Papier die Kästchen einrahme und ausmale, anstatt weiterzulesen. Ich gebe auf und blättere zum Ende. Die letzten beiden Szenen passen gut zum Anfang. Ein runder Schluss. Schade nur, dass zwischen Anfang und Schluss ein so zäher, unbeholfener Mittelteil liegt.

Sie haben zu früh debütiert, Frau Osman. Wir lesen uns in fünf Jahren wieder.

Hochachtungsvoll
Christina Widmann de Fran


Am Boden des Himmels: Roman von Joana Osman

erschienen im August 2019 bei Hoffmann und Campe im Imprint Atlantik.
Ich danke für ein Rezensionsexemplar.

ISBN: 978-3-455-00654-4

Erhältlich auf Amazon.de.

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Published on September 28, 2019 09:38

September 27, 2019

Sigrid Undset: Viga-Ljot und Vigdis

Lieber Leser,

Sigrid Undset starb vor 75 Jahren. Zur Feier der diesjährigen Frankfurter Buchmesse hat man einen Roman aus ihrem Frühwerk neu übersetzt: Viga-Ljot und Vigdis. In der Form und Sprache der alten Isländersagas erzählt Undset die Geschichte einer Hassliebe. Schlicht und lebendig entführt sie uns in die Zeit der Wikinger. Vorwort und Klappentext wollen das Buch als feministischen Roman verkaufen, aber lassen Sie sich nicht abschrecken. Der Schein trügt.

Zuerst lernen wir Ljot kennen: Tapfer und tüchtig, aber ein geltungssüchtiger Hitzkopf, verspielt er schnell die Sympathie der Leser. Vigdis dagegen mochte ich nicht, als ich ihr zum ersten Mal begegnete. Mit den Händen im Schoß sitzt sie da, während andere arbeiten. Sie behängt sich mit Gold und Geschmeide, wenn sie nur zum Beerenpflücken geht. Faul und eitel - das lobt der Vorwortschreiber als moderne Frau? Er muss ein schlechtes Bild von uns haben.

Ljot will einen Rivalen übertrumpfen und blamiert sich. Allein im Gegensatz zu ihm beginnen wir, Vigdis zu mögen. Es folgt die Szene, die beider Leben prägen wird: die Vergewaltigung. Monate später kommt Ljot noch einmal zu Vigdis und will sie überreden, mit ihm nach Island zu gehen. Sie sticht mit einem Messer nach ihm. Von da an verfolgen wir ihre getrennten Wege.

Vigdis hat ihre Schwangerschaft versteckt und das Kind ausgesetzt. Als sie erfährt, dass jemand den Jungen gerettet und aufgezogen hat, lässt sie ihren ungewollten Sohn nicht bei der liebevollen Pflegefamilie. Sie holt ihn zu sich, damit er sie später rächen wird. Nach dem Tod ihres Vaters erobert Vigdis sich den Hof zurück - hier sehen wir sie kurz, die starke Frau, die man uns im Klappentext versprochen hat.

Ljot hat unterdessen keine glückliche Stunde. Er sehnt sich nach Vigdis, bereut seine Tat. Auf Betreiben seiner Verwandten heiratet er eine andere. Diese Frau macht ihn sich zu einem guten Ehemann. Ljot wird friedfertig und großzügig. Wir verzeihen ihm. Vigdis kann das nicht. Sie lässt sich vom Hass zerfressen. Obwohl sie als angesehene, große Bäuerin lebt, hat sie menschlich keine Größe gelernt. Zwanzig Jahre nach ihrer letzten Begegnung kommt Ljot zu ihr und will Abbitte leisten. Sie aber verlangt von ihrem Sohn, den Vater, der ihm inzwischen das Leben gerettet hat, zu töten.

Sigrid Undset ist es posthum gelungen, den Feministen von heute eine Figur unterzujubeln, mit der sie sich zunächst werden identifizieren können. Dann aber lehrt uns die Geschichte von Vigdis, dass man auf Hass kein Leben gründen kann. Ein eindrucksvoller Roman, kurz und voller Kraft.

Hochachtungsvoll
Christina Widmann

Viga-Ljot und Vigdis von Sigrid Undset

Original: Fortellingen om Viga-Ljot og Vigdis, erschienen 1909 bei H. Aschehoug & Co.

Neu übersetzt von Gabriele Haefs für Hoffmann und Campe.
Ich danke für ein Rezensionsexemplar.

ISBN: 978-3-455-00612-4

Erhältlich auf Amazon.de.

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Published on September 27, 2019 00:05

September 25, 2019

Adelheid Ohlig: Luna-Yoga

Der sanfte Weg zu Fruchtbarkeit und Lebenskraft

Liebe Autorin,

wem dient Ihr Yoga-Buch, und wozu? Ein Anfänger wird nichts damit anfangen können. Entscheidend für Ihre Bewegungsreihen ist ein Tanz, den ich - so schreiben Sie - nicht aus dem Buch lernen kann, sondern bei einer Lehrerin erleben muss. Das Tanzkapitel im Buch dient nur als Gedächtnisstütze für die, die ihn schon beherrschen.

Wer in Ihren Kursen war, der wird nicht nur den Tanz schon können, sondern auch die Yoga-Haltungen, die Sie mit Zeichnungen und kurzen Erklärungen vorstellen. Er wird vielleicht wissen, welche Übung wozu dient: Welche unterstützen den Eisprung, welche die Menstruation? Oder ist das egal? Sie schreiben es nicht. Dieses Geheimwissen geben Sie nur von Angesicht zu Angesicht weiter, scheint es. Die Philosophie aus dem Vorwort wird jeder Ihrer Schüler schon kennen, und diese vielen Seiten vielleicht irgendwann zur Auffrischung durchlesen. Höchstens der Rezeptteil mit den Tees wird ihm nützen.

Mir nützt Ihr Luna-Yoga überhaupt nichts. Mit Menstruationsbeschwerden habe ich zur Zeit, dem Herrn sei Dank, nicht zu kämpfen. Ich hoffte, in Ihrem Buch einen Weg zu finden, wie man den ersten Eisprung nach einer Schwangerschaft hinauszögert, und damit die Wiederkehr der Regel. Wenn Sie den Zyklus zu beschleunigen wissen, müssten Sie ihn auch verlangsamen können, dachte ich. Und wenn Sie Übungen wissen, welche die Sexualität anregen, wissen Sie dann auch Übungen, die sie bremsen?

Hochachtungsvoll
Christina Widmann de Fran

Luna-Yoga: Der sanfte Weg zu Fruchtbarkeit und Lebenskraft von Adelheid Ohlig

als eBuch erschienen: 2012 beim Goldmann-Verlag
Ich danke für ein Rezensionsexemplar.

ISBN: 978-3-641-08899-6

Erhältlich auf Amazon.de.

Mehr von und über Adelheid Ohlig auf www.luna-yoga.com.

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Published on September 25, 2019 03:06

September 23, 2019

Mark Miodownik: Wunderstoffe

Zehn Materialien, die unsere Zivilisation ausmachen

Lieber Leser,

Glas und Stahl, Beton und Porzellan, Papier und Schokolade - Mark Miodownik erzählt, woher der Mensch sie hat. Staunend lesen wir, warum es das Kino erst seit dem Plastik geben konnte, und warum eine graue Bleistiftmine wertvoller sein kann als ein Diamant. Obwohl Miodownik als Materialforscher arbeitet, versteht man ihn wunderbar. Die wenigen Fachbegriffe, die er braucht, erklärt er gut.

Wahrscheinlich wollte er ein Kapitel über Schaumstoff schreiben, aber schnell schweift Miodownik ab zu einem Material, aus dem unsere Zivilisation noch nicht besteht, vielleicht jedoch bald bestehen könnte: Silikat-Aerogel. Noch ist er zu teuer herzustellen, aber dieser rauchdünne Feststoff ergäbe die perfekte Wärmedämmung für Häuser, einen unschlagbaren Stoßdämpfer und einiges mehr. Auch im Kapitel über Kohlenstoff erfahren wir von einer möglichen Zukunft: Tennisschläger aus Karbonfasern haben wir schon, aber Kohlenstoff-Nanoröhren könnten den Weltraumaufzug möglich machen.

Im Kapitel über Papier beschämt Mark Miodownik in zwei Nebensätzen manchen angeblich grünen Weltverschlimmbesserer: Eine Papiertüte kostet die Umwelt mehr als eine Plastiktüte, wenn man beide nur einmal benutzt. Einen Plastikbecher kann man wiederverwerten, einen Pappbecher kann man nur noch verbrennen oder in der Mülldeponie vergraben. Als Altpapier ist er nicht mehr zu gebrauchen wegen seiner Wachsbeschichtung, die verhindert, dass der Kaffee den Becher aufweicht. Der beste Becher ist aus Porzellan: Ihn kann man tausendmal verwenden und spülen, bis er bricht.

Zu einem bildlichen Schreibstil kommen Fotos, Skizzen und Schaubilder. Ein paar davon findet man bei Wikipedia wieder, andere hat Miodownik uns selbst gezeichnet. Das einzige, was mir in diesem Sachbuch noch fehlt, ist ein Quellenteil. Immerhin empfiehlt Mark Miodownik uns Bücher.

Hochachtungsvoll
Christina Widmann de Fran


Wunderstoffe: Zehn Materialien, die unsere Zivilisation ausmachen von Mark Miodownik

Originaltitel: Stuff Matters: The Strange Stories of the Marvellous Materials That Shape Our Man-Made World, erschienen 2014 bei Penguin.

Deutsche Übersetzung: Jürgen Neubauer für DVA.
Ich danke für ein Rezensionsexemplar.

ISBN: 978-3-421-04738-0

Leseprobe vom Verlag: hier klicken

Erhältlich auf Amazon.de.

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Published on September 23, 2019 09:55

September 22, 2019

Kjersti A. Skomsvold: Meine Gedanken stehen unter einem Baum und sehen in die Krone

​Lieber Leser,

nicht eigentlich einen Roman sondern ein Stück Autobiographie veröffentlichte Kjersti Annesdatter Skomsvold mit Barnet, das heißt: Das Kind. Der deutsche Titel Meine Gedanken stehen unter einem Baum und sehen in die Krone fängt die Stimmung vieler Stellen gut ein.

Die Autorin erzählt ihrer neugeborenen Tochter von der Entbindung, vom älteren Bruder, von der Beziehung zum Vater, von einem verstorbenen Freund. Mutterschaft scheint für sie vor allem Angst zu bedeuten. In einigen Passagen erkenne ich mich wieder, in anderen möchte ich Frau Skomsvold bei den Schultern fassen wie ein Kind und ihr sagen, dass sie endlich erwachsen werden muss. Aber darum scheint es zu gehen: Durch die Mutterschaft wird die Autorin erst groß. Trotz einiger Zeitsprünge sehen wir eine Frau sich entwickeln. Das Kind im Titel ist nicht die Neugeborene, sondern die Autorin, als sie zu schreiben beginnt.

Hochachtungsvoll
Christina Widmann de Fran

Meine Gedanken stehen unter einem Baum und sehen in die Krone: Roman von Kjersti Annesdatter Skomsvold

Original: Barnet, erschienen 2018 in Oslo.

Deutsche Übersetzung durch Ursel Allenstein, erschienen im September 2019 bei Hoffmann und Campe.
Ich danke für ein Rezensionsexemplar.

ISBN: 978-3-455-00610-0

Erhältlich auf Amazon.de.

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Published on September 22, 2019 10:24

September 21, 2019

Fabrizia Ramondino: Die Vögel des Narcís

Zehn Erzählungen
Lieber Leser,

eher Vignetten als Geschichten schrieb Fabrizia Ramondino: In lebendigen Bildern beschwört sie die Balearen der dreißiger Jahre herauf, das Italien der kleinen Leute, ein französisches Exil. Ihre Hauptfiguren sind Kinder, verschrobene Gelehrte, für verrückt gehaltene Ehefrauen. Mit ihnen schauen wir dem Leben in den Häusern zu: was man kauft, was man sich schenkt. Ganz am Ende der Erzählung geschieht dann etwas, ändert sich etwas, ins Stilleben kommt eine Handlung. So fühlen sich einzelne Texte an wie drei Stunden Overtüre für eine halbstündige Oper. Trotzdem lädt Fabrizia Ramondinos Ton zum Weiterlesen ein. Sie hat mehrere Romane geschrieben. Ich setze sie auf die Merkliste.

Hochachtungsvoll
Christina Widmann de Fran

Die Vögel des Narcís: Zehn Erzählungen von Fabrizia Ramondino

Original: Storie di Patio, erschienen 1983 in Turin

Deutsche Übersetzung: Maja Pflug für den Arche Verlag.

ISBN: 3716020575

Erhältlich auf Amazon.de.

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Published on September 21, 2019 08:10

September 19, 2019

Hendrik Otremba: Kachelbads Erbe

RomanLieber Autor,

Lee Won-Hong und Herr Kachelbad betreiben in den USA eines der beiden ersten Institute für Kryonik: Sie frieren Verstorbene ein in der Hoffnung, dass man sie einst wird auftauen und wiederbeleben können. Mit der ersten Hauptfigur Rosary erkunden wir das Unternehmen. Mehr passiert noch nicht. Sie betrachten viel, Herr Otremba, lassen Ihre Hauptfigur Gedanken an Gedanken reihen in langen Sätzen, die dennoch abgehackt klingen, weil Sie oft das Verb auslassen. Manch einer dieser Sätze wiederholt und vertieft nur den vorherigen.

Rosary erzählt ihre Geschichte als Rückblick. Dazwischen erleben wir kleine Stückchen ihrer Gegenwart, zum Beispiel, wie sie Kartoffeln mit Gemüse kocht. Zutat für Zutat müssen wir das Rezept mitlesen. Dazwischen denkt Rosary weiter. Sie träumt auch viel, diese Hauptfigur.

Ich wünschte, Sie hätten all die Gedanken eingebunden in eine Handlung, Herr Otremba. Ich wünschte, Sie brächten mich zum Nachdenken, anstatt mir alles fertig vorzuschreiben. Ich wünschte, Sie erzählten mir eine Geschichte, anstatt nur über Tod und Unsichtbarkeit zu philosophieren. Ich wünschte, Sie gäben mir einen Grund, weiterzulesen.

"Nur noch ein paar Seiten, dann habe ich alles aufgeschrieben", verspricht die Hauptfigur. Ich beschließe, noch bei ihr zu bleiben: Was kommt nach ihrer Zeit als Leichenkühlerin? Nichts mehr, wie sich herausstellt. Wir sollen Rosary nur noch in ein, zwei Nebensätzen begegnen. Sie ist gar nicht die Hauptfigur, obwohl es ein Viertel des Buches lang so aussieht.

Lee Won-Hong, der Inhaber des Kryonik-Unternehmens, neigt zu pathetischen Monologen, schreibt Rosary über ihn. Ich dagegen kann Won-Hongs langatmige Reden nicht unterscheiden von Rosarys eigenen. Die angekündigten paar Seiten ziehen sich. Endlich endet der erste Teil.

Sie beginnen die Geschichte eines der Eingefrorenen. Er hat zwei Geschwister, schreiben Sie, "deren tragische Wege hier nachzuzeichnen wohl den Rahmen der kurzen Lebensskizze sprengen würde." Ich muss lachen. Sie ist tatsächlich kurz, diese Lebensbeschreibung - für Ihre Verhältnisse. Aber hin und wieder verfallen Sie in Bandwurmsätze oder wiederholen einen Satz im nächsten. Ausrufezeichen schleichen sich ein. Die nächsten Lebensgeschichten überblättere ich: Kommt da noch etwas?

Es kommt ein neuer Abschnitt. Diesmal verfolgen wir Kachelbad, die eigentliche Hauptfigur, nicht mehr durch die Augen von Rosary sondern duch die eines namenlosen Erzählers. Wieder bringen Sie langatmige Gedanken und Vergleiche, gelegentlich unterbrochen von einer schlaffen Handlung. Der Tiefkühlfirma geht das Geld aus. Werden die Toten auftauen und verwesen? Zum ersten Mal haben Ihre Figuren eine Aufgabe zu lösen, in der Mitte des Buches. Ein bisschen spannend wird es jetzt. Kachelbad gewinnt einen Feind. Aber der Kampf ist bald vorbei. Kachelbad träumt viele Seiten lang. Sie lösen sein Geldproblem mit Science Fiction. In einem Buch, das bisher in den echten 1980er Jahren spielte, liest sich das wie geschummelt. Genauso geschummelt wie die Katastrophe, die folgt, damit noch etwas passiert, und das Ende.

Kachelbads Erbe hat einen vierten Abschnitt: Tagebucheinträge eines schwulen Prostituierten, zuerst lückenhaft und zusammenhangslos, eine Reihe von Namen. Dann lernt er Kachelbad kennen. Wir erfahren, wie der alte Mann zur Kryonik kam. Eine Liebesgeschichte, ein Aidstoter.

Ein fünfter Abschnitt, dieser experimentell: Ein Schreiber und seine Leserin wechseln sich mit ihren Gedanken ab zwischen den Zeilen eines Gedichts.

Epilog: Kachelbad wohnt in seinem Transporter. Was aus ihm geworden ist, schreiben Sie, wissen Sie selber nicht.

Sie hätten zuerst einen Essay über Kryonik schreiben sollen, Herr Otremba, und einen zweiten über die Unsichtbarkeit. Dann wären die Gedanken aus dem Weg gewesen und Sie hätten einen Roman schreiben können statt dieser vierhundertseitigen philosophischen Abhandlung. Vielleicht hätten Sie gemerkt, dass Rosary in diesem Buch nichts zu suchen hat. Was Kryonik ist, hätten Sie in einem einzigen Absatz erklären können. Die ganze Geschichte passiert im dritten Abschnitt: Kachelbad kämpft um das Überdauern der gefrorenen Leichen. Hier treffen Menschen und Pläne aufeinander. Hier gibt es ein Problem zu lösen. Der Rest des Buches ist Füllmaterial.

Hochachtungsvoll
Christina Widmann de Fran

Kachelbads Erbe: Roman von Hendrik Otremba

erschienen: 2019 bei Hoffmann und Campe, Hamburg.
Ich danke für ein Rezensionsexemplar.

ISBN: 978-3-455-00618-6

Erhältlich auf Amazon.de.

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Published on September 19, 2019 04:39

September 16, 2019

Andrzej Szczypiorksi: Die schöne Frau Seidenman

Roman

Lieber Leser,

Irma Seidenman, Witwe eines jüdischen Arztes, lebt unter falschem Namen im arischen Teil von Warschau, bis ein alter Bekannter sie auf der Straße sieht und an die Gestapo ausliefert. Wie es weitergeht, verrät Szczypiorski schnell. Dennoch verfolgen wir mit Spannung, wie Nachbarn und Freunde die schöne Frau Seidenman aus der Zelle holen.

Weitere Juden lernen wir kennen, weitere Polen und ein paar Deutsche. Der Autor springt oft Jahrzehnte weit in die Zukunft und erzählt uns, was aus seinen Figuren einmal wurde: eine Leiche unter den Trümmern von Warschau, eine Mutter im neu gegründeten Israel, ein Baumfäller im russischen Gulag. Szczypiorski hält etwas Abstand von seinen Figuren. Man lauscht ihm gerne, diesem Erzähler, wie er abschweift und doch mühelos den Faden wieder aufnimmt.

Andrzej Szczypiorski versteht es, seinen Holocaust-Roman zeitlos zu machen. Auf der einen Seite erzählt er, wie es immer schon gewesen ist zwischen Siegern und Besiegten, auf der nächsten zeigt er uns, dass trotzdem jeder Mensch seine Entscheidungen selber trifft.

Hochachtungsvoll
Christina Widmann de Fran

Die schöne Frau Seidenman: Roman von Andrzej Szczypiorski

Original: Początek, erschienen 1986 in Paris

Deutsche Übersetzung: Klaus Staemmler für den Diogenes-Verlag, 1988

ISBN: 978-3-257-21945-6

Erhältlich auf Amazon.de.

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Published on September 16, 2019 06:30