Maximilian Buddenbohm's Blog, page 411
August 3, 2012
Gelesen – Mircea Eliade: Auf der Mântuleasa-Straße
Wenn ich mich recht erinnere, wurde es mir von Little Jamie empfohlen, aber das ist schon eine Weile her. Ein Buch über das Erzählen, über eine Diktatur, über die Neugier des Menschen und auch über seine berechenbare Dummheit. Auch ein Buch über Angst und das umfassende Grauen, das in totalitären Gesellschaften den Alltag mitbestimmt – das Buch spielt im kommunistischen Rumänien.
Ein alter Mann wird von der Geheimpolizei verhaftet, weil er jemandem etwas erzählt hat, es ist eigentlich ganz gleich, worum es dabei ging. Ein Gespräch im Sinne von sind Sie nicht der, der jene kannten, die damals und haben Sie nicht? Waren Sie nicht? So ein Dialog war das. Nur in Andeutungen. Aber die Andeutungen, die man natürlich auch als Geschichtsanfänge lesen kann, sie reichen, um den Apparat des Staates zu aktivieren. Verhör folgt auf Verhör, immer mehr wollen die Allmächtigen wissen. Und immer mehr erzählt der alte Mann. Kommt nie an einen Punkt, fängt immer wieder von vorne und noch früher, noch viel, viel früher an, weil doch alle Geschichten nicht verständlich sind, wenn man nicht weiß, was alles zu ihnen beigetragen hat. Beschreibt die Väter der Figuren, die Vorfahren, die Familiengeschichten, landet in vergangenen Jahrhunderten, wird mystisch und dann wieder alltäglich. „Was war mit X.?“ fragen die Beamten, und zuverlässig antwortet der alte Mann: „Das erzähle ich gleich. Aber erst müssen Sie wissen, dass drei Jahre zuvor…“ Und die Beamten hören zu, denn der alte Mann erzählt gut und in jedem neuen Absatz könnte etwas kommen, das auch noch zu beachten wäre, um alles zu verstehen.
Der Staat lässt all die Geschichten prüfen, immer mehr Menschen werden neugierig, wittern Verschwörungen und Verrat, ahnen Doppeldeutigkeiten und versteckte Botschaften. Agenten fragen nach, laufen herum und forschen, vergleichen Geschichtsversionen – und der alte Mann erzählt immer weiter, immer weiter. Weil es immer noch etwas Wichtiges vorher gab, und davor wohl auch noch etwas, und weil alle paar Sätze ein weiterer Mensch auftaucht, den man doch nicht einfach weglassen kann – und der auch seine Geschichte hat, und ohne all das ist die Gegenwart schließlich gar nicht zu verstehen. Sagt der alte Mann.
Also auch ein Buch über das Schreiben. Und was für eines. Wer meint, nichts zu erzählen zu haben, der lese einmal in dieses Buch hinein, es ist ein Buch, das Schreibfreude wecken kann.
Hinterher vielleicht noch einen Blick in das andere, von mir sehr geliebte Buch über das Schreiben werfen: „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ von Italo Calvino. Ein Buch, das nur aus Romananfängen besteht, ungeheuer kunstvoll verkettet, eine wahre Hymne an die Kreativität. Wer selbst schreibt und dieses Buch nicht kennt, der hat vermutlich etwas verpasst.
Beide Bücher laufen, neben den politischen Deutungsmöglichkeiten, auch darauf hinaus, dass derjenige, der etwas erzählen möchte, vor allem Lust am Erzählen haben sollte. So eine simple Voraussetzung. So eine schlichte und goldene Regel, deren Einhaltung uns etwa 75% der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur des letzten Jahrhunderts erspart hätte.
July 30, 2012
July 28, 2012
Für eine Handvoll Mais
Sohn II kramt in Opas Werkstatt, einem der besten Plätze auf der Welt, denn hier darf er ganz allein mit dem großen Werkzeugsortiment machen, was immer möchte. Wir gehen nur nachsehen, wenn er nach Fehlgriffen sehr laut schreit, ansonsten baut er vor sich hin, sägt, hämmert, nagelt, bohrt, es ist eine Art Paradies für ihn. Schließlich kommt er wieder heraus, spinnwebbedeckt und sehr dreckig, er hat lange in allen Ecken und Kisten nach etwas gesucht und es endlich gefunden. Die Spielzeugkettensäge, die so infernalische Geräusche von sich gibt und deswegen regelmäßig von irgendeinem entnervten Erwachsenen im hintersten Winkel versteckt wird. Das beste Spielzeug überhaupt. Sohn II geht über den Hof, breitbeinig, entschlossen, man sieht gleich, dass ein Heldenauftritt unmittelbar bevorsteht.
In die untergehende Sonne geht er, und die Kettensäge schleift dabei ein wenig über den Boden und wirbelt Staub auf. Unwillkürlich denkt man an Django und hat sofort den entsprechenden Soundtrack aus Italo-Western im Kopf. Sohn II ist barfuß, aber seine Füße sind so schwarz, dass man auf den ersten Blick meinen könnte, er hätte Schuhe an. Er schiebt die Schirmmütze höher in die Stirn und bleibt dann vor dem Maisfeld stehen. Fasst die Kettensäge fester, stemmt die andere Hand in die Hüfte, besinnt sich etwas vor der Front. Der Mais ist ungefähr dreimal so hoch wie er, er wirft einen beeindruckenden tiefschwarzen Schatten vor dem Sonnenuntergang. Eine gewaltige Maisarmee, endlose Reihenstehen da stramm. Sohn II legt den Kopf in den Nacken und guckt an den Stangen nach oben, die sind wirklich verdammt hoch. Er guckt nach links und nach rechts am Acker entlang, das Maisfeld ist riesig, kein Ende zu sehen. Wenn er es zu Fuß umrunden wollte, er wäre vermutlich stundenlang unterwegs. Tausende und Abertausende von Stangen, alle schon dick wie seine Arme, dicht an dicht.
Sohn II zieht sich die Ärmel hoch, und dreht sich langsam zu den Erwachsenen um, die ganz da hinten auf dem Hof sitzen und ihm aus der Ferne zusehen. Er winkt lässig, drückt den Knopf, mit dem der Spielzeugkettensägenlärm beginnt und brüllt laut über das Rattern hinweg:
„Ich fang hier vorne an!“
July 27, 2012
Tippeditipp
July 26, 2012
Verhandlungssache
Normalerweise ist es nicht gerade schwer, ein dreijähriges Kind ein wenig zu manipulieren. Ein verlockendes Ziel hier, ein eher unangenehmes Szenario da, schon pegelt sich das Kind in der gewünschten Richtung ein, ganz ohne Streit und wirklich finstere Tricks. Das klappt fast immer, denn Kinder haben riesige Wünsche und große Ängste, daher gehen fast alle Eltern mehr oder weniger bewusst bei etlichen Themen so vor, besonders wenn es um wichtigere Wendepunkte im Leben der Kinder geht. Etwa um das endgültige Abgeben des Schnullers.
Ist der Schnuller weg, dann kommt die Schnullerfee und bringt ein Geschenk. Ich weiß gar nicht, wo diese seltsame Tradition herkommt, in meiner Kindheit gab es das jedenfalls nicht, soweit ich mich erinnere. Ich habe von der Dame jedenfalls noch nie etwas gehört, bevor ich eigene Kinder hatte. Die Zahnfee, ja, die war mir bekannt, die Schnullerfee musste ich mir erst erklären lassen. Wobei es nicht sehr viel zu erklären gibt, denn keiner hat sie je gesehen. Aussehen, Wohnsitz, Abstammung – keine Ahnung. Sie kommt nachts und bringt ein Geschenk, fertig. Wie sie das anstellt, woher sie weiß, wo sie hinmuss, ob sie Vorgesetzte hat oder Hilfskräfte – alles rätselhaft. Die Schnullerfee, das unerforschte Wesen. Auch die Wikipedia weiß wenig zu dem Thema, sie kennt nur Schnullerbäume, die aus Dänemark stammen. Da hängt das Kleinkind dann tapfer seinen Schnuller dran. Und da der Baum auf einer Wiese steht, wird es dabei noch an die Natur herangeführt, das steht auch so in der Wikipedia, ganz im Ernst. Was wieder beweist, dass man da den größten Unsinn ungestraft hineintexten kann. Und da steht übrigens noch, dass sowohl beim Schnullerbaum als auch bei der Schnullerfee die Freiwilligkeit der Abgabe im Vordergrund steht, was natürlich ebenfalls barer Unsinn ist. Kein Kleinkind gibt seinen Schnuller freiwillig ab, sondern nur der Not gehorchend. In der Regel entsteht diese Not, weil der Wunsch, den die Schnullerfee zu erfüllen vermag, irgendwann größer wird als die Notwendigkeit, den Schnuller noch zu behalten. Kinder können an Wünschen leiden wie an realen Krankheiten oder an Hunger und Durst, der Druck, der durch einen erfüllbaren Wunsch ausgelöst wird, ist wirklich enorm. Der Tausch Schnuller gegen Geschenk geht meist nicht ohne Tränen über die Bühne und entspricht daher nicht exakt meiner Definition von Freiwilligkeit, aber egal. Darum geht es nicht.
Normalerweise, um auf den Anfang zurückzukommen, ist es jedenfalls nicht schwer, ein dreijähriges Kind ein wenig wohlmeinend zu manipulieren. Es sei denn, es hat ein Ego wie Sohn II.
Ihm ist die Schnullerfee schon eine ganze Weile bekannt, nur hat er bisher ungewöhnlich verhalten auf ihr verlockend simples Angebot reagiert. Sein erster Verhandlungsansatz war dann, nach sehr langem Nachdenken, dass sie seinen Schnuller sehr wohl haben könne – wenn sie ihm denn einen neuen bringen würde. Und zwar einen mit Kette dran, damit er danach nicht etwa noch einmal abhandenkommen kann. Ein intelligenter Vorschlag, keine Frage. Wir haben das eine Weile auf sich beruhen lassen, früher oder später hat nämlich jedes Kind einen wirklich großen Wunsch. Nur ab und zu haben wir nachgefragt, wie nebenbei, abends am Bettrand.
Der zweite Verhandlungsansatz von Sohn II war schließlich „Ich nehme dann die Schnullerfee.“ Einer der Momente, in denen ich nicht unerheblichen Respekt vor dem eigenen Nachwuchs empfand.
Der dritte Wunsch war ähnlich trickreich durchdacht: „Dann will ich schwimmen können. Sofort.“ Denn Sohn II ist kein Freund des Wassers, aber sein großer Bruder kann schon schwimmen und tauchen, das wurmt ihn sehr. Und wenn die Schnullerfee etwas draufhat, dann muss ja so etwas auch gehen, hm? Es wird doch nicht nur um auspackbare Geschenke gehen? Andere Wünsche gehen doch sicher auch? Gehen nicht? Ach. Kann wohl doch nicht so viel, die Dame. Plöde Fee. Ja, mit P vorne, das muss so, bei ihm.
Neulich sah Sohn II dann endlich auf dem Spielplatz einen Bagger, den er gerne haben möchte. Es ist gar nicht einfach, ihn bei einem Wunsch zu erwischen, denn durch den großen Bruder ist alles Wichtige immer schon da. Aber dieser Bagger! Der wäre was. Groß, gelb, sehr echt aussehend. Mit Bauarbeiter dabei. Die vierte Verhandlungsrunde schien endlich einfacher auszufallen zu können.
Und Sohn II lag im Bett, den Schnuller in der Hand und dachte verbissen nach. Lange. Ich saß an der Bettkante und habe das Modell Schnullerfee noch einmal ausführlich und anschaulich erklärt und er hörte sehr ernst zu. Dann steckte er schließlich grinsend den Schnuller in den Mund und streckte sich gähnend. Ich sah ihn verblüfft an. Er nahm den Schnuller noch einmal heraus und erklärte mir feierlich das Ergebnis seiner ausführlichen Grübeleien:
„Ich warte lieber auf den Weihnachtsmann. Für den muss man nichts machen.“
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July 25, 2012
Sommer an der Alster – goldene Wellen
July 23, 2012
Hamburg, Fleetinsel
Gelesen – Walter Kempowski: Heile Welt
Tja. Schwer zu sagen. Einerseits: Großartiges Buch über die Welt der Lehrer in den Sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Kempowski kannte sich da aus, er war selber Dorfschullehrer, und das zumindest in den Anfangsjahren mit einiger Überzeugung. Was er in diesem Buch beschreibt, den seltsamen Berufsanfang eines nicht mehr ganz jungen Mannes, der als Lehrer, Schulmeister möchte man fast eher sagen, in ein kleines Dorf in Norddeutschland kommt und ohne viel Vorbereitung plötzlich Unterricht aus dem Hut zaubern soll, das ist glänzender Geschichtsunterricht. Der Lehrer bezieht das Schulhaus in einem Dorf, in dem jeder jeden kennt, in dem jeder ihn mit dem vorigen, schwer versoffenen Lehrer vergleicht, in dem sich jeder fragt, wie sich dieser unbeweibte junge Mann denn in dieser Umgebung wohl jemals zu einer Frau verhelfen wird. Kein Schritt unbeobachtet, kein Gespräch ohne Zuhörer, kein Treffen ohne Mitwisser. Die Dorfatmosphäre ist amüsant und genau beschrieben, die beruflichen Umstände mit einiger Sicherheit wahrer, als einem aus heutiger Sicht lieb sein kann. Ich bin selbst Kind dieses Jahrzehnts, ich kenne diese seltsamen Typen noch, die damals an Grundschulen Dienst schoben, das kommt mir alles sehr treffend vor. Schon für die Schulbeschreibungen lohnt sich das Buch allemal. Sicher ganz besonders für Menschen meines Alters, aber auch Jüngere dürften vielleicht Interesse an der Beschreibung eines Schulalltags haben, in dem der Lehrer noch Schläge austeilte, weil die Eltern es von ihm erwarteten. Das ist keine hundert Jahre her, das fühlt sich nur so an. Ein Schulalltag, in dem man mit den Kollegen über die Erinnerungen an Nazizeit redete, den Typen aus dem Weg ging, die bei der SS waren und Mühe hatte, das Völkische endlich ganz aus dem Lehrplan verschwinden zu lassen. Und in dem man bei den Bundesjugendspielen heimlich große Mengen Schnaps tankte, im stillen Einvernehmen mit dem pegeltrinkenden Kollegium. Es steht keine Silbe über die Achtundsechziger in dem Buch, aber das revolutionäre Geschehen in den großen Städten erklärt sich eben auch aus solchen Werken über die stehengebliebene Zeit in den Dörfern. Und nicht einmal schlecht.
Andererseits: Ich habe lange kein Buch mehr gelesen, in dem ich über so viele Deutschfehler gestolpert bin. Oder sagen wir nicht Fehler, sagen wir seltsame Konstruktionen. Denn die Zeitenfolge zum Beispiel, die bei Kempowski in der indirekten Rede möglich ist, die liest sich schon sehr seltsam. Ich bin weiß Gott kein Grammatikprofi, aber hier hätte sogar ich zum Rotstift gegriffen, und zwar an -zig Stellen. Auch sonst wirkt das Buch ein wenig so, als hätte es niemand Korrektur gelesen, da sind ein paar Wechsel in der Erzählperspektive, die einen etwas ratlos zurücklassen, ein paar inhaltliche Schwächen, seltsame Zusammenhänge, schwache Wendungen – ganz eigenartig. Und dass Kempowski in geradezu peinlich wichtigtuerischer Art seine literarische Spiegelfigur Alexander Sowtschik mysteriös auftreten lässt, ohne sie jemals zum Zug kommen zu lassen, nur einfach so, als bewunderten und geheimnisvollen Schriftsteller, der da irgendwo im Dorf wohnt, Du meine Güte. Wer seine Tagebücher kennt, der weiß, wie eitel der Herr war, es ist aber auch in den Romanen nicht zu überlesen.
Dennoch gerne gelesen, unterm Strich.
Und übrigens lange nachgedacht über das höchst bemerkenswerte Wort „Begattungsbelastungen“. Es wird in dem Buch verwandt im Zusammenhang mit einer sehr dünnen Frau. Man (also Mann) fragt sich, ob sie mit der knöchernen Figur den Begattungsbelastungen einer Ehe überhaupt standhalten wird. Das war also zu einer Zeit, bevor die ganze Welt halbverhungerte Models angebetet hat, als an einer Frau noch etwas dran sein musste und das Magere verdächtig war, nach Hunger aussah und nach unerfreulichen Erinnerungen. Und zu einer Zeit, versteht sich, in der man bei Sex noch nicht an einvernehmlich dachte.
Lange nachgedacht, wie gesagt, über die Verwendung des Begriffs, aber auch über die Frage, wie ich das Wort bei Gelegenheit in den aktiven Sprachgebrauch übernehmen kann. Leider noch keine Lösung gefunden.
Aber irgendwie ist es doch schade um den großartigen Begriff. „Begattungsbelastungen.“ Schon schön, nicht wahr.
Stimmungsbild
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