Jan Seghers's Blog, page 4

November 2, 2012

November 2012

Freitag, 2. November 2012 – Zehnuhrvier, achtkommasieben. Sonnig, blau und weiß und schön. Die ewigen Martinshörner in der Stadt.


Gestern um 18.30 Uhr durch den dunklen Hohlweg am Friedhof vorbei zur U-Bahn. Am Römer raus und über den Eisernen Steg. Dann drei laute Schüsse. Sie kommen von der anderen Mainseite, von der MS Wodan, wo die Dreharbeiten zur “Partitur des Todes” stattfinden. Ich soll mal durchs Bild laufen, hatte Lancelot gesagt. Okay, dann werd ich um neun wieder zu Hause sein. Hauptsache, ich darf Christians graue Kappe aufsetzen.

Was für ein Aufgebot, was für ein wuselnder Wahnsinn. Drei Polizeiwagen auf dem Uferweg, ein Rettungswagen, die Spurensicherung, ein Boot der DLRG mit Leuten in Leuchtwesten, ein Taucher, sprungbereit, die Wasserschutzpolizei mit einem Boot. Dunkel, überall Scheinwerfer. Über allem ein riesiger, von innen beleuchteter Ballon, der aussieht wie die überdimensionierte Ausgabe dieser alten, hässlichen Ikea-Pergament-Lampenschirme, die früher in den Wohngemeinschaften hingen. Und Leute, Leute, Leute. Kameraleute, Tonleute, Schauspieler, Komparsen, Schaulustige, Assistentinnen, Produzentinnen, Kabelträger, Best Boys, Catering, Security … Erkan soll ins Wasser springen, wird aber vorher fünfmal gedoublet. Köberlin, Jürgen Tonkel, Tim Seyfi. Und Lancelot, der in seiner dickwattierten Jacke wie Cebulon herumspringt überall gleichzeitig ist, alle antreibt, ermuntert, korrigiert, lobt. “Das war prima, das machen wir gleich nochmal” ist der meistgehörte Satz des Abends. Regen, nasskalt. Hände und Füsse werden langsam taub. Immer, wenn jemand “Matthias” oder “Marthaler” ruft, recke ich den Kopf. Aber freilich: Matthias Köberlin ist gemeint.

Und als er einmal für einen winzigen Moment die Beherrschung verliert, ahnt man, was dieser Beruf an Zumutungen bereit hält. Das alles hat immer noch die Atmosphäre von “fahrendem Volk”, von Zirkus, von “Kinder des Olymp”. Lustig, anstrengend und manchmal herzzerreißend profan, tragisch, schön.

Endlich, gegen halbzwei, sind wir fertig. Einhundertundzehn Leute, die sieben Stunden lang gearbeitet haben. Das alles für vielleicht zwei Minuten im fertigen Film.

Zurück über den Eisernen Steg, über den Römerberg zum Frankfurter Hof. Taxi. Und im Bett noch ein paar Sätze in der französischen Ausgabe des “Monsieur Ibrahim”.


Theo van Gogh ist tot, ermordet von Mohammed Bouyeri, der beim Prozess seinem Richter sagte, er dürfe jedem “den Kopf abhacken”, der Allah beleidige.

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Published on November 02, 2012 02:49

October 1, 2012

Oktober 2012

Montag, 1. Oktober 2012 – Vierzehnuhrdreißig. Heute morgen die Winterjacke aus dem Keller geholt und ins Café Mozart gefahren zum Gespräch mit Constanze Kleis. Jetzt siebzehnkommaneun Grad.


Auf einer Reise durch Schottland stellt Fontane fest, dass seine brandenburgische Heimat nicht minder schön sei und fordert sich selbst auf: “Geh’ hin und zeig’ es!” Ein Satz, der über dem Schreibtisch jedes Autors hängen könnte.


Was für ein gigantischer Vergangenheitsflash dieser Tage. Vor einer Woche das Treffen mit Theo und den Mitschülern, dann am Samstag in Marburg: Bernd und Uli, Holger und Andrea. Heute noch Post von Winfried aus Bremen mit zwei CDs von Jahrgang ‘49. Und statt wie sonst, mich vor den Reminiszenzen zu fürchten, aale ich mich darin.


Gestern schöner Nachmittag mit Christian im Garten – drei Stunden, dem Herrgott geklaut.


In der Sonntags-FAZ beschreibt Christiane Hoffmann eine gespenstische Szene. Auf dem großen Festakt aus Anlass des Jubiläums von Helmut Kohls Kanzlerschaft, sitzt der Geehrte am Ende allein im Rollstuhl, umgeben von leeren Stühlen. Schließlich schiebt man ihn, zu dem sich niemand mehr setzen will, in einen Abstellraum mit Wäschewagen, wo er warten muss, bis irgendwer ihn abholt.


Siebzig Seiten in Fontanes “Stechlin”. Aber das ist ja gar nicht auszuhalten, so steif, so statisch, so umständlich. Bräsige Dialoge verstellter Figuren. Oder liegt es an mir? Muss ich es später noch mal versuchen?


Emil Bahr ist tot, der stärkste Mann der Welt.

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Published on October 01, 2012 05:39

September 5, 2012

September 2012

Mittwoch, 5. September 2012 – Elfuhrneunundfünfzig, achtzehnkomma- sieben. Gräulich.


Aus der Reihe „Knalldoof auf Sendung“: In der Kulturzeit-Ausgabe vom letzten Freitag heißt es über den neuen Film von Leo Carax: „Er gibt keine Antworten; er stellt nur Fragen.“ Da gleicht dieser Film dem deutschen Kulturjournalismus. Statt auch nur eine riskante Antwort zu wagen, stellt man dort lieber die immer gleichen dusseligen Fragen.

Stefan Kramer, Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, hat – wie viele andere Juden – die Verleihung des Adorno-Preises an Judith Butler kritisiert. Tina Mendelsohn, Moderatorin der Kulturzeit in Deutschland, möchte ihn dafür desavouieren und tut dies sicherheitshalber in Form einer Frage: „Stefan Kramer, der übrigens im Erwachsenenalter zum Judentum konvertiert ist – warum ausgerechnet er sich so aus dem Fenster lehnen muss?“ Um dann Salomon Korn, den Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, mit Fragen zu traktieren, die alles sagen sollen, aber lieber nichts gesagt haben wollen:

„Herr Korn, wird das langsam zur Routine, dass der Zentralrat der Juden bei wichtigen Preisverleihungen wegen Israelkritik Protest erhebt und sogar mit Boykott droht?“

„Ist das Kritik, Herr Korn, das gab es ja mal, sagen wir mal im Sozialismus der DDR, dass man Kosmopolitismus kritisiert hat, dass man global denkende Menschen kritisiert hat?“

„Muss man eine Anleitung haben, sozusagen, wie weit man Israel kritisieren darf?“

„Das heißt, man darf Kritik üben?“

„Aber würden Sie nicht sagen, auch dem Zentralrat der Juden in Deutschland muss die Meinungsfreiheit wichtig sein?“

„Würden Sie nicht sagen, dass sich der Zentralrat da selber schadet, dass das Deutschland doch in ein gewisses provinzielles Licht setzt, dass man mit einer solchen Frau nicht diskutieren und streiten kann?“

„Das heißt der Zentralrat der Juden wird die Preisverleihung boykottieren, wird dort fernbleiben?“

Es war der israelische Historiker Shlomo Avineri, der Tina Mendelsohn einmal vor laufender Kamera angeschrieen und sie als „das Dümmste und Blödeste“ bezeichnet hat, was er sich vorstellen könne. Der Langmut von Salomon Korn war bedauerlicherweise bedeutend größer.


In der heutigen Süddeutschen Zeitung schreibt die Überlebende der Shoah und Präsidentin der israelitischen Gemeinde Münchens Charlotte Knobloch: „Seit sechs Jahrzehnten muss ich mich rechtfertigen, weil ich in Deutschland geblieben bin – als Überbleibsel einer zerstörten Welt, als Schaf unter Wölfen. (…) Erstmals geraten nun meine Grundfesten ins Wanken. Erstmals spüre ich Resignation in mir. Ich frage mich ernsthaft, ob dieses Land uns noch haben will.“


Am 5. September 1969 starb in Schleswig Hans-Joachim Rehse, Richter am Volksgerichtshof und dort mitverantwortlich für 231 Todesurteile.

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Published on September 05, 2012 03:17

August 17, 2012

August 2012

Freitag, 17. August 2012 – Dreizehnuhrsieben, siebenundzwanzig- kommaacht. Blau und Wolken. Schon wieder kein Grund zu klagen. Obwohl …


Seit über einer Woche zurück aus der tiefsten Provence, aber immer noch nicht da. Schön, wenn es mal die Schönheiten sind, die einem in den Knochen stecken: die verzauberte Proust-Villa, in der wir vierzehn Tage lang wohnten, das Trüffel-Restaurant in Aupt, der Lac de St. Cassien, der Tag am Strand von Agay, die Badestelle unter der alten Brücke in Salernes, der Mont Ventoux, die Ardeche, der Wein.


Gestern Bahnhofsviertelnacht. Seltsam, die Touristen mit ihren grünen Bändern um die Hälse, die sich durchs Quartier führen lassen wie Besucher durch den Zoo. Vor dem Druckraum in der Elbestraße kommentiert eine junge Frau: “Die viele Leut heut mache misch ganz konfus”. Mich auch. Und dann diese grauenhafte Mahlzeit in …, ach, vergessen wir’s. Niemals schlechter asiatisch gegessen.


In die Zeitungen schaue ich noch mit zusammengekniffenen Augen. Susanne Lothar ist tot. Seeßlen fordert die Abschaffung des Feuilletons. Und dann diese Geschichte mit Steinfeld und Schirrmacher. Wie klein das ist.


Eben die Nachricht, dass die Polizei in Südafrika mehr als dreißig streikende Minenarbeiter erschossen hat. Das jedenfalls ist keine Simulation.


Todestag von Gwen Bristow.

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Published on August 17, 2012 04:46

July 6, 2012

Juli 2012

Freitag, 6. Juli 2012 – Elfuhrsiebenunddreißig, zweiundzwanzig- kommaneun. Wieder tropisch. Gestern Hagel. Tour de France? Mir doch egal!


Wer hätte gedacht, dass man auf die späten Jahre noch mal Julio Iglesias hören würde … Aber seit wir am Dienstag “Tinker Tailor Soldier Spy” gesehen haben, geht mir “La mer” nicht mehr aus dem Kopf, der alte Schlager von Charles Trenet, den dieser, wie es heißt, in nur zwanzig Minuten auf einer Zugfahrt zwischen Perpignan und Narbonne komponiert haben will. Und nun läuft das Chanson und läuft und läuft. Was Iglesias in seiner Interpretation macht, ist so charmant wie effektvoll. Immer wieder verschleift er eine Endsilbe zu einem Gurren, baut kleine Seufzer, Schnalzer, Stöhner ein. Dass aber auch immer das Einfachste, wenn es gut gemacht ist, eine solche Kraft entwickelt.


Schon das Motto von Houellebecqs “Karte und Gebiet” ist ein kleiner Schatz. Stammen soll es, wenn denn wenigstens das stimmt, von Karl, dem Herzog von Orléans:

Die Welt ist meiner überdrüssig,

Und ich bin es ihrer gleichermaßen.


Heute vor zehn Jahren starb John Frankenheimer.

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Published on July 06, 2012 02:51

June 6, 2012

Juni 2012

Mittwoch, 27. Juni 2012 – Achtuhrsiebzehn. Vierzehnkommaacht. Könnte was werden.


Als mir die nette Sandra Kegel dringend empfiehlt, den neuen Roman von Houellebecq trotz meiner Vorbehalte zu lesen, denke ich: Na also, hat sich der Abend doch gelohnt. Und trage den Tipp wie eine Beute nach Hause.


Auf der Suche nach einem wenigstens erträglichen Restaurant in Baunatal, gerate ich an die Speisekarte von “K.Toffels” und schaudere zurück: Dort sind für den Juni “Cola-Wochen” gemeldet. Es gibt einen “knackigen Schmandsalat mit Putenfleisch und Cola-Erdnußsoße”, es gibt “Schweinemedaillons auf Mango-Colasoße”, es gibt ein “Cola-libre-Schnitzel” und “Wackel-Colapudding”. Ist eine zweite Weltgegend denkbar, wo man auf ähnliche Geschmacklosigkeiten verfallen würde?


Mit Schimmel und Raul über die documenta. Sehr heiter und später sogar sonnig. Dass es nirgendwo auf dem Gelände der Kunstausstellung Coca-Cola zu kaufen gebe, erzählt Schimmel, sei ein Verdienst der Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev, die in Kassel Lady Gaga genannt werde.


“Kunst will zum Nachdenken anregen” – Mit diesem Diktum haben ganze Generationen von Kunstlehrern ihre Schüler in dumpfes Brüten versetzt. Wenn Kunst nur noch aus Luft besteht – wie im Eröffnungsraum des Fridericianums – bleibt reichlich Raum zum Grübeln. Und zum ausgedehnten Reden, das meist in einer wohligen Ratlosigkeit endet: “Ist halt Kunst, da weiß man nie so genau, da kann halt jeder seine Sicht …” Nun ja.

Viel Wissenschaft, viel Technik, viel Politik, viel Natur und viel Pädagogik sind in Kassel zu finden, aber wenig Kunst. Stattdessen programmatisches Kunsthandwerk oder Fundstücke, Ausgrabungen, Artefakte, die allerdings auch etwas bedeuten sollen.

Ziemlich krude ist das alles, aber nicht unsympathisch. Im Konzept wenig überzeugend, im Einzelnen selten gelungen, bleibt merkwürdigerweise trotzdem ein entspannter, demokratischer Eindruck zurück. Vielleicht liegt es daran, dass hier keinerlei Größe behauptet wird, dass die Kunstmarktnamen fast vollständig fehlen, dass man hier mal nicht mit diesem ewigen Richter-Meese-Rauch-Getöse beeindruckt und zur Anbetung gezwungen werden soll.

Und ein in Kürze überwucherter Trampelpfad – wie der in der Karlsaue – lässt mich allemal friedfertiger zurück als ein diamantbesetzter Totenkopf in einer Panzerglasvitrine. Eh man noch ins Nachdenken kommt …


Entdeckung: Die von hinten beleuchteten Kritzeleien und Montagen von Anna Boghiguian, die wie säkulare Kirchenfenster wirken. Und wieso habe ich die nicht fotografiert?


Abends dann, auf der Heimfahrt, im Autoradio Dvořáks Violinkonzert mit den HR-Sinfonikern unter Paavo Järvi mit Frank Peter Zimmermann. Viel zu leicht, viel zu heiter. Das Publikum ist begeistert. Als Zugabe spielt Zimmermann seine eigenen Variationen über ein Thema von Haydn: eine brav aufgepeppte Version der Nationalhymne – schließlich ist Europameisterschaft. So darf endlich auch der kritische Kulturbürger das Deutschlandlied goutieren … und applaudiert frenetisch. Wie man als Musiker dem Dumpfsinn dermaßen zu Diensten sein kann …


Von Jan B. eine Mail mit dem Titelblatt eines amerikanischen Comic-Heftes aus den frühen vierziger Jahren. “HANGMAN” steht groß und fett auf der ersten Seite. Darüber etwas kleiner, als Motto des Heftes, die Zeile: “Nazis and Japs, you rats! Beware! The Hangman is everywhere!”


Das Landgericht Köln hat entschieden, dass die Beschneidung von Jungen aus religiösen Gründen eine “rechtswidrige Körperverletzung” und deshalb grundsätzlich strafbar sei.


Tot ist Wolfgang Grams, der “Förster oder Pastor” hatte werden wollen.



Donnerstag, 21. Juni 2012 – Achtuhrsiebenundfünfzig, achtzehnkomma- zwei. Grau – wie immer.


Ein Stoßseufzer der Erleichterung und ein Dank an Niklas Maak. Gerade schimpfte man noch über die Boulevardisierung des Feuilletons, da liest man in der FAZ eine ebenso profunde wie gedankenreiche Abrechnung mit der Frankfurter Museumspolitik aus Anlass der beiden Jeff-Koons Ausstellungen, die in der städtischen Szene einen so überdreht-schrillen Hype ausgelöst haben, als handele es sich um ein Zeichen des Erlösers und nicht um die ins Gigantische aufgeblasenen Bubble-Gum-Gimmicks eines esoterischen Kunsthandwerkers. Freilich, der zahlungskräftigen Halbintelligenz kommt es immer entgegen, wenn man sie nicht mit Gedanken belästigt, sondern stattdessen ihren schlechten Geschmack zur Kunst nobilitiert. Die Ahnenreihe wird länger: Tamara de Lempicka, Dalí, Mel Ramos, Roy Lichtenstein, Murakami …


Tot und gründlich vergessen ist der Schrifsteller Max Fürst. Er starb am 21. Juni 1978 in Stuttgart, wo er zuletzt als Tischler gearbeitet hatte.



Mittwoch, 20. Juni 2012 – Neunuhrelf, achtzehnkommaacht. Es langt jetzt mal mit dieser Gräue.


“Gutschein sichern – Jetzt liken auf fem.com und Accessoires shoppen …”

Was Großmama wohl gesagt hätte, wenn sie diesen Satz noch hätte lesen müssen?


Unter dem Titel “Vom Wert des Verbietens” fordert Martin Mosebach, dem man ausgerechnet den Büchner-Preis nachgeworfen hat, in der Frankfurter Rundschau dazu auf, die Gotteslästerung unter Strafe zu stellen: “In diesem Zusammenhang will ich nicht verhehlen, dass ich unfähig bin, mich zu empören, wenn in ihrem Glauben beleidigte Muslime blasphemischen Künstlern – wenn wir sie einmal so nennen wollen – einen gewaltigen Schrecken einjagen … Es wird das soziale Klima fördern, wenn Blasphemie wieder gefährlich wird.” So prächtig würde das soziale Klima für Künstler in Deutschland gedeihen, wie es im Iran für die iranischen schon längst gediehen ist.

Martin Mosebach ist ein aufgeklärter Obskurant, der nach der Knute ruft, und dabei versucht, uns die Zensur schmackhaft zu machen, indem er prophezeit, sie werde unsere Gedanken und unseren Stil genauer machen.

Kommentar von F.: “Man würde diesem Mann womöglich einen Gefallen tun, wenn man ihn bei Wasser und Brot in den Keller schickte. Dann hätte er Gelegenheit, seinen Geschmackssinn zu verfeinern.”


Ich bin nicht schlecht, ich bin nicht gut,

Nicht dumm und nicht gescheute,

Und wenn ich gestern vorwärts ging,

So geh ich rückwärts heute;


Ein aufgeklärter Obskurant,

Und weder Hengst noch Stute!

Ja, ich begeistre mich zugleich

Für Sophokles und die Knute.


Herr Jesus ist meine Zuversicht,

Doch auch den Bacchus nehme

Ich mir zum Tröster, vermittelnd stets

Die beiden Götterextreme.

Heinrich Heine


Mubarak ist klinisch tot.


Mittwoch, 13. Juni 2012 – Sechsuhrdreiundvierzig, vierzehnkommaacht. Stahlgrau der Himmel, nass die Luft, was für ein Juni …


“Die Lust aufs Gewinnen ist das, um was es geht, das weckt die Gier in dir, das macht dich aus, das lässt dich leicht laufen, das lässt dich leicht über deine eigentlichen Möglichkeiten hinauswachsen. Das macht dich besonders stark. Und diese Lust aufs Gewinnen, die tobt in mir.”

Bin ich eigentlich der Einzige, den das kalte Grausen anspringt, wenn ein zähnebleckender Jürgen Klopp allabendlich vor, zwischen und nach den Spielen sein imperiales Mantra wiederholt?

Könnte man doch austreten aus einem Volk, in dem so etwas als Werbung für eine Genossenschaftsbank taugt.


“Erfolg beruht darauf, dass ihn nicht jeder haben kann.” (Ernst Alexander Rauter)


Tot sind Sunshine Sue und Jennifer Nitsch.


Freitag, 8. Juni 2012 – Zehnuhrneunundzwanzig, vierundzwanzig- kommanull. Fette Wolken überall.


Es ist Thomas von der Osten-Sacken zu danken, dass er in seinem Jungle-World-Blog auf eine bemerkenswerte Entscheidung hinweist: auf die geplante Verleihung des Frankfurter Theodor-W.-Adorno-Preises an Judith Butler. Egal, was diese Frau sonst noch gesagt und geschrieben hat, folgendes Zitat sollte ausreichen, diese Ehrung zu überdenken: “Yes, understanding Hamas, Hezbollah as social movements that are progressive, that are on the Left, that are part of a global Left, is extremely important.”

Judith Butler ist nicht nur eine Freundin von Hamas und Hisbollah, sie ist außerdem Unterstützerin des antizionistischen BDS-Movements, auf dessen Internet-Seite sich folgender Boykottaufruf an Wissenschaftler, Künstler und Kulturschaffende aus aller Welt findet:

1. Unterlassen Sie jede Teilnahme in jeder Form an akademischen und kulturellen Gemeinschaftsprojekten mit israelischen Einrichtungen.

2. Unterstützen Sie auf nationaler und internationaler Ebene einen umfassenden Boykott von israelischen Institutionen; was auch heißt, jede Form der Unterstützung und Förderung dieser Institutionen zu unterlassen.

3. Befürworten Sie es, Israel von der Förderung durch internationale akademische Einrichtungen auszuschließen und fernzuhalten.

4. Befördern Sie die Verurteilung der israelischen Politik dadurch, dass Sie auf Resolutionen drängen, die von wissenschaftlichen und kulturellen Vereinigungen und Berufsorganisationen verabschiedet werden.

5. Unterstützen Sie akademische und kulturelle Einrichtungen der Palästinenser direkt, ohne für diese Unterstützung eine direkte oder indirekte Zusammenarbeit dieser Einrichtungen mit Israel zu verlangen.


Und eine Frau, die für solche Forderungen eintritt, soll einen in Deutschland verliehenen und nach Adorno benannten Preis bekommen. Wahrhaftig, man schluckt trocken.


Tot ist George Sand.


Mittwoch, 6. Juni 2012 – Neunuhrsiebenundzwanzig, fünfzehnkommanull. Wolken.


Das kleine Dorf Insel gehört zu Stendal und liegt etwa hundertdreißig Kilometer westlich von Berlin. Seit sich dort Mitte vorigen Jahres zwei entlassene ehemalige Sexualstraftäter niedergelassen haben, kommt es immer wieder zu wütenden Protesten der Dorfbewohner, die regelmäßig – mit Unterstützung der NPD – vor dem Haus der beiden demonstrieren und deren Wegzug fordern. Die Männer, die sich in der Haft kennen gelernt hatten und deren Straftaten mehr als 25 Jahre zurückliegen, würden das Dorf gerne wieder verlassen, wissen aber nicht wohin. Zwanzig Wohnheime haben ihre Aufnahme verweigert. Als letztes Wochenende einige Demonstranten versuchten, das Grundstück der Männer zu stürmen, erklärte der Ministerpräsident Sachsen-Anhalts endlich, dass man sämtliche Rechtsmittel ausschöpfen werde, um künftig solche Demonstrationen zu verhindern, “die sich gegen die Menschenwürde von anderen Personen richten”. So steht es heute in der Süddeutschen Zeitung. Was dort nicht steht: Es war der Ortsbürgermeister des Dorfes Insel, Alexander von Bismarck (CDU), der Namen und Adresse der beiden Männer öffentlich gemacht und die rechtsradikalen Hilfstruppen als “Gäste” begrüßt hatte.


Am 6. Juni 1948 starb in der Emigration in New York Aron Freimann, der letzte Vorsitzende der Frankfurter Jüdischen Gemeinde vor dem zweiten Weltkrieg.

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Published on June 06, 2012 00:46

April 30, 2012

Mai 2012

Dienstag, 29. Mai 2012 – Neunuhrachtundvierzig, fünfundzwanzig-

kommafünf. Blau. Wach seit halbfünf. Schon gemäht, schon gegraben.


Vor Tagen berichtete Götz, er habe sich im Kasseler Staatstheater “Leonce und Lena” angesehen. Und dann vergnügt einen dieser Schlusssatz Valerios, als hörte man ihn zum ersten Mal: “Und ich werde Staatsminister und es wird ein Dekret erlassen, daß, wer sich Schwielen in die Hände schafft, unter Kuratel gestellt wird; daß, wer sich krank arbeitet, kriminalistisch strafbar ist; daß jeder, der sich rühmt, sein Brot im Schweiße seines Angesichts zu essen, für verrückt und der menschlichen Gesellschaft gefährlich erklärt wird; und dann legen wir uns in den Schatten und bitten Gott um Makkaroni, Melonen und Feigen, um musikalische Kehlen, klassische Leiber und eine commode Religion!”


Lektüre: Helga Einsele, Mein Leben mit Frauen in Haft.


Vor zwei Jahren ist Dennis Hopper gestorben.


Dienstag, 22. Mai 2012 – Vierundzwanzigkommasieben. Wonderful. Blue.


Was für ein schöner Samstag! Noch vor einem Jahr hätte ich nicht geglaubt, dass das noch einmal wahr werden würde. Wenn die Welt so wäre, wie sie sein sollte, wäre sie wohl ein wenig so wie Frankfurt vor drei Tagen: zwanzig-, fünfundzwanzigtausend Leute, die durch die Stadt ziehen, singend, spottend, lachend, skandierend, tanzend, – einander so fremd, einander so nah. Gottlob nicht nur die immergleichen alten Säcke wie man selbst, sondern alles durcheinander: französische Clowns, chilenische Sozialistinnen, deutsche Tierschützer, griechische Kommunisten, spanische Anarchisten, libertäre Sambatänzer, viele Gewerkschafter, Pazifisten, Linke aller Couleur, Lesben, Schwule, Transsexuelle, Umweltschützer, Nackte, Autonome …

Selten habe ich so viele Menschen beisammen gesehen, die auf eine so angenehme Weise anders waren als ich selbst, dass ich bei jedem zweiten gerne gewusst hätte, was ihn treibt, was sie macht, was er ist, was sie will. Ja, es war ein Fest der Andersartigkeit, ein Tag, der die Neugier auf Trab gebracht, der jeden, der ihn erlebt hat, für den Rest seines Lebens freier, offener, stärker gemacht haben dürfte. Und zu bedauern jeder, der nicht dabei war.

Nicht, in dem, was man wollte, war man sich einig, sondern in dem, was man nicht wollte. Aber allein dadurch entstand ein so freisinniger Einklang, der etwas von dem vorweg genommen hat, was man wollen sollte, nämlich wenigstens: sich gegenseitig lassen. Und denkt man an die freundlichen, wachen, fröhlichen Gesichter, so schienen das auch alle begriffen zu haben. Denn endlich einmal war man nicht umgeben von den ewig gleichgeschalteten Dumfpnasen, die alle vier Jahre ihr Kreuz machen, ansonsten ihre Autos waschen und jeden für weltfremd halten, der kein Fernsehen guckt und immer noch nicht glauben will, dass es das Kapital ist, das arbeitet.

Und diesen Tag wollte man uns verbieten, diesen gottgeilen Tag meinte man, durch eine Armee hochgerüsteter Polizisten klein halten zu können: diese andere Welt, diesen Vorgriff, diesen herrlich freien, kurzen Traum. Kaum zu fassen, von welch mickrigen Luschen wir uns regieren lassen! Aber diesmal sind sie nicht durchgekommen. Dieser Tag war stärker. Man kann ihn uns nicht mehr nehmen.


“Natürlich ist das eine Illusion, dieses vermischte Tanzen …” (Franz Josef Degenhardt)


Todestag von Langston Hughes.


Freitag, 18. Mai 2012 – Zehnuhrneun, vierzehnkommaneun. Bedeckt.


Gestern vor der Paulskirche – verboten, aber fröhlich. Halte Ausschau nach Freunden. Niemand da? Jemand verteilt Grundgesetze, die in die Höhe gehalten werden. Aufgebracht, wütend sind vor allem die Älteren. Rundum Polizei, wie immer: “Verlassen Sie den Platz, Sie machen sich strafbar!” Tja, was muss, das muss. Viele kleine, schöne Aktionen. Ein Anwalt, Inhaber einer Wirtschaftskanzlei, der eine Lautsprecheranlage dabei hat und Grundsatzurteile zum Demonstrationsverbot vorliest. Drei Musiker in schwarzen Hosen und weißen Hemden, die ein klassisches Stück spielen und am Ende, als die Touristen ihnen applaudieren, “Solidarität mit Griechenland!” rufen. Eine junge Frau mit einem Baby im Arm stellt sich vor den Kordon der Uniformierten und singt lauthals und gutgelaunt ein Gospel. Leute mit Rucksäcken und Zelten.

Wo sind die Frankfurter Grünen, wo die Sozialdemokraten? Ach, sie sollen sich schämen!

“Die Versammlungsfreiheit ist ein Grundrecht, das wir sehr hoch halten”, erklärt die CDU. So hoch, dass wir nicht mehr drankommen. Man wird sich die Namen merken: Boris Rhein, Christean Wagner, Markus Frank.


Ein Buch, dem man wünscht, es würde Pflichtlektüre im Gemeinschafts- kunde-Unterricht: “Ricardas Tochter – Leben zwischen Deutschland und Israel” von Jutta Schwerin. Charlotte hat es lektoriert und mir letzte Woche geschenkt. Wie frei, wie klug, wie unbeirrbar die Autorin ist. Sie war für die Grünen im Bundestag, hat die Partei dann aber wieder verlassen: “Ich war zu anders als sie, zu links, zu feministisch, zu lesbisch und zu erschrocken über die Wiederherstellung eines großen Deutschlands”. Und wohl auch: zu jüdisch.

In New York besucht Jutta Schwerin ihre Freundin, die dreiundneunzigjährige Fotografin Ellen Auerbach, die sich selbst für gänzlich unpolitisch hält und erklärt: “Ich wähle nie, mein ganzes Leben lang nicht. Allein das Ansinnen dieser Leute, gewählt zu werden, schon ihr Ehrgeiz bringt mich gegen sie auf!”


Live-Ticker der Frankfurter Rundschau, heute: “12 Uhr: Auf der Kreuzung Wilhelm-Leuschner-Straße/Mainluststraße haben sich etwa 25 Personen auf die Straße gesetzt. Die Aktivisten singen auf Holländisch oder Schwedisch die Internationale. Die deutschen Aktivisten antworten mit dem Arbeiter-Einheitsfrontlied . Die Polizei macht sich bereit, die Blockade aufzulösen.”


Todestag von Heinrich Albertz.


Sonntag, 13. Mai 2012 – Fünfuhrachtunddreißig, vierkommadrei. Die Eisheiligen. Hell.


Am Mittwochabend, ein Platz in der Nähe des Bahnhofs Friedrichstraße, der Reisende setzt sich auf eine Bank. Eine ältere Dame, ihr rostiges Fahrrad schiebend, umkreist den Platz und durchsucht die Abfalleimer nach Pfandgut. Ob es denn hier irgendwo ein Lebensmittelgeschäft gebe, frage ich, als sie vorüber kommt. Nein, sagt die Dame, die Großbaustelle habe auch die letzten kleinen Händler im Laufe des Jahres vertrieben. – Was denn gebaut werde? – “Schon wieder eine neue U-Bahn für die Bonzen.” – Für die Bonzen? – “Na, jedenfalls kann ich’s mir nicht leisten.”


Von dem Angler am Großen Wannsee will ich wissen, wie weit denn der Uferweg führe. – Antwort: “Hier kannste loofen bis zur Verjasung.”


Dort auch, auf dem Weg zur Liebermann-Villa, halte ich inne, um eine Siedlung schöner neuer Häuser zu bewundern: aus rotbraunen Klinkern gebaute Kuben mit riesigen Fensterflächen. Am Straßenrand hält ein Mercedes-Kombi, eine große Blonde steigt aus, schaut mich misstrauisch an. Ob es sich hier um private Wohnhäuser handele, frage ich rasch, um mein offenbar verdächtiges Interesse zu erklären. “Um was denn sonst, bitte, soll es sich handeln?” – Na, sage ich, vielleicht um universitäre Institute. – “Das”, patzt sie, “habe ich ja wirklich noch nie gehört!” – Erst jetzt sehe ich im Kofferraum ihres Wagens die beiden spitzmäuligen Kampfhunde. Sie legen die Köpfe schief und schauen mich an.


In der Kundenzeitschrift der Deutschen Bahn ein Interview mit der Fernsehfrau Judith Rakers. Geplapper wie man’s kennt. Dann, auf ihr Engagement in einem Obdachlosenprojekt angesprochen, sagt sie etwas Unerwartetes: “Ist das überhaupt ein Absturz? Oder vielleicht nur ein anderer Lebensentwurf? (…) Die meisten wünschen sich im tiefsten Innern, in ein normales Leben zurückzukehren. Auch wenn sie es nicht so hinkriegen. Aber ich denke auch, dass es viele Facetten gibt, wie man leben kann. Unser Weg ist nicht der einzig richtige. Es muss sich nicht alles an Leistung orientieren und an Geld. Wir leben in einer Gesellschaft, in der das so ist, und ich mache da auch mit. Aber ich könnte auch darauf verzichten.”


Verspätete Ankunft auf dem Frankfurter Hauptbahnhof, die Menge der Passagiere drängt eilig Richtung Ausgang. Entgegen kommt den Reisenden eine Frau, vielleicht Mitte dreißig, die Augen umschattet, die Arme vernarbt, taumelnd, ohne Zweifel drogenkrank. Sie schaut ins Leere, weint, und ruft dann, an niemanden und alle gewandt, mit ganz und gar jämmerlicher Stimme, wie aufjaulend eingedenk einer kürzlich zugefügten Kränkung: “Es können doch nicht alle so schön sein wie ihr.”


Zwanzigster Todestag von Gisela Elsner.




Dienstag, 1. Mai 2012 – Sechsuhrneunundvierzig, vierzehnkommafünf. Bedeckt.


Weißer Kies und nackte Bäuche; die Schultern schon verbrannt. Ja, ja, und eure Tulpen sehn aus wiene Tüte Lutschbonbons. Guckma, der da, mit seiner fleckigen Jogginghose. Das Mädchen verschwindet hinter einer Ecke, ihm folgen fünf, sechs, sieben junge Männer. Mach schön die Tür zu, hörst du! Mensch, wie der Weißdorn wächst und blüht, lauter Marienkäfer drin, hastegesehen. Nichsolaut, nichsolaut! Von dem Kind auf seinem Rädchen ist nichts zu sehen, außer dem Wimpel, der über der Hecke hin- und herschwimmt wie eine Haifischflosse. Soll ja nochma wieder kälter wern. Weißte was, die Katzen, die jag ich. Wo die Rotschwänze wohl dieses Jahr brüten?


Für den Marienkäfer gibt es über 1.500 unterschiedliche regionale Bezeichnungen. Ein einziges Exemplar frisst bis zu 50 Blattläuse am Tag. Marienkäfer sind auch Kannibalen. Hätten Sie’s gewusst?


Heute feiern wir den hundertsechzigsten Geburtstag von Calamaty Jane.

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Published on April 30, 2012 22:16

April 2, 2012

April 2012

Sonntag, 22. April 2012 – Vierzehnuhrneun, dreizehnkommaneun Grad. Wind, Wolken, Wasser.


“Aber die knappen Zeilen, die Günter Grass unter der Überschrift ‘Was gesagt werden muss’ veröffentlicht hat, werden einmal zu seinen wirkmächtigsten Worten zählen. Sie bezeichnen eine Zäsur. Es ist dieser eine Satz, hinter den wir künftig nicht mehr zurückkommen: ‘Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden.’ Dieser Satz hat einen Aufschrei ausgelöst. Weil er richtig ist. Und weil ein Deutscher ihn sagt, ein Schriftsteller, ein Nobelpreisträger, weil Günter Grass ihn sagt. Darin liegt ein Einschnitt. Dafür muss man Grass danken. Er hat es auf sich genommen, diesen Satz für uns alle auszusprechen. (…) Es muss uns nämlich endlich einer aus dem Schatten der Worte Angela Merkels holen, die sie im Jahr 2008 in Jerusalem gesprochen hat.”

(Holger Apfel, Bundesvorsitzender der NPD)


Richtigstellung: Anders als oben behauptet, stammt das Zitat nicht vom Bundesvorsitzenden der NPD, sondern von Jakob Augstein, Kolumnist bei “spiegel online” und Herausgeber der Wochenzeitung “freitag”.


Yoav Sapir, Deutschlandkorrespondent der israelischen Tageszeitung “Ma’ariv”, kommentiert: “Grass hat eigentlich nur das geschrieben, was die Mehrheit in Deutschland seit Jahren denkt und fühlt. (…) Durch das Loch, das Grass in ihn gebohrt hat, bricht zusehends der Damm der politischen Korrektheit. Das Schlussstrich-Verbot ist dahin. Kein anderer als Walsers leiblicher Sohn, Jakob Augstein, hat es so explizit zum Ausdruck gebracht.”


Käthe Kollwitz ist tot.


Mittwoch, 18. April 2012 – Sechzehnuhreinunddreißig, zwölfkommasechs. Wolkig, sonnig, schaurig, aprilig.


Spiegel online enthüllt: “Tierfreunde ahnen es schon lange, jetzt scheint es bewiesen: Pferde sind wahre Meister im Erkennen von Menschen. Ein Experiment ergab, dass die Vierbeiner allein anhand von Geruch, Aussehen oder dem Klang der Stimme eine fremde von einer vertrauten Person unterscheiden können.”

Da muss die Frage erlaubt sein, anhand von was ein Spiegel-online-Redakteur sich von einem Vierbeiner unterscheiden kann?


Königin Elisabeth I. habe, so wird berichtet, von ihren Hoffräulein verlangt, “so jungfräulich wie möglich zu bleiben”, was nun wirklich eine hübsche Formulierung ist. – “To remain in virgin state as much as may be”.


Hoffmann von Hoffmanswaldau ist tot. Aber schon ziemlich lange.


Donnerstag, 12. April 2012 – Zehnuhrvierundfünfzig, siebenkommadrei. Alles zu.


Ist es eigentlich normal, in diesem Alter umgeben zu sein von ebenfalls in die Jahre gekommenen Freunden und Bekannten, Männern wie Frauen, die immer noch schwer an ihrer Herkunft zu tragen haben? Die von ihren Eltern, den Vätern öfter als den Müttern, vor Jahrzehnten tyrannisiert, gezüchtigt, gedemütigt, misshandelt, missbraucht, verlassen oder einfach ignoriert wurden? Seitdem, was sonst, hat das Leben der Kinder einen Knacks. Die Mütter und Väter sind zumeist längst gestorben, der Knacks ist geblieben und wird nun bis ins Alter hinein analysiert und therapiert auf Teufel komm raus. Und ob er nun rauskommt oder nicht, der Teufel, er arbeitet weiter. Vergällt den Töchtern und Söhnen bis heute das Leben, zerstört ihre Freundschaften und Ehen, macht sie nervös, säuerlich, verbittert, schlaflos, abergläubisch, depressiv, verrückt, krank, unzumutbar.

Und forscht man nach, was denn das für Eltern gewesen sein mögen, findet man heraus, dass es, die Väter öfter als die Mütter, Nazis waren, kleine oder große, solche oder solche – oder sich von den Nazis zumindest ermuntert fühlen durften, ihre schlechtesten Seiten als erwünschte auszuleben.

Was ja heißt, dass diese zwölf Jahre bis heute ihr Gift verbreiten – bis in jede Verästelung unseres Alltags, bis in die nächste und übernächste Generation. Immer neue Opfer produzierend, die zu immer neuen Tätern werden – solchen oder solchen.

Ist es angesichts dessen spinös, sich wenigstens einmal das Andere, Bessere, Schönere vorzustellen? Dass es nicht so gekommen wäre, wie es gekommen ist. Dass Deutschland eine Republik geblieben wäre, ein ziviles, unzerstörtes Land mit unzerstörten Städten und einer reichen jüdischen Kultur. Was wäre dann heute anders? Die Antwort dürfte sein: Alles wäre anders, fast alles. Wir hätte andere Zeitungen, andere Nachrichten, andere Debatten, andere Bücher, eine andere Kunst, ein anderes Theater, andere Tage, andere Nächte, andere Freunde.


Todestag von Heinrich Nordhoff, ab 1942 Wehrwirtschaftsführer, später mit allen Orden der Bundesrepublik ausgezeichnet.


Mittwoch, 4. April 2012 – Fünfzehnuhrdrei, vierzehnkommanull. Wolken.


Mit seinem als Gedicht bezeichneten Text “Was gesagt werden muss” ist Günter Grass wieder dort gelandet, wo er herkam und hingehört – an der Seite seines Volkes. Die so genannte linksliberale Weltpresse druckt heute diesen Text, und in den Internet-Kommentaren johlt die gebildete Leserschaft (hier: der “Süddeutschen Zeitung”):


“Recht hat er.”

“Die Antisemitismuskeule wird wieder geschwungen … Danke für Ihren Mut, Herr Grass!”

“Der Mann hat so was von Recht.”

“Recht hat er, aber da kommt gleich wieder die Nazikeule raus.”

“Danke Hr. Grass und Danke SZ, dass Sie den Mut haben, die Wahrheit so poetisch brillant auf den Punkt zu bringen.”

“Es wird langsam Zeit, dass wir uns aus dem Schatten der Vergangenheit lösen … Die Ausführungen von Herr Grass sind von daher nicht nur richtig, sondern auch ausgewogen.”

“Grass hat Recht. Das zeigt deutlich die Reaktion aus Israel und vom Zentralrat der Juden.”

“Getroffene Hunde jaulen halt auf, umso stärker, umso mehr.”

“Es ist an der Zeit, dass die Welt ihre Stimme erhebt … Eine dieser Stimmen ist Grass. Endlich.”

“Interessant ist übrigens, dass Volkes Stimme, soweit sie hier im SZ-Forum halbwegs repräsentativ ist, zu völlig anderen Ergebnissen kommt als die offiziellen Verlautbarungen.”

“Glückwunsch, Herr Grass, dass Sie aussprechen, was 80% unserer Landsleute denken.”

“Ich freue mich, dass Herr Grass so schreibt … Sagt man etwas, ist man antisemitisch.”

“Endlich – das Schweigen der deutschen Intellektuellen, Literaten, Künstler war und ist skandalös. Gott sei Dank, wagt Grass es endlich zu sagen, was längst überfällig ist und macht sich unabhängig von der Staatsräson des Schweigens und der allumfassenden Manipulation der nackten Kaiser mit ihrer Propagandaabteilung.”

“Ich kann diesen antisemitischen Zirkus langsam nicht mehr hören. Mein Opa hat keinen Juden getötet …, mein Vater nicht und ich kenne noch nicht mal einen.”

“Nobelpreis war gerechtfertigt – Ganz große Poesie. Ich habe geweint. Danke, dass wir so einen großen Dichter haben!”

“Unsere feige Politiker-Mischpoke schweigt, weil sie die Reaktion der (Rothschild-) Zionisten fürchtet.”

“Meine Meinung ist mein menschliches Geburtsrecht – Da ich niemals einem Juden jemals etwas angetan habe, habe ich alles Recht der Welt, Israel zu kritisieren, was ich hiermit tue.”

“Eine unberechenbare, labile Regierung wie die israelische kann sich die Welt jedenfalls nicht leisten.”


Wenn das Volk einer Meinung ist, will auch die Partei “Die Linke” nicht abseits stehen. Deren Bundestagsabgeordneter Wolfgang Gehrcke teilt mit: “Günter Grass hat Recht … Günter Grass hat den Mut auszusprechen, was weithin verschwiegen wurde.”


Am 4. April 1945 starb im KZ Mittelbau-Dora im Alter von 38 Jahren der französische Widerstandskämpfer Jean Burger .


Montag, 2. April 2012 – Neunuhrsiebenundzwanzig, fünfkommanull. Bedeckt.


Am Freitag landet auf dem Dach des gegenüberliegenden Hauses ein Graureiher, rutscht – bedächtig, wie es scheint – die Schräge hinab, bleibt einen Moment auf der Regenrinne stehen, schaut sich um, segelt dann auf die Rasenfläche des Gartens, schreitet hochmütig über den schmalen Weg zwischen den Häusern, erhebt sich schließlich flügelschlagend, um die Enge der Siedlung zu fliehen, ins Offene, den Himmel …


Am Samstag mit dem Mountainbike durch die Stadt. Überall Polizeifahrzeuge, Motorräder, Streifenwagen, zahllose Mannschaftswagen. Im Kaisersack vor dem Hauptbahnhof Fahnen, Menschen, viele dunkel gekleidet, ein Lautsprecherwagen. Breit grinsen wir uns an, als ich überraschend auf Alex treffe. Dann Jutta, die ich frage, wer denn eigentlich aufgerufen habe zu dieser Demonstration. Nun, sagt sie, die reformistischen Kräfte habe man fürs Erste absichtsvoll außen vor gelassen, einfach, um mal zu sehen, wie viele Leute man selbst auf die Beine bringe. Immerhin, einige Tausend sind es geworden, ein Aufgebot, gegen das die Occupy-Aktionen wie ein Streichelzoo wirken. Knallt auch bald. Andrea und Peter sind ebenfalls da, eine Weile sind wir beieinander, verlieren uns aber schließlich. Martialisch, die hochgerüsteten Massen vermummter Polizisten, die in bedrohlich schweigenden Kordons die Straßen säumen. Eine solche Kulisse entschlossener Staatsschützer dürfte die Stadt zuletzt im Mai 1990 gesehen haben – während der “Nie-wieder-Deutschland!”-Demonstration.


Tot seit einem Jahr: Marc Fischer.

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Published on April 02, 2012 01:03

March 13, 2012

März 2012

Mittwoch, 28. März 2012 – Neunuhrfünfzig, zehnkommazwei. Seit Tagen schön. Blau mit Wolkenfetzen.


Gebeten, eine kleine Kolumne zu verfassen, sagte ich ja, schrieb sie und nannte sie “Stiller Sturm”. Als Wochen später das Magazin erschien, fanden sich dort mein Name und mein Foto, aber irrtümlicherweise der Text eines anderen Autors. Deshalb jetzt hier:


Ums Bett stapeln sich Bücher. Wie von selbst. Wie immer. Einschlafbücher, Aufwachbücher. Momentan: mal wieder die alltagswuchtigen Tagebücher John Cheevers, Max Frischs traumwandlerisch modernes „Montauk“, Adornos Poesiealbum der „Minima Moralia“, „The Drop“ von Michael Connelly. Und die gerade mit Vergnügen beendete kecke „Jane Eyre“ der Pfarrerstochter Charlotte Brontë.

Ist noch zu früh fürs Bett, also erst noch ein wenig Fernsehen. Aber überall nur Simulation, nur Bildmüll, Wortmüll, Kopfmüll. Hängen bleibe ich schließlich, als ein alter Mann, einst Mitglied der kambodschanischen Roten Khmer, vorführt, wie er seinen Gegnern mit einem Messer die Kehlen durchtrennt hat. Oft seien es so viele Kehlen gewesen, dass ihm die Hände geschmerzt hätten, dann habe er stattdessen zur Abwechslung in den Nacken gestochen. Aber schon die demonstrative Betroffenheitsmiene der anschließenden Moderatorin lässt mich wieder abrutschen. Fernseher aus!

Stattdessen gerate ich – fast unversehens – auf youtube an ein Gespräch, das Günter Gaus für die ARD im Jahr 2001 in der JVA Bruchsal mit dem ehemaligen RAF-Mann Christian Klar geführt hat. Der sitzt zu diesem Zeitpunkt seit 19 Jahren im Gefängnis. Klar ist kein Verblendeter, kein Spinner, kein Fanatiker. Stattdessen erleben wir einen zutiefst versehrten, aber keineswegs zerstörten politischen Menschen. Seinem Gesicht ist anzusehen, was er gemacht und was man mit ihm gemacht hat. Diese 50 Minuten sind ein stiller Sturm. Man sieht und hört das. Man erschrickt. Und wird es nie wieder vergessen.

Was bleibt? Ein Fernsehabend, der keiner wurde. Und die Erinnerung daran, was Fernsehen einmal konnte. Zurück zu den Büchern!


Tot ist Maria Augusta Trapp, Autorin von “Die Trapp-Familie. Vom Kloster zum Erfolg”, eines der Bücher, die in Opas Regal neben den Buddenbrooks, dem Archipel Gulag und Doktor Schiwago standen.


Mittwoch, 21. März 2012 – Vieruhrzweiundfünfzig, einskommasechs. Dunkel. Schon die Autobahn, schon die Vögel. Schluss mit der Entgeisterung.


Am Sonntag Saisoneröffnung in Niederdorfelden. Achtzig Kilometer durch den kalten Regen. Mit dreißig hausgemachten Bratwürsten als Beute nach Hause.


Montag: Kai Degenhardt im Club Voltaire. Ein Ort, als habe man die frühen siebziger Jahre plastiniert. Und so ist auch das Publikum: jauchzt und feixt, wenn die eigene Gesinnung durch ein Zauberwort des Künstlers gestreichelt wird. Gruselig.

Erich Schaffner erzählt, er sehe sich, seit er in Wolfgang Spielvogels Theaterstück “Buback” die Titelrolle spiele, den Attacken des in Frankfurt lebenden ehemaligen RAF-Mannes Günter Sonnenberg ausgesetzt, dessen Entourage einen Tisch weiter … Was für Geschichten, was für ein Land …

Und diese Frau, die mich so voller Verachtung, so ganz und gar hasserfüllt ansieht, wie es mir eigentlich noch nie widerfahren ist. Regelrecht zerfressen muss sie sein, die Dame, inwendig.

Als Atilla und ich schließlich mit unseren Mountainbikes durch die nächtliche Stadt brettern – jawohl: brettern – stellt uns im Oeder Weg doch prompt ein Streifenwagen, weil wir nicht Gewähr bieten, jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzutreten … nein, weil wir angeblich eine rote Ampel undsoweiter …


Dienstag, ins Frühbeet gesät: glatte Petersilie, Thai-Basilikum, Pimpinelle, großröhriger Schnittlauch, Knoblauch-Schnittlauch, rote Asia-Rauke, Rucola, Kerbel, Sauerampfer, Estragon, Tetra-Dill.


In seiner Kolumne wundert sich Jan Fleischhauer über die Zustimmung, die der neue Präsident bei SPD und Grünen findet: “Mit Joachim Gauck haben sie den konservativsten Bundespräsidenten gewählt, den Deutschland je hatte. Was das linke Lager heute als Sieg feiert, wird dort morgen schon als gewaltiger Irrtum gelten.”

Und zum ersten Mal finde ich mich in der misslichen Lage, Fleischhauer Recht geben zu müssen.


Im “Grünen Heinrich” gefunden: “Papierblumenfrühling”.


Passt: Todestag des “Kräuterpfarrers” Hermann-Josef Weidinger.


Dienstag, 13. März 2012 – Neunuhrfünfundzwanzig, sechskommaeins. Und … wo ist sie jetzt, die Sonne?


Wenn einem als Erwachsener ein anderer Erwachsener ein Märchen erzählt – wie Jörg neulich mir das von der “Klugen Else” -, dann wird man das unter die seltenen Momente der Gnade verbuchen dürfen.


Erinnerung: Wie Wolfgang Deichsel einmal in den Verlag kam, unterm Arm eine Kiste toter Frösche, deren plattgefahrene Kadaver er von der Straße aufgelesen hatte. Er wollte sie fotografiert haben – als Anschauungsmaterial für eine “Theorie des Platten”.


Max Reger, heißt es, habe Kritiken seiner Arbeit mit Vorliebe auf dem Klo gelesen. Mit folgenden Worten wandte er sich von dort aus an einen Rezensenten, der ihn verrissen hatte: “Ich sitze hier im kleinsten Raum und habe ihre Kritik vor mir. Gleich werde ich sie hinter mir haben.”


Durch mit André Müllers Buch über seine Begegnungen und Gespräche mit Peter Hacks. So klug Hacks war, so starrsinnig war er auch, so sehr fixiert auf seine Gegner. Seine eigene Haltung ließ er sich von diesen insofern diktieren, dass er immer die am weitesten entfernte Position suchte. Was auch eine Form der Anpassung ist und einem Klassiker, der er partout sein wollte, dann doch nicht recht angemessen.

Seine Opposition reichte bis zur Wahl der Grabstätte. Keinesfalls mochte er auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof beerdigt werden, wo Hegel, Brecht, später Heiner Müller und Marcuse begraben wurden. Hacks: “Die Vereinigung der Konterrevolutionäre ist nun vollständig.”


Todestag von Kieslowski.


Dienstag, 6. März 2012 – Fünfzehnuhrsechsundfünfzig, zehnkommaacht. Schönster Tag des Jahres. Frühstück mit Katja Sämann im “Margarete”, Schlenker durch die Stadt und die halbe Welt läuft uns übern Weg.


Gestern Geisterbahn im Literaturhaus, dort das Gespräch zweier Damen:

“Isch geh gern zu so Dischderlesunge. In Bernem machese so was aach alsemo.”

“Ja, wann isch e Buch les, brauch isch net emo de Fännseher.”

“Isch iwwerleesch grad, ob isch mer gleisch e Buch kaaf.”

“Des braachsde ned, isch hab die all dehaam, die kannste von mir krieje.”

“Isch maan doch des neue.”

“Awwer 25 Euro sinn net wenisch.”

“Ja, awwer da könnt isch heut e Unnäschrift krieje.”

“Ach so. Ei waaste was, wenn de des willst, do deil mers uns halt. Isch

geb die Hälft dezu, un dadefier deff ischs zuerst lese. Un wenn ischs

fertisch hab, geb isch dirs und da haste dei Unnäschrift.”

“Ei ja, so kenne mers mache.”

(Protokoll Brigitte P.)


James Bowie ist tot. Der mit dem Messer.




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Freitag, 2. März 2012 – Zehnuhrsechsundfünfzig, sechskommavier. Verhangen. Nach dem Aufwachen ein bisschen im Pepys gelesen. Auf Diät. Keine Kohlenhydrate, kein Fett. Nichts. Schon wieder März.


In der Braubachstraße hat das “Margarete” eröffnet, zwei lang gestreckte Räume, vorne Glas, hinten Glas – vielleicht das schönste Aquarium der Stadt. Eine Kantine, in der man überall hinschauen mag: Holz, Beton, Stoff und diese wunderhübschen Lampen. Das Essen – ja, was soll man sagen, ohne in das Gastro-Jubel-Gestammel eines Gourmetdeppen zu verfallen? Ein süßer Foies Gras mit einem Streifen Mohn, Fisch mit Schweineschnauze, geräuchertes Dessert. Und das soll schmecken? Tja, wenn es doch so ist. “Echt lecker”, sagt jemand am Nebentisch, “aber ob die Portionen immer so klein sein werden?” Und Charlotte bemerkt, dass ihr die zunehmende Ausbreitung der Edelfressen nicht ganz geheuer sei. Wo ja nun auch wieder was dran ist.

Die Eröffnungsfische schwimmen so rum. Designer. Funktionäre. Fotografen. Lieferanten. Gastronomen. Politik. Kultur.

Die Kollegin F. beklagt, dass der Dichter M. sich ihr gegenüber in letzter Zeit recht spröde zeige, da er sich offensichtlich “den Anderen” zugewandt habe. Zum ersten Mal begreife ich, dass es selbst in der winzigen literarischen Szene dieser Stadt Fraktionen gibt. Bin froh, es bislang nicht bemerkt zu haben und nehme mir vor, es auch künftig nicht bemerken zu wollen.

No, no, no, I do not fit. No, no, no, I’m no part of it!


Heute vor vier Jahren starb im Alter von 41 Jahren der großartige Gitarrist und Sänger Jeff Healey an den Folgen eines bösartigen Netzhauttumors, der ihn schon als einjähriges Kind hatte erblinden lassen.

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Published on March 13, 2012 01:42

February 3, 2012

Februar 2012

Mittwoch, 29. Februar 2012 - Achtuhreinundvierzig, siebenkommaneun Grad. Alles grau. Wach seit vier. Was ist denn jetzt los? Über Nacht hat sich die Zahl der Geisterbahn-Besucher verdreifacht – “Was soll wohl los sein? Der Fihilm!” – Ach so, der Fihilm, der Fihilm.


An kaum einem Ort benehmen sich die Leute so haltlos wie auf dem Parkplatz einer Raststätte – zumal in einer Sommernacht, zumal bei großer Hitze.

Und selten sind sie befangener, verstellter als beim Betreten eines Restaurants, das sie “fein” nennen.


Der Schrecken sitzt, den mir Annette verschafft hat, als sie darauf hinwies, wie oft das Wort “verkommen” in der Geisterbahn auftaucht. Aus welcher Gemütslage steigt ein solcher Begriff denn auf? Aus einer der Selbstgerechtigkeit? Der Bösartigkeit? Jedenfalls ist es nicht damit getan, das Wort künftig zu vermeiden.


Nur wenige Tote an diesem seltenen Tag.



Sonntag, 26. Februar 2012 – Zehnuhrsiebenunddreißig, fünfkommaneun. Wolken mit was Blau dazwischen.


Gestern Abend im Literaturhaus. Hauke Hückstädt, der freundliche Leiter, schleppt Stühle herbei. “Oh”, sage ich, “hier kocht der Chef” und helfe ihm. “So kann man sich auch beliebt machen”, sagt er und lächelt. Meint er sich oder meint er mich? Hätte ich mich wirklich beliebt gemacht, wäre das eine Premiere und sollte nicht wieder vorkommen. Ich verspreche, keine Stühle mehr zu schleppen.

Das Hörspiel “Vier Lehrmeister” des Chinesen Liao Yiwu wird heute hier als “Hörspiel des Jahres” ausgezeichnet. Mehrmals wird betont, dass der Preis nicht dotiert, mithin ein reiner Ehrenpreis sei. Nach der diesjährigen Entscheidung der Jury kann von Ehre keine Rede mehr sein. Zum Glück habe ich nichts zu sagen, sonst hätten die drei Juroren jetzt Berufsverbot. Das Werk ist eine kreuzbrave Weihestunde, poetisch infantil, ästhetisch noch nicht mal schlichtes Biedermeier. Hätte ein deutscher Autor aus einem hiesigen Stoff etwas Ähnliches gemacht, wäre er nicht zu Unrecht gepriesen, sondern zu Recht belächelt worden.

Zum Abschluss und Höhepunkt des Abends gibt uns der Chinese einige Beispiele seiner “hohen Vortragskunst”: Er traktiert eine Klangschale und jault in den Saal. Die Bevölkerung ist begeistert. Als ich wiederholt auf Beifall verzichte, wird neben mir umso frenetischer applaudiert. Ich nehme mir vor: Sollte mich gleich im Foyer jemand fragen, wie es mir gefallen hat, werde ich sagen, ich sei noch zu ergriffen, als dass ich mich schon äußern könne.


Wahrhaftig: Man kann gar nicht genug versäumen.


Todestag von Max Taut.



Freitag, 24. Februar 2012 – Zehnuhrvier, sechskommaneun. Feuchte Welt.


Das Gauck. Es gibt uns schonmal einen Vorgeschmack. Der Mann saß im Taxi, als ihn der Anruf der Kanzlerin erreichte, dass er nun doch Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten werden könne; er solle bitte ins Kanzleramt kommen. Gauck zum Taxichauffeur: “Sie fahren den neuen Bundespräsidenten. Wir ändern die Richtung.” Da war er gerade mal geworden, was er ist und bleiben sollte: ein Kandidat, sonst nichts.

Gestern dann, als in Berlin die Gedenkveranstaltung für die zehn Opfer der Nazimorde stattfand, ließ er ein Foto von sich und drei türkischen Frauen machen. Gauck: “Mit schönen Menschen lasse ich mich gerne fotografieren.”

Frau Merkel wusste schon, warum sie das nicht haben wollte.


Titelseite der rechten Wochenzeitung “junge freiheit” zur Gauck-Nominierung: “Wir sind Präsident”.


Als die Partei “Die Linke” bekannt gab, dass sie als Gegenkandidatin Beate Klarsfeld ins Rennen schicken wolle, dachte man: “Oha, das ist ein Coup!” Nur einen Tag später hieß es dann aber, es gebe innerparteiliche Vorbehalte gegen eine solche Kandidatin, viele Mitglieder hielten Frau Klarsfeld für … Na, für was wohl? Zu israelfreundlich.

Mit Antifaschismus schmückt man sich gerne in dieser Partei. Am liebsten hätte man ihn wohl “judenfrei”.


Tot ist der Rennfahrer René Le Bègue. Er starb an einer Kohlen- monoxidvergiftung. Wirklich.



Dienstag, 21. Februar 2012 – Achtuhrvier, minus dreikommazwei. Wolkig, aber wird.


Vergesst Wulff, vergesst Gauck, vergesst Kracht, vergesst die ganze Tageszeitungsscheiße! Lest Chotjewitz!

Nach “Mit Jünger ein’ Joint aufm Sofa, auf dem schon Goebbels saß” bin ich gerade durch mit “Mein Freund Klaus” – dem todtraurigen, fünfhundertsiebzig Seiten dicken Vorläufer. Klaus ist Klaus Croissant, jener Anwalt, den man uns nach Baadermeinhofensslins Tod als das damals neueste Megagruselmonster verkaufen wollte und mir erfolgreich als ein solches verkauft hat.

Chotjewitz war mit seinem geächteten, gehetzen, verfolgten, verhafteten, verurteilten Kollegen Croissant befreundet, ohne ihn recht zu kennen. Also macht er sich nach dessen Tod auf Spurensuche – akribisch, penetrant, skrupulös, neugierig, freundlich, fleißig, insistierend. Er reist durch die Republik, fragt Freunde, Geliebte, Genossen, Verwandte, Wichtigtuer, Gegner, Arschlöcher, alle, die etwas zu sagen haben oder das nur meinen und bereit sind, zu sprechen. Und schreibt das alles auf.

Es geht um die RAF, um den Staat, um Moral, um Mut, um Unterwerfung, um Verrat, um Demokratie, um Hoffnung, um Anstand, um Wahnsinn, um Hysterie, um niederträchtiges Beamtentum und täglichen Faschismus, um die DDR, die Stasi, die Nazis, die Zukunft. So. Und jetzt? Die RAF ist tot und vergessen, die DDR ist tot und vergessen, Croissant ist tot und vergessen, Chotjewitz ist tot und vergessen. Alles spricht dagegen, dieses Buch zu lesen, das keinen außer mich interessiert. Und als ich die ersten Seiten hinter mir habe, spricht alles dagegen, es nicht zu lesen.

Das Buch ist die Flaschenpost für eine Zukunft, die es nicht geben wird ohne dieses Buch. Man möchte Chotjewitz dauernd widersprechen, möchte aufbegehren gegen seinen Starrsinn, zuckt zurück vor seiner Konsequenz. Und weiß doch im selben Moment: Es geht nicht weiter, ohne das alles zur Kenntnis zu nehmen. Chotjewitz mag nicht frei von Irrtümern, von Verstiegenheiten sein, aber immerhin ist er frei von Lügen, von Kriecherei, was man von kaum einem anderen Darsteller dieser Ereignisse behaupten kann. Und glaubt mir, ich habe sie fast alle gelesen: Stefan Aust, Mario Krebs, Willi Winkler, Butz Peters und die Dokumente, Aussagen, Beichten, Kniefälle und Selbstrechtfertigungen der zahlreichen mehr oder weniger Beteiligten auf der einen oder der anderen Seite. Vergesst das alles! Lest “Mein Freund Klaus”!

Was Brigitte Reimanns Tagebücher für die Wahrheit des deutschen Ostens, sind Chotjewitz’ Bücher für die Wahrheit des deutschen Westens. Sie korrigieren einander gegenseitig. Lest beides, wenn ihr wissen wollt, wo wir herkommen! Und wenn ihr immer noch nicht ganz davon überzeugt sein wollt, dass Gauck und Merkel das Ende aller Geschichte sind.


So, und ich reite nun in die nächsten Jagdgründe. Peter Hacks, ich komme …


Und weil es so schön passt, gleich die erste Beute:

“Recht hin, Recht wieder her, das habt ihr lernen müssen:

Wenns euer Recht nicht ist, seid ihr mit Recht beschissen.”


Allein der zweite Satz hat drei Bedeutungen; und jede stimmt. Wem da nicht das Herz aufgeht …


Auch das noch: Die Reimann hat heute neununddreißigsten Todestag.



Mittwoch, 15. Februar 2012 – Elfuhrfünfzehn, dreikommacht – plus, wohlgemerkt. Trotzdem vollkommen durchgefroren vom Fototermin auf dem nasskalten Lohrberg zurück.


Im gestrigen Spiegel beschreibt Georg Diez den Schriftsteller Christian Kracht als eine Art Stehgeiger des neuen Salonfaschismus. Die Argumente und Belege von Diez scheinen schlüssig; könnte also sein, dass an seinem Befund etwas dran ist. Könnte aber auch sein, dass Kracht bewusst die Grenzen zwischen Ästhetizismus und Antisemitismus verwischt hat, damit Diez so reagiert, wie er es nun getan hat. Könnte also sein, dass Kracht nur wollte, dass es in den Feuilletons kracht. Das tut es schon heute, mithin wäre sein Kalkül aufgegangen, sein Ziel erreicht. Dumm dastehen werden, so oder so, wieder die deutschen Juden – wie nach all diesen Debatten um Jünger, Fassbinder, Botho Strauß und Martin Walser. Denn vom Betrieb nobilitiert wurden am Ende immer die kurzzeitig inkriminierten Autoren. Das weiß Kracht. Das weiß auch Diez. Mithin hätten beide die Juden instrumentalisiert. Heißt das nun, dass man auf solche Debatten lieber verzichten sollte? Das weiß ich nicht. Ich weiß aber, dass der deutsche Jude Ignatz Bubis es vorzog, sich in Israel bestatten zu lassen.


Tot ist Daniel Fenner von Fenneberg.



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Donnerstag, 9. Februar 2012 – Elfuhrneun, minus neunkommaeins. Bedeckt.


Gesternmorgen 40 Minuten auf dem eisigen Bahnsteig am Frankfurter Hauptbahnhof. Dann Köln. Maritim Hotel am Heumarkt, Bistro Irgendwas. Pressekonferenz zur Ausstrahlung der “Braut im Schnee” mit Matthias Köberlin und Lancelot von Naso. Häppchen, Tässchen, Stoffserviettchen. Die Journalisten sehen alles so mürrischmüde aus, als müssten sie seit vielen Jahrhunderten die Klatschspalten des Müngersdorfer Wochen-Anzeigers füllen. Sofort fühle ich mich zu blöden Clownereien  genötigt. Peter und Tanja kommen, setzen sich an den Katzentisch, Elvis bellt. Köberlin hat halbhohe Budapester aus Wildleder an. Lancelot reißt das Ganze raus mit seiner Geschichte von den vor Kälte “zitternden Leichen” bei den Dreharbeiten. Später auf dem Klo textet mich ein Fotograf zu, “Boulevardfotograf”, sagt er, “aber nicht von der Bild”. Und dass der Schauspieler Jan-Gregor Kremp bei ihm gegenüber wohne und dass der so ein Guter sei, den man mal so richtig hochpushen müsse, so gut wie der sei undsoweiter undsoweiter. Bis ich sage, dass ich jetzt aber echt dringend mal … Hinterher kleine Sause mit Tanja, Peter und Lancelot, ins Parkhaus, in den Hasen … Zwei Kilo Moxxa-Espresso in der Aachener Straße. Retour. Am Gleis in Frankfurt dann überraschend ein fröhlicher Martin, der einen Freund abholt, welcher heute schon dreimal mit Napoleon und zweimal mit dem lieben Gott gesprochen habe. – ??? – Die Lösung: Der Mann ist Arzt in einer psychiatrischen Klinik.


Sylvia Rafael ist tot.


Montag, 6. Februar 2012 – Neunuhrsiebzehn, minus vierzehnkommaacht. Heiter.


Anhaltender Glücksrausch seit Samstag, seit die Postbotin geklingelt hat, seit ich Katja Sämanns Paket ausgepackt habe, seit das erste Exemplar des fetten Geisterbahn-Buches vor mir liegt. Ist das schön, fasst sich das gut an, liegt das gut in der Hand! Auf einem Bein drum herum getanzt. Schon lange nicht mehr so blödestolz gewesen. Voll Dankbarkeit. Nehme es immer wieder auf, blättere darin, lese mich fest, lache.

Chr.: “Echt gut geworden, sieht aus wie Brinkmann”.

P.: “Voll cool!”


Keiner tot!



Freitag, 3. Februar 2012 – Vierzehnuhrsiebzehn, minus fünfkommaacht. Blau.


Aposkatastroph: Heute nur ein Foto – von Jörg höchstselbst in Wiesbaden aufgenommen:



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Tot ist das Hend’l.



Donnerstag, 2. Februar 2010 – Achtuhrachtunddreißig, minus zehnkommaacht. Hell. Windig. Heiter.


Gestern wurde Helmut Dietls neuer Film in der Süddeutschen Zeitung prominent und gründlich verrissen (”ein sprachloses, aber immerhin gemeinschaftsstiftendes Entsetzen befiel die versammelten Kritiker”). Überschrieben wurde der Verriss mit zwei Wörtern: “Dietl’s Albtraum”. Nun darf man fragen, was der für Titel und Dietl zuständige Redakteur, der gewiss Headliner heißt, sich bei diesem Apostroph gedacht haben mag. Wahrscheinlich hielt er seine knackige Überschrift für die Abkürzung von: “Dem Dietl sein Albtraum”.


Und warum, da der Film ja “Zettl” heißt, nicht noch die schöne Anspielung auf Arno Schmidt mitnehmen: “Zettl’s Albtraum”?


Angesichts solcher Absurditäten sollte man es nicht meinen, aber: Charms ist tot.



Mittwoch, 1. Februar 2012 – Fünfuhrsiebenunddreißig, minus achtkommaeins. Dunkel.


Linker Antisemitismus, Teil III – Am 5. Januar 2012 veröffentlichte die Tageszeitung “junge welt” einen Aufruf, in dem es hieß: “Mit ständigen Kriegsdrohungen, dem Aufmarsch militärischer Kräfte an den Grenzen zu Iran und Syrien sowie mit Sabotage- und Terroraktionen von eingeschleusten ‘Spezialeinheiten’ halten die USA gemeinsam mit weiteren Nato-Staaten und Israel die beiden Länder in einem Ausnahmezustand, der sie zermürben soll”. Unterschrieben hatten diesen Aufruf unter anderem eine Reihe von Bundestagsabgeordneten der Partei “Die Linke”. Wieder prostestierte der Bundesarbeitskreis “Shalom” der Linksjugend: “Entgegen der Einschätzung des Appells sind es nicht die Nato, die USA oder Israel, die einen Bürgerkrieg in Syrien anfachen, sondern das syrische und iranische Regime … Beide Regime gehen dabei mit unglaublicher Brutalität gegen die eigene Zivilbevölkerung vor, z.B. mit Tötungen durch Scharfschützen, die sogenannte ‘Abschussquoten’ zu erfüllen haben … Mit plumpem Hass auf Amerika und Israel versuchen die Regime vom Terror gegen die eigene Bevölkerung abzulenken.” Die Protestnote von “Shalom” ist überschrieben mit den Worten: “Gegen linke Solidarität mit den Schlächtern von Syrien und Iran!”

Die Mandatsträger der Partei “Die Linke” schienen von diesen Einwänden unbeeindruckt zu bleiben und auch davon, dass ihre Unterschriften nun gemeinsam mit denen von bekennenden Antisemiten, Esoterikern, Verschwörungstheoretikern und rechtsradikalen Holocaust-Leugnern unter ein und demselben Appell stehen. Ganz im Gegenteil schien dieser Umstand die Anhänger und Funktionäre von DKP und “Die Linke” erst recht zu beflügeln: Die Zahl der Unterschriften aus diesem Spektrum vervielfachte sich in den Wochen seit Erscheinen. Egal, mit wem man paktieren muss, so scheint es derweil bei Linkspartei und DKP zu heißen, Hauptsache, es geht gegen die USA und gegen Israel. Nicht die Antisemiten, nicht Ahmadinedschad, nicht Ali Chamenei und Assad sind die Gegner, sondern die Kritiker aus den eigenen Reihen, die “Shalom-Denunzianten”, die “Dreigroschenjungen”, die “Kriegstreiber des Tages” der Bundesarbeitsgemeinschaft “Shalom” – wie die “junge welt” schreibt.


Am 1. Februar 1934 wurden die Kommunisten John Schehr, Eugen Schönhaar, Rudolf Schwarz und Erich Steinfurth von Männern der SA erschossen.


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Published on February 03, 2012 05:33

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Jan Seghers
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