Maximilian Buddenbohm's Blog, page 286
March 30, 2016
Usedom-Bemerknisse (4)
In Heringsdorf gibt es Strand, Sandstrand genau genommen. Hier und da ein paar Steine, Muscheln, Tang, Wellen, Meer, eine Seebrücke. Wie Strand an der Ostsee eben so ist. Nicht zu breit, nicht zu schmal, ein Strand eben, ein schöner sogar.
Im benachbarten Ahlbeck gibt es auch Strand. Der erfüllt genau die gleichen Kriterien. Noch ein Strand eben. Auch schön.
Die Söhne haben an diesen beiden Stränden gespielt, sie haben dort also Löcher und Burgen gebuddelt und gebaut und interessante Steine gesammelt oder uninteressante Steine ins Wasser geworfen und Möwen beobachtet und sich von den Wellen jagen lassen und sich nasse Füße geholt usw., was man eben am Meer so macht, wenn man sechs oder acht Jahre alt ist. Sie haben an beiden Stränden in der gleichen Weise gespielt, es lagen nur ein paar Stunden dazwischen.
Wenn man die Söhne nun fragt, welcher Strand der bessere war, sagen beide unisono und sofort und sehr überzeugt: “Ahlbeck!”
Warum ist das so? Das ist so, weil in Ahlbeck die Sonne herauskam, als sie gerade über den Strand rannten, dadurch war es dort ein paar Grad wärmer als in Heringsdorf. Es war plötzlich Es-geht-auch-ohne-Jacke-Wetter. Dadurch war Ahlbeck total super und Heringsdorf, das bis dahin auch total super war, fiel dann doch etwas ab. Ich habe das den Söhnen erklärt, was da in ihren Köpfen passierte, ich war aber vollkommen chancenlos. Sie haben ihre Wahrnehmung sofort rationalisiert und kamen mir mit Argumenten wie der Sandqualität, schöneren Steinen, besserem Wellengang, mehr Fischen in Ahlbeck, mehr Möwen und so weiter. Es schien ihnen nicht möglich, dass ihre klaren Präferenzen einfach nur an vier Grad Lufttemperatur mehr und ein paar freundlichen Sonnenstrahlen und einfach guter Stimmung liegen konnten. Der Strand war nicht gefühlt besser, der Strand war an sich besser, das war quasi Ehrensache.
Würde man die Söhne jetzt entscheiden lassen, ob wir das nächste Mal nach Heringsdorf oder nach Ahlbeck fahren, sie würden ganz sicher Ahlbeck wählen. Das kann man sich ja spaßeshalber einmal vorstellen, dass wir sie entscheiden lassen würden, so etwas macht man manchmal. Und dann würden wir das Mal darauf vermutlich auch wieder nach Ahlbeck fahren, weil es dann ja schon Tradition geworden wäre dahin zu fahren und weil wir hier alle Traditionen mögen und sicher auch schon wüssten, wo es dort z.B. die besten Fischbrötchen gibt. Und beim vierten Mal würden wir da nicht nur die guten Restaurants und Supermärkte und Kioske kennen, nein, wir würden auch schon jemanden kennengelernt haben, Einheimische mit Kindern vielleicht, mit denen die Söhne beim fünften Mal dann natürlich auch wieder spielen würden. Und das könnten dann durchaus dicke Freunde werden und womöglich auch bleiben. Die vier Kinder würden sich alle Ferien wieder treffen und eine in Teilen gemeinsame Jugend verbringen, so dass die Söhne die Zeit in Mecklenburg irgendwann ziemlich super finden würden. Und sie würden vielleicht später, nach der Schulzeit, in dieser tollen Gegend dort einen Beruf erlernen, warum auch nicht, irgendwas mit Küstenschutz oder so, das könnten sie schon seit Strandbuddelzeiten im Sinn gehabt haben. Und dann würden sie hinterher noch für ein Jahr ins Ausland gehen, um an andere Küsten mehr zu lernen, wo sie dann weitere Menschen kennenlernen könnten, die sie sonst natürlich niemals getroffen hätten, und dann wäre einmal auch die große Liebe dabei, na, wie es eben so geht, das ist ja alles möglich und gar nicht abwegig, so läuft es doch im Leben. Und so würde es dann jedenfalls laufen, weil die Sonne kurz rauskam. Damals in Ahlbeck.
Wir halten hier dennoch fest: Der Strand in Heringsdorf ist genau so schön.
In der nächsten Folge: Ein für Nichteltern garantiert vollkommen sinnfreier Tipp für Ahlbeck.
March 29, 2016
Gelesen: Clara Sánchez – Letzte Notizen aus dem Paradies
Aus dem Spanischen von Lisa Grüneisen.
Wieder ein Coming of age-Roman, diesmal spielt die Handlung in einer spanischen Vorstadt. Endlich mal etwas anderes, Vorstädte sind ja sonst geradezu zwingend in den USA. Die männliche Hauptfigur jobbt in einer Videothek, da wird einem schon wieder ganz nostalgisch zumute. Videotheken sind auch so etwas, das man dem Nachwuchs kaum noch erklären kann, ohne leicht irre zu wirken. Sie sind also damals in einen Laden gegangen, um sich einzelne Filme gegen Bargeld auszuleihen, is’ klar.
Das Buch hat im spanischen Sprachraum reihenweise Preise abgeräumt, ich habe es leider sehr zerstückelt gelesen, konnte es daher nicht recht würdigen und habe das Ende nicht verstanden. Da war auf den letzten Seiten irgendein Dreh, wenn Sie das Buch auch lesen sollten, schalten Sie da bitte einen Gang runter, dann klappt das sicher auch. Aber die Liebesgeschichten waren schön, die Figuren interessant, was will man mehr. Ich finde Szenen und Stimmungen eh wichtiger als Handlung, Handlung wird total überschätzt, was natürlich jeder gerne komplett anders sehen darf. Hier noch eine Rezension, die Begeisterung hält sich dort deutlich in Grenzen.
Für sportlich orientierte Menschen: Es gibt reichlich Jogging-Szenen im Buch, manche Menschen lesen doch so gerne etwas über ihre obskuren Freizeitbeschäftigungen in der Literatur nach. Und hätte ich den Roman am Stück gelesen, er hätte mir vielleicht ganz gut gefallen.
Ein von maximilian buddenbohm (@buddenbohm) gepostetes Foto am 14. Feb 2016 um 1:29 Uhr
Usedom-Bemerknisse (3)
Am Abend hatte ich dann eine sehr angenehme Lesung in der Villa Dorothea, wobei ich zum ersten Mal überhaupt in Anwesenheit beider Söhne gelesen habe. Und Sohn II hat es sich tatsächlich nicht nehmen lassen, bei einer seiner Erwähnungen kurz neben mich und somit auch vors Publikum zu treten, mit solchen Effekten rechnet man als Verfasser von Familientexten auch nicht gerade, das war aber sehr nett.
Nach der Lesung gab es selbstgemachten Eierlikör, den Schüler aus der Nähe hergestellt hatten, ich möchte einmal annehmen, es war eine Berufschule. Ganz außerordentlich köstlicher Eierlikör war das jedenfalls, und zu dem Stichwort kann man Jüngeren by the way noch etwas erklären, was heute vermutlich gar nicht mehr allgemein bekannt ist. Mit Eierlikör nämlich wurden Menschen meiner Generation noch planmäßig und reihenweise in sehr jungen Jahren an den Alkohol herangeführt. Denn ab etwa zwölf Jahren konnte man so langsam schon mal wenigstens ein Gläschen – oder auch zwei? Schmeckt doch so nett, hm? Denn auch das Trinken musste irgendwie gelernt werden und allmählich war man ja wirklich alt genug und auch schon so groß, aber das Bier war doch noch zu bitter. Das sind Erinnerungen, die heute seltsam und exotisch klingen … aber gut, das mit dem Eierlikör spielte auch zu einer Zeit, als es in den Lübecker Stadtbussen noch Aschenbecher neben jedem Platz gab. Es war eine andere Welt.
Für die nächste meiner Lesungen habe ich nach diesem denkwürdigen Abend jedenfalls gleich Honorar, Spesen und Eierlikör vereinbart, man lernt so aus seinen Erfahrungen. Sollten Sie am 23.10. tagsüber in Stuttgart sein, wir könnten dort anstoßen – es soll keiner behaupten, ich hätte nicht rechtzeitig Bescheid gesagt.
Zu der Villa-Dorothea sei noch eben angemerkt, dass es ein zugehöriges Haus Hedwig gibt, in dem man als schreibender Mensch in der Vor- und Nachsaison zu wirklich interessanten Preisen in Klausur gehen kann, z.B. zwei Wochen 300.-, da kann man nicht meckern, nicht wahr. Wohl aber kann man in Ruhe schreiben, vermute ich stark. Es gibt in dem Haus nämlich diese verglasten Balkone, für die es sicher irgendeinen Fachausdruck aus der Bäderarchitektur gibt, auf den ich allerdings gerade nicht komme. Diese sehr hellen, hohen, wintergartenmäßig verglasten und manchmal sogar beheizten Altbaubalkone jedenfalls, auf der weiter oben verlinkten Seite sieht man das Haus übrigens auf dem dritten Bild von rechts in der oberen Reihe. Da sitzt man wirklich gut, wenn man in Ruhe schreiben möchte.
Man hat außerdem eine bemerkenswert nette Gastgeberin, man ist in drei Minuten am Meer, man kann zu Fuß zum nächsten Edeka, man hat eine kleine Küche für die bescheidene Kost der Schreiberlinge, man kann mit dem Rad mal eben nach Ahlbeck oder Bansin oder rüber nach Polen, um auf andere Gedanken zu kommen, ich fand das alles recht anziehend. Man kann natürlich auch ein paar Meter weiter den schönen familiären Gedenkort Buchen-Eck aufsuchen.
Warum übrigens die Söhne dieses Ahlbeck deutlich besser als Heringsdorf fanden und damit aber gar nicht richtig liegen, sondern sich von komplett irrationalen Fehldeutungen natürlicher Ereignisse haben leiten lassen, dazu in Kürze mehr.
March 28, 2016
Usedom-Bemerknisse (2)
Wir hatten also, wo war ich denn bei dieser Reise überhaupt stehengeblieben, noch etwa eine Stunde Zeit vor meiner Lesung in Heringsdorf und gingen strandwärts um etwas zu essen, denn strandwärts ist in allen Küstenorten prinzipiell erst einmal richtig. Dort sollte es irgendwo direkt an der Ostsee einen brauchbaren Imbiss geben, hatten wir gehört. Der Imbiss hatte aber zu, geschlossene Fensterläden und zusammengestapelte Plastikstühle, wie es in der Vorsaison an der Küste eben so ist, und zwar an jeder Küste, vermutlich weltweit. Wir wanderten also planlos herum, von geschlossenem Restaurant zu geschlossenem Imbiss und geschlossener Bar und so weiter, Bewohner von Ferienregionen kennen das. Man braucht immer eine Weile, um die auch in der Nebensaison halbwegs verlässliche Struktur eines typischen Ferienortes zu erfassen.
Wir landeten schließlich in einem der wenigen geöffneten Restaurants. Am Tag danach merkten wir natürlich, dass es ein paar Schritte weiter noch wesentlich mehr Auswahl gegeben hätte, das ist ja immer so, wenn man zum ersten Mal durch eine fremde Gegend läuft. Ein deutsches Restaurant war das, mit all dem, was man an der norddeutschen Küste erwartet, Fisch und Schnitzel, Kinderteller, Bauernfrühstück, Bratkartoffeln, das ganz normale Programm, und was die anderen Gäste auf ihren Tellern hatten, das sah sogar recht gut aus. Wie übrigens überhaupt eine einfache Regel gilt – wenn man Fisch essen will, ist Usedom generell goldrichtig. Das gilt sogar für Fischbrötchen, ich hatte dort am nächsten Tag die besten Fischbrötchen seit langer Zeit, wenn nicht sogar überhaupt die besten, die ich je hatte, aber ich schweife ab.
Und dort jedenfalls, wir werden daran noch sehr lange zurückdenken, im Buchen-Eck in Heringsdorf, wobei ich für den Namen des Restaurants allerdings nicht garantiere, ich habe mir nämlich keine Notizen gemacht, warum eigentlich nicht, Herr Buddenbohm? Schlimm. Dort jedenfalls geschah das Restaurantwunder, wir erreichten erstmals überhaupt die volle mögliche Punktzahl im bekannten Spiel “Eine Familie geht in ein Restaurant”:
Beide Söhne haben sich unabhängig voneinander zwei verschiedene, aber doch passend erscheinende Kinderteller bestellt, die noch vor dem Nachtisch-Abschnitt der Speisekarte zu finden waren
Sie haben sich dabei ob der selbstverständlich unfassbar dämlichen Auswahl des jeweils anderen Kindes nicht in die Haare bekommen, sondern sich gegenseitig großmütig einfach mal machen lassen
Sie haben keine seltsamen Sonderwünsche à la “Kann ich bitte nur genau fünf Pommes mit Soße haben” geäußert
Sie haben keine Gerichte haben wollen, von denen wir vorher wussten, dass sie sie garantiert nicht essen werden à la “Doch, heute mag ich ganz bestimmt Schnecken”
Sie haben sich zwei verschiedene und auch noch kinderkompatible Getränke bestellt, ohne sich siehe Punkt 2
Sie haben diese Getränke sogar bestellt, ohne das bekannte halbstündige Drama “Coca-Cola für Kinder ist ein unveräußerliches Grundrecht ” aufzuführen
Sie haben sich beide auf ihre Stühle gesetzt und blieben dort, ich staune beim Schreiben immer noch darüber, die ganze Zeit sitzen
Sie haben es mit buddhistischer Gelassenheit hingenommen, dass einer von ihnen am Fenster saß und der andere nicht
Es war ihnen auch seltsam egal, wer neben Mama und wer neben Papa saß, wofür es allerdings ohnehin keine feste Regel gibt, abgesehen davon, dass es normalerweise immer falsch ist, wie es ist
Sie haben die Wartezeit bis zum Essen nicht genutzt, um das Restaurant zu zerlegen, Tischdeko umherzuwerfen, Speisekarten anzunagen, sämtliche Kerzen im Raum auszupusten und mit geklauten Streichhölzern wieder anzumachen oder auch nur andere Gäste zu behelligen
Sie haben uns nicht einmal lauthals nach den äußerlichen Auffälligkeiten dieser anderen Gäste gefragt
Sie haben die Wartezeit im Gegenteil total sinnvoll für ein feines Konzentrationsspiel genutzt und Kartenhäuser aus Bierdeckeln gebaut, wie wir es früher alle dauernd gemacht haben, als unsere Eltern noch keine iPads oder andere Bespaßungstechnologien dabei hatten, um den Nachwuchs für etwa eine Stunde zu sedieren
Sie haben keines der immerhin vier Getränke auf dem Tisch umgeworfen
Sie haben auch die ganze Zeit über kein Besteck, keinen Teller, keinen Bruder, nicht einmal einen Salzstreuer auf den Boden geworfen
Sie haben tatsächlich das gegessen, was sie bestellt haben
Sie haben es sogar komplett aufgegessen, inklusive ungefragt mitgelieferter Salatblätter
Sie haben sich interessant aussehende Bestandteile der Gerichte ihrer Eltern nicht einfach zur näheren Inspektion und anschließenden Verkostung von deren Tellern gegrapscht, sondern haben geradezu höflich danach gefragt
Sie haben auch das andere bekannte Drama “Nachtisch für Kinder ist ein unveräußerliches Grundrecht und in der Regel als Eis auszuliefern” unbegreiflicherweise nicht aufgeführt
Sie blieben nach dem Essen noch etwas sitzen und haben nicht unter Absingen heiterer Lieder von zweifelhaften Deutschrappern die Bude gerockt, Fangen gespielt oder Rückwärtsrollen im Gang geübt
Sie haben abschließend die Restauranttoilette aufgesucht ohne diese großflächig zu fluten, ohne alle Papierhandtücher auf dem Boden zu verteilen, ohne den Seifenspender aus reiner Neugier auf sein Fassungsvermögen komplett zu leeren und auch ohne sinnlos zu probieren, ob man ein viel zu hoch montiertes Pissoir nicht vielleicht doch in einem besonders hohen Bogen …
Das war schön. Es wirkte komplett unwirklich, es hat sich natürlich bisher nicht wiederholt, aber es war doch sehr schön. Und wir haben auch nur acht Jahre darauf gewartet, dass so etwas wenigstens einmal passiert. Nur acht Jahre, das geht doch eigentlich. Vielleicht wiederholt es sich schon in acht Jahren? Dazu spielen wir Johnny Logans “What’s another year” und summen leise mit. In seliger Erinnerung ans Buchen-Eck in Heringsdorf. Wenn es denn so hieß.
March 27, 2016
Gelesen – Arno Gruen: Wider den Gehorsam
Gekauft wegen einer Empfehlung von Johannes Korten, Arno Gruen war mir gar kein Begriff – hier mehr zu ihm. “Wider den Gehorsam” ist schmaler Band, dicht und konzentriert, dabei gut lesbar geschrieben, ohne jede Verschwurbelung. Besonders interessant sind zur Zeit sicherlich die Stellen, in denen Gruen auf den Hass der Rechtsradikalen eingeht, diesen etwas deutet und ergründet, da geht es auch um den Zusammenhang zwischen Gehorsam und Faschismus. „Die Angst, ungehorsam zu sein, führt dazu, sich dem Unterdrücker unterzuordnen. Indem man sich mit dem Unterdrücker verbündet, kehrt man seine Verachtung und Gewalt in Liebe um. Rechtsradikale Führer gelangen deswegen besonders häufig in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche an die Macht.“
Ganz kurz, vermutlich treffend und wie nebenbei. Von Gruen kann man ruhig noch mehr lesen.
Ein von maximilian buddenbohm (@buddenbohm) gepostetes Foto am 4. Feb 2016 um 10:24 Uhr
March 23, 2016
Woanders – Der Wirtschaftsteil
Es geht um die Urform des wirtschaftlichen Handelns, es geht also um den Handel an sich. Gleich vorweg eine Meldung zum internationalen Handel, zu einer Entwicklung, die sonst eher selten thematisiert wird, nämlich den Zusammenhang zwischen der Digitalisierung und dem Wandel im weltweiten Handel. Man kann es natürlich auch reißerischer formulieren: “Der klassische Güterhandel ist ein Auslaufmodell.” Bzw., wie wir hier sagen würden: Regionalisierung ist Trumpf. Bei allem.
Aber normalerweise, schon klar, denkt man bei Handel eher an den naheliegenden Konsum, an das, was wir fast täglich einkaufen und wo wir das tun. Dazu ein Text über die Damen, die vor einiger Zeit Schlecker-Filialen in Eigenregie übernommen haben und bis heute führen. Wieso klappt das eigentlich?
Damit sind wir bei den großen Filialisten. Beim Handel mit dem täglichem Bedarf werden viele an Filialen nicht vorbeikommen, es lohnt daher immer, Veränderungen in diesen Ketten etwas genauer anzusehen. Was passiert da gerade und warum? Und ganz ohne einen bestimmten Artikel zu meinen, empfehlen wir zum Thema Handel und Märkte gerne und immer wieder das Supermarktblog. Oft eine erhellende Lektüre, oft ein Aha-Moment nach dem täglichen Einkauf.
Beim Stichwort Filialen ging es jahrelang auch immer um das Thema Filialsterben, jedenfalls wenn es nicht gerade um Lebensmittel ging. Dazu eine Meldung, die eine andere Richtung andeutet und gleich noch ein großartiges Wort für den Smalltalk mitliefert, “Webrooming”: Die Renaissance der Filiale.
Zu diesem Thema gibt es noch einen veritablen Longread zum Verhältnis Verkäufer und Kunde, da kommt auch ein gewisser Herrn Loman vor, der eine oder andere wird sich aus dem Theater erinnern. Die Brandeins über das Kaufen.
Simone de Beauvoir kommt auch nicht eben häufig in den Meldungen hier vor, in der FAZ wird sie aber bemüht. Es geht da um ein Thema, zu dem man ziemlich gut selbst weitergrübeln kann, da jeder eine andere Konsumstichprobe darstellt: Sind Frauenprodukte eigentlich teurer als Männerprodukte?
Und nun noch einige Ergänzungen etwas neben dem Mainstream. Hier etwa aus Dänemark, wo es jetzt einen Supermarkt für abgelaufene Lebensmittel gibt. Ob in Deutschland auch schon einer in Planung ist? (Dazu gab es übrigens neulich ein Multimediaspecial bei der Redaktion Zukunft, das passt ganz ausgezeichnet dahinter).
Und bei “Jetzt” schreibt man von einem Willie-Wonka-Laden, das ist vermutlich nicht die schlechteste Umschreibung für das, was es eigentlich ist, ein Laden ohne Verpackungen. Über Verpackungen im Supermarkt wird auch in der SZ nachgedacht.
Usedom-Bemerknisse
Eine etwas gewagte Überschrift, weil ich in diesem Text vermutlich nicht einmal auf Usedom ankommen werde, ich habe nur etwa eine halbe Stunde Zeit. Morgen früh geht es schon nach Helgoland, es muss dafür noch gepackt und etwas organisiert werden, das ist das anstrengende Leben der Inselhopper zwischen Ost- und Nordsee, Sie kennen das.
Nach Usedom jedenfalls, so war der Plan, wollten die Herzdame und ich zu zweit. Eine verlängertes Wochenende ohne Kinder, was bei uns bekanntlich ziemlich selten vorkommt und entsprechende Begeisterung bereits weit vor dem Termin auslöste. Was man da alles machen kann, ohne Kinder! Zum Beispiel überhaupt nichts, um einmal mit dem naheliegendsten Aspekt zu beginnen. Man kann aber auch vollkommen abgefahrene Dinge tun, man kann sich etwa mit einem Roman ins Bett legen und diesen komplett durchlesen. Am Stück. Das ist für kinderlose Menschen evtl. vollkommen normal, für Eltern ist das eine ganz außerordentlliche Erfahrung. Und wenn man schon so ungestört stundenlang im Bett liegt, dann kann man auch, nicht wahr, und was ist schon dabei, Nickerchen und andere Späße machen, es sind also geradezu paradiesische Vorstellungen, die man da hat, wenn man an solche Wochenenden denkt. Weit, weit vorher verdrängt schon man alle Ärgernisse des Alltags mit einem milde gemurmelten “Ach was, wir haben ja bald dieses Wochenende, Schatz.” Und man spricht es mit einem tiefen Blick in die Augen, das Vorbild für die Gefühlslage dazu findet man bei Casablanca, “Uns bleibt immer Paris”, nur ist es hier eben prognostisch gemeint.
Knapp vor diesem Wochenende wurden dann mehrere Familienmitglieder der Großelterngeneration gleichzeitig krank, weswegen wir erstens die Kinder ungeplant und schnell doch wieder aus Nordostwestfalen abholen mussten, wo sie ansonsten grandiose Ferien verbracht haben. Weswegen ich außerdem ungeplant und schnell noch mal eben nach Lübeck musste, weswegen die Herzdame und ich in verschiedenen Richtungen durch die Gegend fuhren, statt dicke Romane für das Wochenende einzupacken. So etwas kann vorkommen, und manchmal ist es eben komplizierter als sonst.
Weswegen ich außerdem beim Quartier und Lesungsort in Heringsdorf die Übernachtungsmöglichkeit neu regeln musste, nun doch mit Kindern, es war einfach nicht anders zu machen. Das führte zu diesem denkwürdigen Dialog:
Ich: “Wir kommen nun doch mit Kindern, geht das?”
Hotel: “Okay, dann buche ich Sie einfach von Liebeslaube auf Ferienwohnung um.”
Das klingt lustig, gar keine Frage, und ich habe auch gelacht. Kurz. Sehr, sehr kurz. Am gleichen Tag gab es dann Stunden später und eine Stadt weiter einen anderen denkwürdigen Dialog, und zwar zwischen meinem Vater und mir.
Ich: “Morgen fahre ich nach Usedom.”
Mein Vater: “Da habe ich mich auch schon mal übergeben.”
Das beschreibt in bemerkenswerter Kürze ein Detail meiner Familie, die natürlich, wie alle Familien, eine seltsame Familie ist. Und zwar beschreibt es gewisse Erzähl- und Erinnerungsweisen in Familien mit langer Migränetradition. Das wäre eigentlich auch einmal einen Familienroman wert, wie sich diese Krankheit durch Generationen fortsetzt, wie Männer und Frauen in verschiedenen Jahrzehnten damit umgehen, wie Einzelne ihr manchmal für Jahre entkommen, dann doch wieder Opfer werden, sich arrangieren, verzweifeln, neue Therapien versuchen, obskure Heilmethoden anwenden, die Krankheit manchmal einfach vergessen und nach Monaten verblüfft daran zurückdenken … Doch, das wäre vermutlich interessant, so etwas beispielhaft zu erzählen. Aber man kommt ja zu nix.
So fuhren wir mit den Kindern in einem etwas gewagten Timing nach Heringsdorf auf Usedom, wo wir vor der Lesung noch etwa eine Stunde Zeit hatten, um einen schnellen Blick auf die charmant besonnte Ostsee zu werfen und in ein Restaurant zu gehen, was dann auch ein bemerkenswertes Event für die Familienchronik war. Dazu in Kürze mehr.
March 22, 2016
St. Georg hilft: Zum Beispiel Zia vom Bieberhaus
Ich bin Zia. Ich komme aus Afghanistan und bin neunzehn Jahre alt. Ich bin seit August 2012 in Deutschland. Ich habe hier erst ein Jahr Sprachkurse besucht, dann habe ich in Lüneburg meinen Hauptschulabschluss gemacht. Jetzt bin ich in Hamburg und mache meinen Realschulabschluss, danach möchte ich gerne Erzieher lernen. Und wenn ich die Chance bekomme, mache ich auch noch Abitur in einer Abendschule. Ich bin seit September hier am Hauptbahnhof bei der Flüchtlingshilfe dabei. Ich bin oft ab 14 Uhr hier. Manchmal bis neun Uhr abends. Als die Hilfe noch draußen auf dem Platz war, war ich manchmal auch noch länger hier. Jetzt findet alles im Bieberhaus statt, das schließt um neun Uhr abends.

Ich habe in Hamburg viele Leute kennengelernt, viele Afghanen, viele Deutsche. Wir haben hier sehr viel geholfen, wirklich sehr viel. Wenn wir nicht da wären, die Stadt müsste ganz viele Leute einsetzen, um hier zu helfen. Ich helfe hier, weil ich selber in so einer Situation war. Ich kann die Leute, die hier kommen, gut verstehen. Auch wenn sie traurig sind, auch wenn sie einmal unfreundlich sind. Ich verstehe alle ihre Probleme, ich habe alles selber erlebt. Hier im Bieberhaus am Hauptbahnhof können Kinder betreut werden, es gibt Essen und Getränke und die Menschen können beraten werden.
Ich bin nach Hamburg gezogen, weil es hier viele verschiedene Kulturen gibt. Ich mag Hamburg sehr. Es gibt viele nette Menschen hier und man kann sehr viel unternehmen.
Weitere Informationen zum Bieberhaus.
Für die Hilfsinitiativen hier im kleinen Bahnhofsviertel kann man weiterhin spenden. Es kommen jetzt deutlich weniger Geflüchtete, aber Hilfe ist weiterhin nötig. Für die Suppe, die den Geflüchteten am Bahnhof gereicht wird, die Nachtquartiere, für etwas Hilfe auf dem Weg. Spendenbescheinigung auf Wunsch möglich! Vielen Dank.
Gelesen: Christoph Peters – Herr Yamashiro bevorzugt Kartoffeln
Der Herr Peters ist mir bisher noch gar nicht über den Weg gelaufen, obwohl der recht produktiv ist. Das war ein reiner Zufallskauf am Bahnhof, da war noch etwas Zeit über bis der Zug kam und zack, hat man noch ein Buch mehr, Sie kennen das.
Ein von maximilian buddenbohm (@buddenbohm) gepostetes Foto am 16. Mär 2016 um 6:51 Uhr
Das Buch habe ich auf einer Zugfahrt in Richtung Ostsee gelesen, und das war situativ bemerkenswert gut eingerichtet, denn an selbigem Gewässer spielt die Handlung des Romans. Ein japanischer Meister der altehrwürdigen Töpferofenbaukunst besucht ein winziges Kaff an der provinziellen holsteinischen Küste, um für einen deutschen Keramikkünstler einen Anagama-Holzbrandofen nach uralten Regeln zu bauen, damit eine bestimmte Traditionslinie japanischer Töpferei dort fortgesetzt werden kann. Weder hat der Meister Ahnung von Europa oder Deutschland, noch haben die Nachbarn der Baustelle oder das begleitende deutsche Filmteam irgendeine Ahnung von japanischen Riten oder japanischer Handwerkskunst, es stoßen also Welten zusammen. Das wird aber kein banaler Slapstick, obwohl der Meister zum Entsetzen seiner Gefolgschaft bald eine absonderliche Vorliebe für Mettbrötchen und Schnaps entwickelt und die Kneipenwirtin des Ortes sich so gar nicht an die japanische Etikette hält. Es ist auch kein schwiemeliger Esoterikklimbim, obwohl geisterhafte Folgen lang vergangener Ereignisse auch eine gar nicht so kleine Rolle spielen. Auf dem Cover steht “Humoreske”, ich finde, es ist eine gut erzählte, sehr fachkundig wirkende und auch amüsante Auseinandersetzung mit zwei höchst unterschiedlichen Auffassungen von Regeln, Handwerk, Handlungen, Tradition und Kunst.
Und da geschieht dann noch etwas ziemlich Wundersames bei der Lektüre, wie es bei guten Büchern manchmal vorkommt: Die Sache mit der Keramik, die wird dann doch sehr interessant, geradezu spannend. Obwohl das sonst ein Weglaufthema erster Klasse für mich ist, geh mir bloß weg mit Töpferei, das ist doch alles komatös langweiliges Kunsthandwerk, das geht wirklich gar nicht. Aber in diesem Roman: ach guck, das ist ja interessant! Schon nett, was Literatur so kann. Von Christoph Peters dann demnächst noch mehr .
Eine Empfehlung übrigens auch für Menschen, die mit der Hand arbeiten, selbst wenn es dabei nicht um Töpferei geht. Einige Passagen, besonders zur Ausbildung im Handwerk, dürften auf jeden Fall interessant sein.
March 21, 2016
Gelesen: Rolf Lappert – Über den Winter
Wie einige vielleicht gemerkt haben, ist Ende Februars gar kein”Gelesen, gesehen, gehört” erschienen, ich habe es einfach nicht geschafft. Zunächst dachte ich, das macht ja nichts, dann erscheint der Kleckerkram aus dem ohnehin mickrigen Februar eben Ende März. Aber ich merke, das wird mir doch zu lang. Also mache ich es ganz anders, ich bin ja ein Flexibelchen ersten Grades, jedenfalls wenn es um meine Bloginhalte geht. Ich streue hier jetzt einfach die Bücher, Songs, Filme (als ob ich je welche gucken würde) etc. bröckchenweise ein, bis es endlich April wird, an dessen Ende dann wieder die reguläre Liste erscheint. So der Plan, wobei mir Pläne bezüglich noch zu verfertigender Artikel letztendlich herzlich egal sind, aber was soll’s.
Ein von maximilian buddenbohm (@buddenbohm) gepostetes Foto am 25. Feb 2016 um 7:36 Uhr
Rolf Lappert also, von dem ich bisher vermutlich noch nichts gelesen habe. Ein Mann um die Fünfzig kehrt in diesem Roman nach langem Auslandsaufenthalt zur Beerdigung einer Schwester in die Hamburger Heimat zurück und fällt während dieses Besuchs aus seinem Beruf, vielleicht fällt der Beruf auch einfach von ihm ab, das weiß man nicht genau. Der Mann ist oder war Künstler und verliert den Sinn dieses Brotjobs einfach aus den Augen, die Lust ist weg, das Ziel, die Neigung, überhaupt weiß er nicht recht weiter im Leben, was soll ich sagen, das sprach mich an. Wenn man selbst gerade ein Mann um die Fünfzig ist, erkennt man die gemeinte Sollbruchstelle. Einerseits sein Atelier in New York und seine Projektarbeit an südlichen Küsten, andererseits die ärmliche Verwandtschaft im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg, auf die er sich zögerlich und voller Abwehr doch wieder einlässt, bei denen er dann sogar wieder einzieht. Zwischendurch wird zur Erklärung der Lage aus dem Krisen- ein Familienroman, und das ist nicht die schlechteste Wendung des Buchs.
Das alles passiert in wenigen Tagen und ist enorm detailgenau beschrieben, das hat einige Rezensenten gestört. Und tatsächlich ist es etwas befremdlich, was da alles ganz genau beschrieben wird, es findet sich kein Pullover, kein Anzug, kein Schal, der nicht irgendeine Farbe und Textur hat, keine Nebenfigur, die nicht vom Scheitel bis zur Sohle vorgestellt wird, kein Hotelzimmer ohne detailliertes Tapetenmuster usw. Manchmal kann man Details auch seltsam finden, wenn etwa jemand auf die Toilette geht, dann kann ich mir schon alleine vorstellen, dass er danach auch spült, ich muss es wirklich nicht zwingend lesen. Andererseits steht dieses so dermaßen en detail geschilderte Wilhelmsburg dafür auch außerordentlich plastisch vor einem. Ich habe das Buch dann doch gerne durchgelesen und mochte auch das Ende, das wiederum einige Rezensenten ganz furchtbar fanden. Ich werde es hier nicht verraten, aber zurück in seinen Beruf findet der Mann nicht, so viel wird nicht überraschen, ein Krisenroman eben. Im ganzen Buch ist es sehr, sehr kalt, es ist ein Winterbuch par excelllence, die Alster friert sogar zu, es fällt Schnee, es weht ein eisiger Wind durch die Stadt, man möchte mit Handschuhen lesen. Oder auf Usedom, wo es auch gerade so kalt war, meine Güte,war es da kalt.
Entweder man liest den Roman also noch schnell in den nächsten drei Tagen durch, bevor der Frühling uns überrollt, oder man merkt es vor für den nächsten Januar, das Buch wäre im Warmen wirklich einigermaßen verfehlt. Ein gutes Buch für Hamburger und Wilhelmsburger Lokalpatrioten, auch für angezählte Fünfzigjährige, für unwillige Künstler und für Menschen mit schwierigen Familien, das sollen ja ein paar mehr sein. Ein Pferd kommt auch vor, Tierfreunde dürfen sich daher ebenfalls angesprochen fühlen. Auch wenn das Pferd nicht viel macht, außer in einem behelfsmäßigen Stall zu stehen. Es ist immerhin ein ziemlich typisches Großstadtpferd. Etwas verloren, etwas fremd, es ist ein Großstadtpferd wie Du und ich.
Doch, ich mochte das Buch.
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