Jan Seghers's Blog, page 5

January 3, 2012

Januar 2012

Dienstag, 31. Januar 2012 – Fünfuhrachtundfünfzig, minus nullkommasechs. Dunkel. Wach seit Viertel vor Vier, aber okay. Weiter in den Minima Moralia.


Linker Antisemitismus, Teil II. Selbes Thema, selbes Schema – Der Jugendverband der Partei “Die Linke” heißt “solid”. Innerhalb von “solid” gibt es einen Bundesarbeitskreis, der sich “BAK Shalom” nennt. Samuel Salzborn, Sozialwissenschaftler aus Gießen, und Sebastian Voigt, Mitbegründer von “Shalom”, haben gemeinsam einen Aufsatz verfasst, in dem sie antisemitische Tendenzen in der Linkspartei untersuchen. Obwohl die Autoren eher vorsichtig argumentieren und im Zweifel keine Böswilligkeit bei den Akteuren der Linken unterstellen, erregte das Papier bundesweit Aufsehen. “Die Linke” wies die Ausführungen zunächst in Bausch und Bogen zurück (Gysi: “schlicht Blödsinn”), sah sich dann aber aufgrund der sachlichen Darstellung und einer Fragestunde im Bundestag doch in Zugzwang und gelobte Besserung. Allerdings nur, um schon bald genervt auf die anhaltende Kritik von “Shalom” zu reagieren. Dieser Tage rang Knut Mellenthin in der “jungen welt” nach Worten, um die unangenehme Diskussion zu beenden und befand abschließend, dass das Dokument nichts weiter als eine “primitive Kampfschrift” sei: “In Wirklichkeit handelte es sich bei der ‘Studie’ um politische Agitation, und zwar von der schmutzigsten, unredlichsten Sorte.” Statt innezuhalten und sich der eigenen Defizite gewahr zu werden, brandmarkt man die zaghaften Kritiker als Feinde und gibt sie damit gleichsam “zum Abschuss frei”.


Am 31. Januar 1911 starb Paul Singer, zu dessen Beerdigung fast eine Million Menschen kamen.



Montag, 30. Januar 2012 – Elfuhrvierundfünfzig, nullkommazwei. Ostwind.


Linker Antisemitismus, Teil I – Wer sich die Texte der Hiphop-Gruppe “die bandbreite” ansieht, wird rasch gewahr, das hier im Gewand antikapitalistischer Phrasen sexistische, verschwörungstheoretische und strukturell antisemitische Inhalte transportiert werden. Die Deutsche Kommunistische Partei hatte die Musiker zu ihrem letztjährigen UZ-Pressefest zunächst ein-, nach interner Kritik jedoch wieder ausgeladen. Daraufhin aber erhob sich in der Partei ein so lautstarker Protest gegen die internen Kritiker, dass man die Ausladung wieder rückgängig machte und das nun doch stattfindende Konzert der Antisemiten “zu einem Höhepunkt des Festes” der Kommunisten werden konnte. Die unterlegenen Gegner der “bandbreite” waren derweil zu “Meinungsterroristen” (Rainer Rupp) erklärt worden, die “von innen her das Rot aus den Wangen der Linken saugen” (Diether Dehm). Die kommunistische “Neue Rheinische Zeitung” schrieb: “Die Linke demontiert sich selbst und zerfleischt sich in aufgepflanzten Debatten, zum Beispiel über real weitgehend nicht existierenden Antisemitismus”. Man schloss die Reihen und verwahrte sich gegen “die üble Kampagnen-Masche” und die “dubiose, teils anonyme Internethetze”: “Keinen Fußbreit dürfen wir weichen.” Wem? Den Judenfreunden? Den Juden?


Gandhi ist tot.



Sonntag, 29. Januar 2012 – Elfuhreinundfünfzig. Nullkommavier. Bedeckt.


In unserer Siedlung, wo Einkommen, Wohnfläche und Bildungsniveau ein wenig über dem Durchschnitt liegen, wo man den Rücken zur Stadt, mithin zur umgebenden Welt ein wenig rund macht, kann man sonntagmorgens an der Bäckereitheke des Supermarktes Brot und Kuchen erwerben und trifft dabei fast unausweichlich auf einen Typus Mann, der nicht nur Sympathie weckt. “Ich weiß gar nicht”, sagt F., “warum mich diese jungen, gut verdienenden Väter so aufbringen. Aber sie sind so leutselig, so selbstgerecht, sie gehen so demonstrativ verständnisvoll mit ihren Gören um, dass alles an ihnen zu sagen scheint: Seht her, was ich für ein guter, neuer Vater bin! Wirklich, man möchte ihnen eine Rotte rüpelner Russen auf den Hals …”


Das Glück, Adorno zu lesen. – Mit ihm geht nicht alles, aber ohne ihn geht nichts. Fehler macht gottlob auch er: So freut man sich über die Superlative “blindeste” und “tödlichste”, die man dennoch lieber nicht lesen möchte. Ganz anders als die Charakterisierung des Schlaumeiers, als der man sich gerade geriert hat: “Noch der armseligste Mensch ist fähig, die Schwächen des bedeutensten, noch der dümmste, die Denkfehler des klügsten zu erkennen.”


Sprichwort: “Die Heuchelei ist ein Kompliment an die Moral.”


Hermann Bang ist tot.



Dienstag, 24. Januar 2012 – Achtuhrzweiundfünfzig, dreikommadrei. Wolken, Sonne, Schnupfen.


Am Sonntag mit dem ICE nach Hamburg – Dammtor, Sternschanze, Neuer Pferdemarkt, Hotel Pacific, deprimierend, schnell wieder raus. Zu Fuß durch Sankt Pauli Richtung Fischmarkt. Unterwegs hinter dem Fenster einer Sportkneipe auf dem Riesenfernseher das Spiel HSV gegen Dortmund. Der Zwischenstand 0:5. Kleiner Hunger, durch die Große Elbstraße, durch die Dunkelheit, durch den Fusselregen. Überall nur solche Edelfressen, Hummerrestaurants etc. Dann aber doch eine verkommene Kaschemme, ich der einzige Gast, fettiger Wirt, schlechteste Frikadelle der Welt – wie gewünscht. Vor dem Golem steigt Ebermann aus dem Taxi, gebückt. Freue mich, Gremliza zu sehen, geht gleich um Rennräder (de Rosa, Gios). Wolfgang, Philipp, Dorothee und Katrin, die sich schrecklicherweise daran erinnert, dass wir uns am 28. Januar 1985 im Treppenhaus der Goebenstraße 9 eine ganz unmetaphorische Kopfnuss geteilt haben.

Dann diese Diskussion, kein Gespräch, sondern eher eine Vorlesung mit verteilten Rollen, von Ebermann dominiert – klug, aber schrecklich closed, monologisch, frei von jeder Neugier. Hinter allem so eine “erledigende Gebärde”. So dass ich am Ende dumm dastehe, wofür ich wohl auch einbestellt war. Na.

Als Zugabe noch ein kurzer, tragikomischer Auftritt von Tomayer. Und Gremlizas Schlusswort: “Es gibt kein richtiges Leben in Flaschen.”

Zum Glück dann munter am Tisch mit Piwitt und Ingrid. Als ich uns an der Theke einen Korn holen will, bescheidet mir der teuer beanzugte Schnöselkeeper, man habe nur Gin für 40 Euro das Glas, rückt dann aber doch zwei bezahlbare Stamperl Wodka raus. Seltsam, dass sich – außer Gremliza – alle ohne Abschied verkrümeln. Oder macht man das hier so?


“Ich habe überhaupt von der Liebe des Vaterlandes (es tut mit leid, dass ich Ihnen vielleicht meine Schande gestehen muss) keinen Begriff, und sie scheint mir aufs höchste eine heroische Schwachheit, die ich recht gern entbehre.” (Lessing in einem Brief an Gleim, 14. 2. 1759)


Todestag von Alexander Kanoldt, einem der langweiligsten Vertreter der Neuen Sachlichkeit. 1932 der NSDAP beigetreten, ‘33 gleich Professor geworden. Hat seinem Werk nichts genützt, wurde trotzdem als “entartet” verboten.



Montag, 16. Januar 2012 – Vierzehnuhrdreizehn, einskommasechs und wunderschön.


Spiegel online: “Europas Krise, Deutschlands Segen – Die Euro-Zone driftet immer stärker auseinander. Italien und Spanien zahlen für ihre Anleihen hohe Zinsen, der Bundesregierung dagegen schenken Investoren sogar Geld, damit sie bei ihnen Schulden macht. Auch bei Export und Arbeitsmarkt gilt: Viele EU-Länder leiden, Deutschland profitiert.”


George Steiner auf die Frage, ob er es für möglich halte, dass Europa zusammenbreche: “In seinem jetzigen Zustand ist das schon möglich. Doch irgendwie werden wir damit zurande kommen. Die Ironie ist, dass Deutschland wieder dominant werden könnte.”


Ingo Schulze über eine Lesung in Portugal: “Eine Frage aus dem Publikum ließ die gesamte freundlich-interessierte Atmosphäre von einem Moment auf den anderen kippen. Plötzlich waren wir nur noch Deutsche und Portugiesen, die sich feindlich gegenübersaßen. Die Frage war unschön – ob wir, gemeint war ich, ein Deutscher, nicht jetzt mit dem Euro das schafften, was wir damals mit unseren Panzern nicht geschafft hätten. Niemand aus dem Publikum widersprach.”


“Und ich habe Deutschland so geliebt.” – Das sollen die letzten Worte Mildred Harnacks gewesen sein, bevor sie am 16. Januar 1943 in Plötzensee unter dem Fallbeil starb.



Samstag, 14. Januar 2012 – Elfuhrdreiundvierzig, vierkommazwei. Ganz hübsch, der Himmel.


Lieber Götz,

es ist nett, dass Du Dich so eingängig mit meinen hingeworfenen Gedanken beschäftigst.

Freilich ist mir das schöne Jäger-Fischer-Hirte-Zitat seit Jugendtagen vertraut, nur: Es bezieht sich eben auf eine Gesellschaft, in der etwas erreicht ist, von dem wir weit entfernt sind. Nämlich auf “eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden Bedingung für die freie Entwicklung aller ist”. Und die “Kritik der kritischen Kritik” in der “Heiligen Familie” wird Dir doch auch nicht unbekannt sein.

Aber lass uns nicht mit Bibel-Zitaten fuchteln!

Es gibt vielleicht ein Defizit der Theorieaneignung, aber ein Theorie-Defizit sehe ich nicht. Es ist doch alles analysiert, es ist doch alles gesagt, was über die Zustände zu sagen ist – und bei Brecht, bei Peter Weiss, bei Piwitt und in Chotjewitz’ wunderbarem nachgelassenen Buch finden wir es auch auf beredteste Weise gesagt. Interpretiert ist die gegenwärtige Welt doch von allen Seiten – und “konkret” tut das jeden Monat aufs Neue. Langsam kommt es mir vor, als würden wir immer wieder versuchen, eine Kugel von allen Seiten zu beschreiben. Aber: Kömmt es nicht irgendwann mal darauf an, diese Welt zu verändern?

Kernpunkt unserer Auseinandersetzung scheint mir Deine Vermutung zu sein, dass jede politische Praxis jenseits der Theorie – jedenfalls momentan – affirmativ wirke. Ist das so? Sind wir also, wollen wir unserer Sache nicht schaden, zum “reinen Denken” verurteilt?

Du schreibst: “Unser Interesse kann nicht sein, den Kapitalismus daran zu hindern, die Äste abzusägen, auf denen er sitzt.” Klingt einleuchtend, kann aber auch zu ganz und gar zynischen Schlussfolgerungen führen. Denn Dein Satz heißt ja auch: Soll der Kapitalismus doch den eigenen Karren ruhig noch tiefer in den Dreck fahren! Aber was, wenn nicht er auf dem Karren sitzt, sondern wir es sind, genau wie wir es auch sein könnten, die auf den Ästen sitzen, die er absägt. Können wir die Kriegs- und Hungertoten verantworten, die es geben wird, wenn die Äste fallen? Und was kommt dann? Nicht vielleicht doch aufs Neue die Barbarei?

Und wirkt nicht – folgt man Deiner Argumentation – Deine Arbeit im Gefängnis ebenfalls stabilisierend? Machst Du die Jungs nicht erst wieder “fit for life”, damit sie aufs Neue verwertbar werden? Nein, das glaube ich nicht. Heiner Müller meinte, es sei wirkungsvoller, neben einem Bettler einen Hummer zu verspeisen, als ihm etwas in den Hut zu werfen. Ich kann und will da nicht mitmachen; lieber werfe ich ihm etwas in den Hut. Es kann richtig sein, der arbeitslosen Nachbarin zu helfen, ihren Antrag auszufüllen. Es kann richtig sein, eine Kreuzung zu blockieren. Es kann richtig sein, einen Hafen zu besetzen. Es kann richtig sein, alle Rechner lahmzulegen. Es kann richtig sein, ein Camp vor der Europäischen Zentralbank zu errichten.

Es sieht mir nicht so aus, als würde der Kapitalismus sich in absehbarer Zeit selbst abschaffen. Stattdessen ist er dabei, die bürgerliche Demokratie abzuschaffen. Und mir wird dieser Tage zum ersten Mal klar, wie sehr ich entschlossen bin, das Meine zu tun, sie zu verteidigen. Gegen den Kapitalismus. Und mit oder gegen Occupy.


Todestag von Philipp Reis, Erfinder des größten Folterinstrumentes der Menschheitsgeschichte.



Freitag, 13. Januar 2012 – Siebenuhrneunundvierzig, dreikommaacht. Noch dunkel.


Von Götz Eisenberg eine Replik auf meine letzten Einträge:


«Matthias ist seit Tagen damit beschäftigt, auf der Geisterbahn seine Enttäuschung über die Entwicklung der Frankfurter Occupy-Bewegung, sein Scheitern in ihr und die dumm-bösen Attacken auf ihn zu verarbeiten. Gestern notiert er – wohl als Frage an sich selbst: „Oder verzichtet man gleich ganz auf jede politische Praxis? Dann bliebe man kritischer Kritiker. Hätte immer Recht. Und wäre Autist.“

Warum konnotiert er das Handwerk der Kritik so negativ – als wäre nicht auch Denken eine Gestalt von Praxis. “Kritik … ist das theoretische Leben der Revolution”, schrieb Hans-Jürgen Krahl in seinen Thesen Zur Geschichtsphilosophie des autoritären Staates. Besonders in Zeiten revolutionärer Flaute besteht die Aufgabe der linken Theoretiker darin, sich auf den Hosenboden zu setzen und das Bestehende unter dem Aspekt seiner Veränderbarkeit zu analysieren, damit wir dann, wenn sich die Wirklichkeit wieder zum Gedanken drängt, imstande sind, den Massen zu interpretieren, was mit ihnen und uns los und was zu tun ist. Jeder Maulwurf hat seine unterirdischen Gefilde, hat der alte Marx gesagt und sich im Britischen Museum bei der Ausarbeitung seiner Kritik der politischen Ökonomie Furunkel in den Arsch gesessen. Im Übrigen träumte er ja von einer Gesellschaft, in der man im Laufe des Tages Jäger, Fischer, Hirte oder kritischer Kritiker sein kann und darf. Freilich kann die Rolle des Theoretikers mit einer Distanz zur Praxis verbunden sein – und ist in aller Regel damit verbunden – und für den Theoretiker eine gewisse Einsamkeit mit sich bringen. Aber das ist ja noch lange kein Autismus. Autismus ist ja der vollkommene Abbruch der Kommunikation und des Weltbezuges.

Wäre es nicht eine für Matthias/Jan Seghers angemessene Form der Praxis, wenn er sich im Medium seiner Lebenstätigkeit, also schreibend, mit den Praktiken der Hedgefonds-Manager und Spekulanten auseinandersetzen würde? Sein nächster Krimi könnte im Frankfurter Banken-Milieu spielen und auch die ganzen schrägen Vögel, denen er bei Occupy begegnet ist, könnten dort ihren Auftritt haben. Würde er der Occupy-Bewegung und ihren Anliegen auf diese Weise nicht mehr nützen als durch seine Präsenz im Camp?

Peter Brückner, der sich ständig einem Praxisterror ausgesetzt sah und aufgefordert wurde, doch endlich mal „was zu tun“, hat darauf stets gelassen geantwortet: „Diejenigen von uns, die das nach Lage der Dinge können, sollten sich gefälligst wieder zum kollektiven Theoretiker der Emanzipation entwickeln. Wie anders sollen wir lernen, zu interpretieren und zu intervenieren? Die theoretischen Köpfe sollen sich gefälligst an ihren Schreibtisch setzen, allerdings nicht nur an ihren Schreibtisch. Es wird ja auch auf der Straße erkannt, wie ja überhaupt die revolutionäre Theorie, die wir erarbeiten müssen, deutlich neben dem Systematischen auch ganz grob anti-systematische Züge tragen und auch in ihren Methoden praktisch sein wird.“

Wo ist denn unsere kritische Theorie der gegenwärtigen Gesellschaft, die das Leiden der Menschen an und in ihr beredt werden lässt und ihnen einen Weg aufzeigt, wie die Gesellschaft, in die sie eingespannt sind und die sich ihnen gegenüber als „alternativlos“ aufspreizt, geschichtsangemessen zu verändern wäre? Gegenstand unserer Kritik wären auch antreffbare Gestalten linker oder vermeintlich linker Praxis, die dem Typus der „realitätsgerechten Empörung“ angehören und letztlich nur tiefer ins Verhängnis hineinführen oder gegen die gegenwärtige Entwicklungsstufe des Kapitalismus dessen nächst höhere propagieren. Unser Interesse kann nicht sein, den Kapitalismus daran zu hindern, die Äste abzusägen, auf denen er sitzt.

Slavoj Zizek hat im Gespräch mit der TAZ die vorherrschende linke Praxis mit dem Verhalten eines Bauern verglichen, der mit seiner Frau unterwegs ist und auf der Straße einem Reiter begegnet. Dieser teilt dem Bauern mit, dass er nun dessen Frau vergewaltigen werde. Da die Straße schmutzig ist, soll der Bauer während der Vergewaltigung die Hoden des Reiters halten, damit sie nicht mit dem Straßenschmutz in Berührung kommen. Nachdem der Reiter seine Vergewaltigung beendet hat und weiter geritten ist, lacht der Bauer. Seine gedemütigte Frau ist empört und stellt ihren Mann zur Rede. Dieser entgegnet: „Ich habe ihm ein Schnippchen geschlagen. Ich habe seine Hoden gar nicht gehalten und nun sind sie schmutzig!“»


Am 13. Januar 1945, zwei Wochen vor der Befreiung, starb in Auschwitz-Birkenau der Berliner Arzt Victor Aronstein.



Mittwoch, 11. Januar 2012 – Neunuhrneunzehn, fünfkommsieben. Bedeckt. Gut geschlafen. Trainer.


Oder verzichtet man gleich ganz auf jede politische Praxis? Dann bliebe man kritischer Kritiker. Hätte immer Recht. Und wäre Autist.


Im Archiv der taz ein Porträt über Hadayattullah Hübsch, der am 4. Januar vorigen Jahres gestorben ist. Dort wird ein Brief aus dem Jahr 1979 zitiert, in dem der FAZ-Redakteur Erich Helmensdorfer seinem freien Mitarbeiter nach acht Jahren die Zusammenarbeit aufkündigt: “Ich halte es nicht für möglich, dass die FAZ einen freiberuflichen Mitarbeiter im Namen der Zeitung beschäftigt und damit in der Öffentlichkeit auftreten lässt, der in persönlichem Habitus und Umgang eine außergewöhnliche, jeglichen bürgerlichen Rahmen des Abendlands sprengende Erscheinung ist.”


Neunter Todestag von Mickey Finn (T. Rex).



Dienstag, 10. Januar 2012 – Elfuhrvierundzwanzig, achtkommaeins. Bedeckt. Westwind.


Dennoch, ganz durch bin ich mit der Sache noch nicht. Denn schließlich: Wie lange hat man gewartet, dass sich etwas rührt? Und das am Freitag Geschilderte ist ja auch nur ein Aspekt der Geschichte. Gibt ja eben doch eine ganze Menge kluger, wacher, einsatzfreudiger Leute in dieser Bewegung. Muss man nicht diesen helfen, sich durchzusetzen?

Oder setzen wir gar nicht mehr auf soziale Bewegungen? Aber auf was dann? Parteiarbeit? Gewerkschaftsarbeit? Bildungsarbeit? Publizistik? Wieder ein Marsch durch die Institutionen? Stadtguerilla?

Wenn ich doch nur aufhören könnte, die Welt retten zu wollen. Aber einmal zum Widerspruch entschieden, hat man wohl nicht mehr die Wahl.

Bei jeder Berührung mit dem sogenannten Volk dieses Frösteln. Bei jedem erschöpften Rückzug das Gefühl zu kapitulieren.


Todestag von Georg Forster, dem es kaum anders ging.



Freitag, 6. Januar 2012 – Sechskommadrei. Wolkig.


S. ist ein junger Mann, der seit Anfang Oktober, also von Beginn an, bei Occupy:Frankfurt aktiv ist. Schnell galt er den Medien als “das Gesicht” der Bewegung, oft wurde er als deren “Sprecher” bezeichnet. Da man bei Occupy:Frankfurt aber nicht den einen Repräsentanten der Bewegung wollte, wurde S. des öfteren ermahnt, nicht eigenmächtig Interviews zu geben und nicht im Namen aller zu sprechen.

Hinzu kam, dass S. immer wieder mit dem antisemitischen Zeitgeist-Movement in Verbindung gebracht wurde, was dem Ansehen von Occupy:Frankfurt jedenfalls in Teilen der Öffentlichkeit hätte schaden können. Ein Grund mehr, S. in die zweite Reihe zu bitten.

Allerdings: Der junge Mann mochte die Mikrofone allzu gerne, als dass er von ihnen hätte lassen wollen. Das wiederum verärgerte einen Teil seiner Mitstreiter. So war am 27. Dezember dann auf der Internet-Seite von Occupy:Frankfurt in einer Presseerklärung zu lesen, dass man sich von S. distanziere.

Indes stieß diese Distanzierung längst nicht bei allen Occupiern auf Gegenliebe, denn schließlich sei man eine offene Bewegung, an der jeder teilhaben, wo jeder alles sagen dürfe. So ließ man die Erklärung zwar auf der Internet-Seite stehen, verzichtete aber auf deren Umsetzung.

Nur wenige Tage später, am 31. Dezember, war S. bei der Demonstration und der Silvester-Party von Occupy:Frankfurt dabei – als “Chef vom Dienst”, wie ein Besucher bemerkte. S. trat als Sprecher bei der Demonstration auf, und – so steht es im Forum der Bewegung: “die Masse hat geklatscht”. Auf der abendlichen Party betätigte sich der junge Mann dann als DJ und hielt eine Rede an das “deutsche Volk”.

Wer nun – wie ich es getan habe – in besagtem Forum kritisch nachfragte, dem konnte es passieren, dass er der Paranoia bezichtigt oder als “Spalter” bezeichnet wurde, gar als “Untermensch”, bei dem man einen “genetischen Defekt” vermuten müsse.

Heute Nacht hat sich S. selbst in die Diskussion eingeschaltet und zu den Vorwürfen Stellung genommen: “Antisemitismus: Schwachsinn, damit ‘zieht man uns Deutsche auf’. In anderen Ländern lacht man uns dafür schon aus, hier darf ja keiner mehr den Mund irgendjemandem gegenüber aufmachen und es hagelt immer direkt Antisemitismusvorwürfe bei den kleinsten Anzeichen irgendeiner hypothetischen Verbindung zu eventuellen Gedanken im Unbewussten der betroffenen Person. PS: Zu sagen, dass ein das Sich-Aufhängen-an-einem-Wort falsch ist, heißt nicht, dass man irgendetwas gutheißt. Ja, ich habe das Deutsche Volk angesprochen.”

In einem anderen seiner nächtlichen Einträge platziert S. ein paar Links zu Beiträgen im Internet, die sein Wohlwollen finden. Einer dieser Links verweist auf einen Song der Musikgruppe “Crüxshadows”, welcher auf “Ideen der Tempelritter” basiere. Im Text dieses Liedes findet sich die Aufforderung: “Sei dieser Welt ein perfekter Ritter / Selbst wenn es dein Leben bedeutet”.

War nicht unlängst schon einmal von einem jungen Mann zu lesen, der sich als moderner Tempelritter versteht? Richtig, er sitzt in Norwegen in Haft; sein Name ist Anders Behring Breivik.

Hätte ich das Tagebuch meiner Erfahrungen mit Occupy:Frankfurt geführt, es wäre das Tagebuch einer zunehmenden Ernüchterung geworden, die freilich zuletzt in Entsetzen umgeschlagen ist.


Heute vor 71 Jahren starb Franz Hessel in Sanary-sur-Mer an den Folgen seiner Haft im Lager Les Milles.



Dienstag, 3. Januar 2012 – Vierzehnuhrzwei, sechskommadrei. Kopf im Nebel. Nebel im Kopf.


Ein Blick auf den Terminkalender zeigt, wie vielfältig die Aufgaben des Bundespräsidenten im Inland sind. Neben den “amtlichen” Funktionen, die sich aus den Vorschriften des Grundgesetzes ergeben, obliegen ihm als Staatsoberhaupt Aufgaben, die sich unter dem Begriff der “Staatspflege” zusammenfassen lassen.

Der Bundespräsident ist “lebendiges Symbol” des Staates. Über den Parteien stehend, wirkt er in Reden, Ansprachen, Gesprächen, durch Schirmherrschaften und andere Initiativen integrierend, moderierend und motivierend.


Hübsch formuliert. Diese Sätze habe ich gerade auf der Seite des Bundespräsidenten gefunden. Mal sehen, ob ich sie online bekomme, bevor der Amtsinhaber zurücktritt.


Im zweiten Teil wird “Jane Eyre” dann streckenweise doch recht schmockig, romantisch überspannt. Aber egal, jetzt stehe ich es durch.


Passt: Todestag der Schauspielerin Rachel, die sich Charlotte Bronte zum Vorbild ihrer Vashti in dem Roman “Villette” wählte.


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Published on January 03, 2012 05:23

December 1, 2011

Dezember 2011

Dienstag, 27. Dezember 2011 – Elfuhrsieben, siebenkommazwei. Alles öde, alles grau, alles still.


Heiligabend. Der Baum ist geschmückt. Im Radio ist ein Ros entsprungen. Die Glocken läuten zum Kirchgang. Das Nordend begrüßt einander zwischen den Bänken. Feistes Lächeln, brünstiges Gestöckel. Man lässt die Plagen gewähren. So unruhig wie dieses Jahr … man versteht kaum ein Wort. Adeste fidelis, Krippenspiel, sein Name ist Wunderbar, der Herr sei mit Euch. Brot für die Welt. Der Pfarrer lächelt, reicht uns die Hand. Die Autobahn ist trocken und frei. Seid ihr gut durchgekommen? Frohe Weihnachten. Der Rote schmeckt noch besser als im vorigen … Kinder, bin ich müde, ich glaube, es wird Zeit. Gut geschlafen? Selbst die Brust ist schön saftig geblieben. Tässchen Kaffee geht aber noch. Das war’s dann fast schon wieder. Zum Glück werden die Tage jetzt länger. Kommt gut heim, fahrt vorsichtig. Und meldet euch mal.


“Jane Eyre” – was für ein hinreißendes Buch. “Lady Ingram hielt es für geraten, die Hände zu ringen, und rang sie ausgiebig …”


Kay Boyle ist tot.


Samstag, 24. Dezember 2011 – Zwölfuhrdrei, sechskommasechs. Mächtig Sonne zwischen den Wolken. Wird Frühling.


Gestern Morgen vor dem Supermarkt: “Jungä Mann, isch waaß ned, ob Sie sisch erinnern könne. Mir hatte ma’n Außenministä, der hieß Fischä. Diesä Fischä war frühä die größte Sau im Frankfurtä Taxigewerbe gewese. Der hat immä am Funk gelauert und geguckt, ob er nem annän Fahrä die Kunde abfische kann, der Fischä. Einma hab ischn erwischt, wie er in Sachsehause in de Bindingstraß grad zwei Fahrgäst von mir einlade wollt. Isch habn gejahcht, dass er Schuh und Strümp verlorn hat. Die Fischä-Sau, die dreckisch.”


Ich weiß nicht, wie viele Leute ich inzwischen kennengelernt habe, die Joschka Fischer in seiner Frankfurter Zeit gekannt haben. Es war keiner darunter, der etwas Freundliches über ihn gesagt hätte.


Tot ist Sergei Stepanowitsch Tschachotin, der Erfinder der drei Pfeile.


Donnerstag, 22. Dezember 2011 – Siebzehnuhrachtzehn, sechskomma- null. Sprühregen. Dunkel.


Gestern, in der Stettenstraße mir gegenüber sitzend, rezitierte Michael Quast über die Gans hinweg diesen Kommentar zur aktuellen Finanzkrise:


Unser Schuldbuch sei vernichtet

Unbezahlt die ganze Welt!

Die verlieren nicht ihr Geld

Die das Unglück angerichtet!

Friedrich Stoltze, 1816-1891


Dave Dudley ist tot.


Montag, 19. Dezember 2011 – Zwölfuhrfünfzig, zweikommaeins. Heute Nacht erster Schnee.


Gestern Nachmittag kleines Glück in der Basilika von Ilbenstadt – von Martin Lücker beschert. Fröhlicher, heiterer habe ich das Esurientes aus Bachs Magnificat noch nie gehört als mit diesen Musikern und unter diesem Dirigat. – “Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen” – Und die Mezzosopranistin Alison Browner sah aus, wie ich mir Mary Poppins vorstelle. Warum eigentlich arbeiten, wenn man stattdessen solche Musik hören kann? Am Ausgang treffe ich dann Wolfgang R., den revolutionären Postboten, der seinerzeit keine Briefe mehr austragen durfte, weil er nicht Gewähr bot, jederzeit für diese freiheitliche undsoweiter … na, Sie wissen schon!


Im Magazin der Süddeutschen Zeitung eine ganzseitige Anzeige mit dem Slogan: “Streame alle Musik der Welt wireless in jeden Raum”. Grübele lange, welche Strafe für einen solchen Satz wohl angemessen wäre?


Lektüre: Jane Eyre


Gerade lese ich, dass die wunderbare Cesaria Evora am Samstag gestorben ist.



Dienstag, 13. Dezember 2011 – Siebenuhrsechsundfünfzig, fünfkomma- eins. Wach seit halbfünf. Wieder in der Albaret gelesen.


Heute mal nur ein Link:

http://wearethe99percent.tumblr.com/


Und noch einer:

http://www.guardian.co.uk/news/datablog/interactive/2011/oct/18/occupy-protests-map-world?fb=native


Vor zwei Jahren starb Lester William Polsfuss, genannt Les Paul.


Montag, 12. Dezember 2011 – Elfuhrvier, siebenkommavier. Graue, schwere Wolken. Regen.


Am Samstag schüttere, aber gut gestimmte Demonstration durch die Innenstadt. Als es ans Händchenhalten geht, schere ich rasch aus, ist mir zu touchy. Überhaupt, die Stammesfolklore dieser Bewegung ist nicht mein Ding – muss ja auch nicht. Dann zwei schöne Stunden im Camp. Eine solche Ausnahmesituation, erzählt mir einer, habe keiner der Bewohner zuvor erlebt. Das Camp sei wie ein Fleischwolf, psychisch, physisch, emotional extrem aufreibend. Ein anderer klagt über die sanitären und hygienischen Bedingungen. Untragbar, sagt er und zeigt seine verbundene Hand. Er hat sich eine Blutvergiftung zugezogen. Später wird er um ein paar Euro bitten, um sich ein Ticket für die Straßenbahn kaufen zu können. Die Schmerzen sind stärker geworden, er will in die Notaufnahme der Uniklinik … Am Sonntag soll die große Versammlung sein, wo entschieden wird, ob und wie es mit dem Camp weitergeht. Werdet ihr durchhalten?, frage ich. Schulterzucken. Mal sehen. Alle sind am Rand ihrer Kräfte. Ausgang offen.

Gestern auf die Autobahn nach Kassel. Papas fröhliche Sause im Fasanenhof. Abends erfüllt und erschöpft retour.

Heute früh gleich ins Netz. Gute Nachricht: das Camp hält durch. Es soll, hat man beschlossen, ein wenig straffer, ein bisschen geordneter zugehen. “Mehr Protest, weniger Urlaub!” sei die Devise. Gut so. Erleichtert.

Es gibt so viele Gründe, Distanz zu dieser Bewegung zu halten. Warum bekomme ich dann sofort ein schlechtes Gewissen, wenn ich mich ein paar Tage nicht im Camp habe blicken lassen?


Janácek ist tot.


Freitag, 9. Dezember 2011 – Neunuhrzweiunddreißig, siebenkommafünf. Nieselig. Westwind.


Und was, wenn wir weiter gelebt hätten, ohne diese Musik zu kennen? – Wären wir schön doof gewesen, oder? – Gestern Abend Daniel Kahn and The Painted Bird auf der Bühne der Brotfabrik. Klezmer, Irish Folk, Walzer, Märsche, Punk, Latin Groove, jiddisch, englisch, deutsch – alles vermanscht und vermischt. Das schnurrt und grölt und röhrt und lacht und stampft und schleicht und schwingt. Sehr charmant ist das, sehr entschlossen, wütend, dreckig, lässig, zärtlich. Irgendwie kommen mir dieser Daniel Kahn und seine Musik … ja, wie kommt mir das eigentlich vor? Ziemlich kommunistisch. Doch, ja, ziemlich lustig und entspannt kommunistisch. Nee, nee, Leute, das ist schon das Beste, was es im Moment zu hören gibt. Zum Schluss tritt der Sänger an den Rand der Bühne, lächelt, hebt den Arm, ballt die Faust und fordert das Publikum auf: “Steht weiter auf verlorenem Posten!”

(Am 5. Januar 2012 wird hr2-kultur um 21.30 Uhr die Aufzeichnung eines Konzertes mit Daniel Kahn and The Painted Bird senden).


Heute vor einhundert Jahren wurde Ödön von Horvath geboren. Am 1. Juni 1938 hat ihn im Pariser Exil ein herabstürzender Ast auf den Champs-Élysées erschlagen. Und eben bringt hr2-kultur das schöne Gedicht, das man in der Jackentasche des Toten fand (Überhaupt ist das meiste Angenehme, das einem in dieser Region hier widerfährt, mit hr2-kultur verbunden – dass es mal gesagt ist).


Und die Leute werden sagen

In fernen blauen Tagen

Wird es einmal recht

Was falsch ist und was echt.

Was falsch ist, wird verkommen

Obwohl es heute regiert,

Was echt ist, das soll kommen,

Obwohl es heute krepiert.


Donnerstag, 8. Dezember 2011 – Elfuhrvierundvierzig, fünfkommavier. Leicht bewölkt, Wind aus Südwesten.


Gestern Abend lief in “kulturzeit” die 12. Folge von Michael Bubacks sogenanntem Stammheim-Tagebuch, in dem es um den Prozess gegen Verena Becker und um den Versuch von Buback junior geht, Licht in das Dunkel um den Mord an seinem Vater zu bringen. Nun könnte ein filmisches Tagebuch in vieler Hinsicht reizvoll sein, wozu es allerdings eines reflektierten Umgangs mit einer solchen Form bedürfte. Stattdessen sehen wir das Ehepaar Buback im simulierten Zwiegespräch durch den herbstlichen Wald bei Göttingen flanieren, wir sehen Buback vor Gericht, in der Kantine und im Theater. Wir hören ihn und seine Frau über den Lauf der Zeit und ungerechte Behandlung lamentieren und erleben, wie andere ihnen zustimmen. Schließlich umarmt sich das Paar noch einmal im sonnendurchfluteten Wald und freut sich darüber, dass man die schlechte Welt manchmal sogar vergessen könne. Was ist das? Ein Tagebuch ist es nicht. Mit seriösem oder gar Qualitätsjournalismus hat es auch nichts zu tun, mit Aufklärung schon überhaupt nicht. Dagegen viel mit einer Werbung für Protefix-Haftcreme.


Rubén González ist tot.


Donnerstag, 1. Dezember 2011 – Neunuhrfünfundzwanzig, dreikomma- fünf. Grau, aber lau. Im November neuer Besucherrekord in der Geisterbahn.


Das Interview mit Karl-Theodor zu Guttenberg ist Anfang der Woche in Buchform erschienen. Einer der ersten Rezensenten bei amazon wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es im Berchtesgadener Land an der Graflhöhe ein Ausflugslokal gibt, das den schönen Namen “Windbeutelbaron” trägt. Allerdings wurde dieser Kommentar, wie so viele andere muntere Verrisse der letzten Tage, inzwischen von der amazon-Redaktion gelöscht.


Heute in der Süddeutschen Zeitung eine Reportage über Trinkhallen im Ruhrgebiet, die andernorts Büdchen, Kioske, Wasserhäuschen heißen. Dort wird von einem typischen Dialog vor Ort berichtet:

Wat krisse?

Tüte Lakritz.

Wie gehts?

Muss.


Ein weiterer Höhepunkt der Volksdichtung stammt aus Martin Lückers westfälischem Poesiealbum: Durch den Wald, da fliegt ein Vogel: Dies wünscht Dich Deine Tante.


Am 1. Dezember 1948 starb gegen zwei Uhr morgens im australischen Adelaide ein unbekannter Mann an einem unbekannten Gift. Herkunft und Identität des so genannten Somerton Man konnten bis heute nicht geklärt werden.

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Published on December 01, 2011 00:52

November 1, 2011

November 2011

Donnerstag, 24. November 2011 – Elfuhrachtundfünfzig, nullkommaeins. Nebel. Nass.


Unser Dorf soll schöner werden? Es ist (fast) vollbracht! Dazu die Meldung des Tages aus der Süddeutschen Zeitung: “Die Stadt Frankfurt will nach dem Umzug der Europäischen Zentralbank die berühmte Euro-Skulptur des Künstlers Ottmar Hörl vor dem aktuellen Bank-Hochhaus wegwerfen. Die Skulptur besteht aus einem blauen Euro-Zeichen mit gelben Sternen und ist ein Geschenk des Künstlers an die Bank. Ein Sprecher des Geldhauses deutete an, dass dieses kein gesteigertes Interesse mehr an dem Kunstwerk hat: ‘Manche Geschenke mag man eher als andere.’”

Da fragt man sich, warum die Banker ausgerechnet jetzt beginnen, mit ihrem Goldenen Kalb zu fremdeln und ob man sie so einfach davonkommen lassen sollte? Oder ob es nicht besser wäre, den Klotz mit grauem Spritzputz zu versehen und ihn als Mahnmal – wie Oliver Reese eben vorschlug – in ein Museum zu verfrachten.


Heute Nacht hat sich der Sänger Ludwig Hirsch (”Komm, großer schwarzer Vogel”) aus einem Fenster des Wiener Wilhelminenspitals zu Tode gestürzt.




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Montag, 21. November 2011 – Siebenuhrsechsundvierzig, einskommasechs. So ein zarter, lachsfarbener Streif über der Dachbegrünung.


Sinne immer noch darüber nach, was Charlotte, Adrian und Atilla am Freitag auf der Bühne eigentlich veranstaltet haben, um den Saal dermaßen zu verhexen. Mann, war da Strom in der Luft …


Es gab einige dumme Nachrufe auf Degenhardt. Die dümmsten erschienen in der jungen welt und im Neuen Deutschland, an Dummheit nur noch übertroffen von jenem in der UZ, der Zeitung der DKP. So viel Denkfaulheit ist von Niedertracht kaum noch zu unterscheiden.


Durch mit Eva Demskis “Rheingau”-Büchlein. Glitzernd, schwebend, aufs Feinste ausbalanciert. Lange her, dass man so beglückende, so anregende Reisebilder lesen konnte. Und dann kommt Jörg und schlägt vor, doch mal nach Johannisberg ins Weingut Trenz zu fahren, wo es Dreierlei vom Handkäs …


Heute vor einem Jahr starb Luis Corvalán, den ich einmal von weitem gesehen habe.



Mittwoch, 16. November 2011 – Elfuhrelf, nullkommaein Grad. Leicht bewölkt.


Gestern Abend gegen Mitternacht, als ich alles hinter mir gelassen hatte, die Nibelungen, den Herl und die Demski, die freundliche Wirtin mit ihren traurigen Geschichten aus Griechenland, die Bürgermeisterin mit ihrem Kohlenkastenlachen und die Nobelpreisträgerin, die so dünn und verloren am Katzentisch rauchte und so offenkundig gar nicht fassen wollte, dass wir einfach munter weiter quatschten, wo doch sie, keine drei Meter von uns entfernt … Als das alles hinter mir lag, nur die Gedanken an den toten Degenhardt nicht, suchte ich noch eine halbe Stunde Ablenkung in dem grünen Büchlein, das Eva uns zugesteckt hatte. Und fand dort stattdessen Trost in einer Prosa, die so luftig, so beherzt, so traumwandlerisch vom Rhein, vom Wein, von den Katzen, den Gänsen und Mädchen erzählt, dass ich gleich auch noch das schönste aller Rheinlieder hören wollte: “Am Strom und bei der Lorelei”.


Saramago hat Geburtstag.



Dienstag, 15. November 2011 – Achtuhrzweiundfünfzig, minus einkom- manull Grad. Wieder Nebel.


Vor dieser Nachricht hatte ich seit Jahren Angst: Der Degenhardt ist tot.



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Mittwoch, 9. November 2011 – Zehnuhrneun, vierkommavier. Grau, Ostwind, neblig.


Am Abend mit der U4 in die Stadt, vergesse an der Konstabler auszusteigen, fahre weiter bis zum Willy-Brandt-Platz, ein Gang durchs dunkle Camp. Um die Feuertonne eine Gruppe Roma, viele Obdachlose. Mir gefällt das. Es war Joss Fritz, der die Bettlerbanden Süddeutschlands zur Unterstützung der aufständischen Bauern organisiert hat.

Zu Fuß zum Club Voltaire, wo ich sicher zwanzig Jahre nicht mehr war. Ein Biotop aus den Sechzigern. Klaus Bittermann hatte eingeladen zur Titanic Sneak Preview, zu der er als auswärtiger “Stargast” gebeten war. Vor der Tür steht Jürgen Roth und sagt: “Bittermann ist krank. Ich bin heute Bittermann”.

Aber erstmal kommen die Titanic-Leute: Das Hauptobjekt ist Occupy; ist halt am einfachsten. Das Meiste ganz treffend, ganz fix. Trotzdem so eine Atmosphäre irgendwo zwischen Stefan Raab und einer intelligenten Schülerzeitung. Ziemlich verschwitzt. Nicht mein Milieu, aber muss ja auch nicht. Jürgen hat es schwer, liest Ausschnitte aus dem Chotjewitz-Buch – ein Autor, den in diesem lachwilligen Publikum kaum noch jemand kennt.

“Sich kaputtlachen” bekommt in solcher Umgebung eine neue, deprimierende Bedeutung.

Immerhin verspricht man mir die gesammelten “Titanic”-Kolumnen von Boehlich, womit es sich doch gelohnt hätte, aus dem Haus zu gehen.


Am 9. November 1848 wurde um 9 Uhr morgens Robert Blum am Jägerhaus in der Brigittenau bei Wien erschossen. Priestergebet und Augenbinde hatte er abgelehnt. “Alles, was ich empfinde, rinnt in Tränen dahin.”



Dienstag, 8. November 2011 – Achtuhrvier, fünfkommaeins. Hell.


Am Wochenende wurden in der Frankfurter Oper die Faust-Theaterpreise verliehen. Gegenüber vom Theater steht das Hochhaus der Europäischen Zentralbank, davor die große Skulptur des Euro-Symbols und drumherum lagern die Occupy-Leute in ihren Zelten. Oliver Reese, Intendant des Frankfurter Schauspiels zu “Kulturzeit”: “Ich bin erstmal ganz froh, dass das scheußlichste Pseudokunstwerk der Stadt, dieser abartige Groß-Euro von dem Möchtegern-Künstler Otmar Hörl, dass dieses Ding endlich seine optische Rechtfertigung bekommt. Ab jetzt wird man es sich nicht mehr ohne die Zelte und ohne die Transparente vorstellen können. Und das macht es auf einmal zum Gegenstand einer Performancekunst, womit man gar nicht mehr rechnen durfte”.

So dankbar ich Ihnen bin, verehrter Oliver Reese, nicht mehr allein zu sein in meinem Feldzug gegen dieses Schandmal unserer Stadt, schlage ich doch vor, dass wir uns nicht zufrieden geben mit seiner optischen Infragestellung, sondern stattdessen eines Nachts im Schutze der Dunkelheit, jeder mit einer Stange Dynamit in der Hand …


Tot ist der Zahnarzt und Revolverheld Doc Holliday



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Donnerstag, 3. November 2011 – Siebenuhrvier, achtkommaneun. Im Osten über den Dächern ein langer Streifen blau und rot und pink und grau und violett …


Bin zum zweiten Mal in den Erinnerungen von Chotjewitz versunken und lese ganze Passagen wie zum ersten Mal. Ich hatte sie bei der ersten Lektüre nicht aufgenommen, weil hier jede Seite so anregend ist, dass man dauernd freudig ins Sinnieren kommt oder aufspringen möchte, um einen vorher nie gedachten Gedanken zu notieren. Unendlich viele Überraschungen, Erfrischungen stecken in diesem Text. Und man ahnt, dass seine außerordentliche Wirkung auch darauf beruht, dass es eben zunächst eine mündliche Erzählung war, deren Abschrift allerdings von Jürgen Roth zu einem so federnden, luftigen, offenen Buch gemacht wurde, dass man meint, den Autor sprechen zu hören und das einem, egal, wo man es aufschlägt, schon seiner Form wegen gute Laune bereitet. Ein armer Tropf, wer meint, auf dieses Vergnügen verzichten zu können.


Sonst? Steuererklärung abgegeben. Mit Occupy demonstriert. Internationale gesungen. Die Freitreppe der Commerzbank besetzt. Die erste Hälfte der “Geisterbahn” korrigiert. Mit dem Wintertraining begonnen …


Am 3. November 1783 wurde der Straßenräuber John Austin als letzter Verurteilter am Galgen von Tyburn gehängt. Tyburn hatte bis dahin sechs Jahrhunderte lang als öffentliche Hinrichtungsstätte der City of London gedient. Die Redewendung “You’ll dance the Tyburn jig” hieß: Du wirst am Galgen zappeln.




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Published on November 01, 2011 23:47

October 5, 2011

Oktober 2011

Termine


Samstag, 29. Oktober, 12 Uhr, Rathenau-Platz, Frankfurt, Demonstration OCCUPY:FRANKFURT


Freitag, 18. November, 20 Uhr, DGB Haus Frankfurt, Ein Konzert für OCCUPY:FRANKFURT mit Jan Seghers und Atilla Korap (Ein kleiner Abend Glück) und Komaläufer (Musik für die kommende Zeit)


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Freitag, 28. Oktober 2011 – Sechsuhrdrei, vierkommazwei. Dunkel. Das erste Mal auf der Rolle gesessen, mühsam, was auch sonst. Heute zweiter Versuch.


Gestern weiter mit der Steuererklärung. Zwischendurch anderthalb Seiten für das Pressematerial des ZDF geschrieben – “Die Braut im Schnee” wird am 9. Januar um 20.15 Uhr ausgestrahlt. Angenehmes Hin und Her wegen der Flyer für unser Konzert im DGB-Haus. Abends nach Gelnhausen in die Marienkirche, wo Heiner und Sarkowicz ihre Grimmelshausen-Biografie vorstellen. Kurz ins Romanische Haus mit Alf, der erzählt, dass Gelnhausen von den Nazis zur “ersten judenfreien Stadt” Deutschlands erklärt worden sei. Döneria in der Frankfurter Str. 22, Autobahn, heim, Bett.


Schönste Lektüre des Tages: Der Erfahrungsbericht einer Bewohnerin des Frankfurter Occupy-Camps. So hat man gedacht, dass es sein würde.


Kann denn das sein – schon der fünfte Todestag von Peter Gingold?


Dienstag, 25. Oktober 2011 – Achtuhracht, achtkommavier. Himmel: blau. Und Wolken mit hübschen Lichträndern.


Die Offenheit der Occupy-Bewegung ist momentan ihre Qualität. Weil sie Projektionsfläche vieler Unzufriedenheiten ist, hat sie eine Dynamik entwickelt wie kaum eine andere Bewegung der letzten dreißig Jahre. Erstaunlich ist das, da es in ihr ja nicht um Partikularinteressen geht – wie um die Verhinderung einer Startbahn, eines Atomkraftwerks oder eines unterirdischen Bahnhofs -, da sie stattdessen ja auf das unsichtbare Herz des Systems zielt, da sie die Eigentumsfrage zu ihrer zentralen macht. Sie nennt sich mit einer gewissen Keckheit “revolutionär”, erklärt die Überwindung des Kapitalismus zu ihrem Ziel und scheint damit weder die christliche Buchhändlerin abzuschrecken, noch den esoterischen Chemiestudenten oder den pensionierten Wirtschaftskundelehrer. Die Offenheit der Bewegung ist keine taktische, sondern eine faktische. Ausgeschlossen werden von den Aktivisten lediglich rassistische, nationalistische, antisemitische, sexistische und homophobe Inhalte. So nennt sich die Bewegung zwar nicht links, kann aber kaum anders genannt werden – wenn auch in einem recht vagen Sinne. Wer sich an ihr beteiligt, bestimmt ihre Richtung mit. Es gibt für einen Linken im Moment keine wirklich guten Gründe, sie nicht zu begrüßen, zu unterstützen und durch eigene Erfahrungen und Einsichten zu stärken.

Freilich: Die Occupy-Bewegung ist so bunt, so offen, dass in ihr jede Dummheit zu Wort kommen kann und auch zu Wort kommt. Anstatt nun korrigierend einzugreifen, nehmen einige linke Kritiker solche Dummheiten zum Anlass, sich wortreich zu distanzieren. Mehr noch: Sie suchen geradezu nach Fehlern und nach Verstößen gegen das Reinheitsgebot der eigenen Lehre, um unter sich bleiben zu können und ihre Einsichten auch diesmal wieder nicht in politische Praxis münden lassen zu müssen. Bei manchen dieser linken Kritiker hat man den Eindruck, dass ihr gedanklicher Aufwand allein das Ziel hat, die eigene politische Praxis zu verhindern. Man darf noch unentschieden sein, ob es sich hier nur um akademisches Muckertum oder doch um eine Form von Feigheit handelt.

So offen sie jetzt noch ist, kann und wird die Occupy-Bewegung nicht bleiben. Was momentan ihre Stärke ist, würde andernfalls zu ihrer Schwäche werden.


Tot ist Geoffrey Chaucer.


Mittwoch, 19. Oktober 2010 – Fünfuhrfünfundfünfzig, sechskommaacht. Leichter Regen.


Gestern Nachmittag erst zu Meister Gepetto, der ganz aufgeräumt wirkt, dann weiter in die Stadt.

Direkt unter dem Euro-Symbol gegenüber vom Theater campen seit Samstag die Occupy-Leute. Sie haben ein Schild aufgestellt: “Wir sind die neuen Nachbarn”. Zwei junge Männer stehen in der Feldküche, geben Kaffee und Müsli aus. Von weiter hinten kommt Musik, Gitarre und Bongos. Ein Feuer blakt in der Tonne. Schon erstaunlich, was sich hier innerhalb nicht mal einer Woche getan hat. Unentwegt kommen ganz unterschiedliche Menschen vorbei, um Spenden zu bringen, Geld, Kleidung, Lebensmittel. Und um zu reden, zu gucken, zu hören, um etwas Demokratie zu schnuppern. Wie offen, zuversichtlich, freundlich, neugierig man hier ist. Die junge Frau hinter dem Infostand sagt den Satz, den man gerne von ihr hört: Sie habe in den letzten fünf Tagen mehr gelernt als in den bisherigen fünf Semestern ihres Politik-Studiums. Und dass sie dauernd merke, wie viel sie noch lernen muss. Sie erzählt, dass immer wieder Angestellte aus den umliegenden Banken vorbeikommen, die den Protestierern zu ihren Aktionen gratulieren und dabei bekennen, dass sie selbst nicht mehr weiter wissen. Da steigen also diese bedrängten, grauen, gut verdienenden Kreaturen aus ihren Türmen herab und wärmen sich am Anblick ihrer ungezähmten Gegner. Wäre es nicht eine Illusion, so könnte man vermuten: Das System zerbröselt von innen. Und dieses zottelige Zeltlager wird zum Gegenentwurf: Seht ihr, so geht es auch! – Ach, die Tage der Commune …

Dann klingelt das Handy der jungen Frau, sie entschuldigt sich und nimmt den Anruf entgegen: “Hallo, Papa. Ja, ich steh gerade am Infostand und erklär ein paar Leuten, was wir hier machen. Klar war ich heute Morgen in der Uni; ich bin doch eine fleißige Studentin. Hier ist alles gut. Bisschen windig halt. Ja, wenn du ein paar Seile mitbringen könntest, das wäre prima. Bis später!”


Occupy:Frankfurt !


Heute vor 15 Jahren haben Spürhunde der Polizei die Leiche Jakub Fiszmans in einem Waldstück bei Reckenroth im Taunus entdeckt.


Montag, 17. Oktober 2010 – Elfuhrzweiunddreißig, achtkommafünf. Grau.


Kaum dreht man der Welt den Rücken zu, schon spielt sie aufs Verrückteste verrückt. Am Freitag mit Christiane und Jürgen nach Verdun – Fort Douaumont, Toter Mann, Höhe 304 – was man so gesehen haben muss. Weiter ins Burgund. Und während wir uns in Accolay bekochen lassen, in Vezelay erleuchtet werden und in Fontenay den Hüftschwung der Madonna bewundern, wird in den USA der Klassenkrieg ausgerufen, marschieren in Rom 200.000 Regierungsgegner auf, brennt zuhaus in Frankfurt vor dem Euro-Symbol ein Lagerfeuer, werden die Kreditinstitute von führenden Politikern zu Staatsfeinden erklärt und der Deutsche-Bank-Chef vom Acker- zum Buhmann umbenannt. Und die FDP wird als verfassungsfeindliche Organisation verboten. Oder? Jedenfalls: schon ein wenig komisch, wie jetzt alle versuchen, ihren Hintern noch rasch ins Trockene zu bekommen. Obwohl doch die letzte, die allerletzte Schlacht noch lange nicht gekommen ist.


Willi Eichler ist tot.



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Donnerstag, 13. Oktober 2011 – Zwölfuhrsechsundzwanzig, elfkommasieben. Wieder Sonne.


Gestern mit Grusche und Jan Weiler im Taxi aus dem Holbein zur Schirn. Wir sind zu spät, C. wartet schon, ist aber gnädig. Am Eingang gleich Feridun, will nach draußen. Warum? Zeigt mir die hohle Hand: Zigarette und Feuerzeug. Dann Helge – alles wieder ganz unverkrampft, gelöst. Bittermann geherzt, den ich seit … wie vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte? Trägt immer noch die spitzen, weißen Schuhe. Paar Worte mit Delius. Tanja kommt, im Schlepptau: Veruschka Lehndorff. Ein Blick auf diese Frau und ich bin gefangen. Sie ist nicht gekleidet, sie ist gewandet. Hat wahnsinnig dicke Plastikschuhe an und irgendwelche Tücher um den Kopf und die Schultern. Eine scheue Exzentrikerin, eine schüchterne Exhibitionistin. Und dann diese hübsche, spontane, nudelige Geste von KS, als sie erfährt, wer ihr da gegenübersteht: Lacht, beugt den Oberkörper kurz nach vorne und schwingt ihren Handrücken leicht auf den Oberarm von Frau Lehndorff: “Ach, Sie sind das!” Später noch länger mit Rudi und Eva-Marie. Viel Rotwein, viele Frikadellen. Taxi. Heim. Bett.


Erich Auerbach ist tot.



Montag, 10. Oktober 2011 – Zehnuhreinundfünfzig, vierzehnkommaeins. Wolken im Wind.


Gestern früh mit Jörg durch den sonnig-wabernden Nebel über die Berger Höhe und zwischen den Streuobstwiesen hindurch nach Niederdorfelden. Eine Morgenwelt wie von Caspar David Friedrich. Das Thermometer im Auto warnt vor Bodenfrost. Mit Lutz und Ralf und sechs weiteren Waden auf die Straße. Hundertzehn Kilometer Achterbahn durch die Wetterau. Letzte Kontrollstelle in Stammheim. Es riecht nach faulenden Äpfeln, moderndem Laub und Pferdedung. Zum Schluss machen Jörg und ich noch leckere Beute: für jeden zehn hausgeschlachtete Bratwürste, tiefgefroren und in Plastik verschweißt.


Das Buch von Chotjewitz lege ich nicht aus der Hand. Nehme es mit in die Küche, an den Frühstückstisch, ins Bett, selbst ins Bad. Das passiert nur ganz selten und nur mit Büchern, in denen mich alles etwas angeht oder längst etwas hätte angehen sollen. Bin begierig auf jede Seite, jeden Satz. Ob er Sonnenaufgänge beschreibt, seinen Zusammenstoß mit Helmut Kohl, seine Besuche bei Andreas Baader in Stammheim, seine Zeit bei der Freiwilligen Feuerwehr und im Männergesangsverein von Kruspis – wie dumm ich war, wie sehr ich diesen Mann unterschätzt habe. Schon jetzt fast unvorstellbar, dass es dieses Buch um ein Haar nicht gegeben hätte … (Peter O. Chotjewitz / Jürgen Roth: “Mit Jünger ein’ Joint aufm Sofa, auf dem schon Goebbels saß”, Verlag Büchse der Pandora)


Am 10. Oktober 1966 starb in Wesel am Niederrhein Otto Pankok, Maler und Freund der Zigeuner vom Düsseldorfer Heinefeld.




Freitag, 7. Oktober 2011 – Tag der Republik. Zwölfuhrzweiundzwanzig, elfkommazwei. Schweres Gewölk. Immer noch mit der Buchausgabe der Geisterbahn beschäftigt.


Die brachialen, gockelhaften Auftritte von Pit Chotjewitz waren mir jedes Mal ein Greuel. Aber was für ein wunderbares Buch hat Jürgen Roth dem bereits todgeweihten Autor entwunden. 360 Seiten mäanderndes, atemloses und zugleich lässiges Erzählen. Und erst jetzt begreife ich, welch unkorrumpierbaren Mann wir da verloren haben. “Aber rühmen wir nicht nur den Weisen / Dessen Name auf dem Buche prangt! / Denn man muß dem Weisen seine Weisheit erst entreißen. / Darum sei der Zöllner auch bedankt: / Er hat sie ihm abverlangt. ” (Brecht)


Zum Eintrag vom 4. Oktober eine reizende Mail von Alf mit dem Betreff: “je m’accuse”: “… ich muss jetzt doch mein Gewissen erleichtern: die ‘Börne-Spitzfeder-Anmod’ stammt, glaube ich, tatsächlich von mir; ist allerdings schon 1 1/2 Jahre alt, d.h. entstanden, bevor ich von Deinem Kreuzzug gegen das Spitzfederwesen in  hr2-kultur erfahren habe. Wird wahrscheinlich nicht wieder vorkommen.  – So, jetzt kann ich wieder reinen Gewissens weiterarbeiten.”


Gar nicht zu zählen, wie oft Steve Jobs in den Sendungen des gestrigen Abends ein Visonär genannt wurde, ein Genie. Und wenn das nicht reichte, auch noch ein genialer Visionär, ein visionäres Genie. Passend dazu dann die Bilder der Occupy-together-Aktivisten, wo eine Frau ein Plakat trug mit der Aufschrift: MORE JOBS!


Vor zwei Jahren starb Irving Penn.



Dienstag, 4. Oktober 2011 – Siebenuhrdreiundfünfzig, zwölfkommavier. Schon wieder die Sonne. Bis zum Wecker geschlafen.


Gestern Nachmittag der alte Herr mit seinem Einkaufstrolley vor der verschlossenen Tür des Supermarktes: “Feierdahch? Was dann fürn Feierdahch?”


Auf HR2 die hübsche Formulierung: “Ludwig Börne, der Altmeister der spitzen Feder”. Wobei man sofort geneigt ist, das Gegenteil zu versuchen – vielleicht so: “… der Jungstümper des stumpfen Keyboards.”


Max Planck ist tot.


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Published on October 05, 2011 05:39

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Jan Seghers
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