Nathan Jaeger's Blog, page 6

November 6, 2021

[Leseprobe] Jahreszeiten - Herbst

 Leseprobe

Zankäpfel erntet man auch im Herbst

 

Eine Kurzgeschichte basierend auf

 

Zweifel in Worten

 

von

 

 

Nathan Jaeger

 

Vorwort

 

Gabriel, Frank und Sam, das Trio aus ‚Zweifel in Worten‘, gibt sich in dieser Kurzgeschichte die Ehre.

Der Text spielt einige Monate nach dem Ende des Romans, man muss jenen aber nicht gelesen haben, um diesen Text zu verstehen.

 

Viel Spaß damit!

~*~

 


 

Frank sah lachend den Waldweg entlang und lehnte sich an den blonden Hünen, bei welchem er sich untergehakt hatte. Kornblumenblaue Augen blitzten ihm belustigt entgegen, als er den Blick zu dem Mann an seiner Seite hob.

„Gabriel, bist du sicher, dass dir der Kerl nicht irgendwann mal vom Bahnhof aus nachgelaufen ist?“, fragte er japsend und erntete einen leichten Rempler.

Gemeinsam wandten sie sich wieder dem Schauspiel vor ihnen zu.

Herbstlaub in allen Schattierungen zwischen Hellgelb und Tiefrot stob über den Waldweg, verteilte sich herabregnend, legte sich auf Mantelkrägen und Mützen.

„Sammy, wenn du nicht aufpasst, wird irgendein Jäger dich wegen ‚Verschreckung von Wildtieren‘ verhaften lassen!“

Der Mann mit dem weißblonden Haar unterbrach seinen kickenden Gang durch aufgetürmte Laubhaufen am Wegesrand und drehte sich um.

„Das muss so! Diese Blätter schreien doch geradezu danach, dass man sie hochtritt. Immerhin sind wir im Wald, da muss ein Weg nicht wie gefegt aussehen.“ Sams Rechtfertigung klang theatralisch-ernsthaft, was seine Verfolger zu erneutem, gutmütigem Lachen reizte.

Frank liebte die verrückte Art von Sam ebenso wie die tiefgründige Ernsthaftigkeit von Gabriel. Beide konnten im Bedarfsfall durchaus auch anders handeln und reagieren, aber in ihrem Wesen unterschieden sie sich auf eine für ihn perfekte, ergänzende Art.

Er liebte beide. Keinen mehr als den anderen, das hatten auch die vergangenen Monate seit seinem Einzug in die Villa gezeigt.

Alle Zweifel hatten sich zerstreut, waren weggestreichelt, weggeküsst und aus tiefster Überzeugung heraus von ihm selbst zunichtegemacht worden.

Eine Beziehung zu dritt war möglich, das wusste er jetzt ganz genau.

Frank löste sich von Gabriels Arm, ergriff stattdessen seine Hand und zog ihn mit zum nächsten Laubhaufen und dem mittendrin stehenden Sam. Auch dessen Hand schnappte er sich, um mit seinen Stiefeln in einer Art Storchengang durch die raschelnde, rotbunte Blätterpracht zu staksen.

Gabriel tat es ihm gleich, reichte Sam seine freie Hand und in einem enger werdenden Kreis zogen sie sich aneinander, bis Frank sich auf die Zehenspitzten erhob, um an seine Männer heranzureichen.

Ein Kuss für jeden, eine innige, warme und beschützende Umarmung, in die er sich fallenlassen konnte.

Ohne Gedanken an Ängste oder Unsicherheiten.

Eine Geste, die alle drei mit wohligem Brummen quittierten.

„Ist euch eigentlich klar, wie viel Glück wir haben?“, flüsterte Sam und nun war nichts Albernes oder Überzeichnetes mehr in seinem Ton.

„Ja, wahnsinniges Glück“, erwiderte Frank ebenso leise und Gabriel schloss sich mit einem Nicken an.

„Ich liebe euch“, fügte er hinzu und sowohl Frank als auch Sam küssten ihn dafür auf die Wangen.

„Ich euch auch“, kam es stereo aus ihren Mündern.

Diese verbale Liebesbekundung hatte sich zwischen ihnen eingebürgert. Nur selten nutzten sie das klassische ‚Ich liebe dich‘, wenn sie ihre Gefühle in Worte fassten. Ebenso war die Erwiderung zu einem Standard geworden.

Sie blieben eine Weile mitten in dem vom aufkommenden Wind raschelnden Haufen Laubes stehen, umschlungen, gewärmt und zusammengehörig.

Ob die Welt Verständnis für ihre Beziehung hatte, war Frank vollkommen egal. Er selbst hatte einige Zeit gebraucht, um schlussendlich zu begreifen, wie gut diese ungewöhnliche Liebe zu dritt funktionierte.

~*~

Wieder an seinem Jeep angekommen, schüttelte Gabriel letzte Laubreste von Mantel und Schal, bevor er sich auf den Fahrersitz fallenließ.

Frank und Sam spielten Stein-Schere-Papier darum, wer den Beifahrersitz ergatterte, damit auch sie sich wenig später zu ihm in den Wagen setzen konnten.

Das alberne Lachen beider klang wohlvertraut und so angenehm in Gabriels Ohren, dass er einen warmen Schauder nicht unterdrücken konnte.

„Ich für meinen Teil“, bekundete Frank, der den Platz neben ihm gewonnen hatte, „würde lieber hinten mit Sam kuscheln, weil mir gleich was abfriert.“

Sams kicherte fröhlich, bevor er auf der hinteren Sitzbank weiter durchrutschte, und Frank neben ihn glitt.

Gabriel beobachtete die zwei im Rückspiegel und ertappte sich bei einem leicht debilen Grinsen, das man ansonsten eher Schwangeren beim gedankenverlorenen Streicheln ihres Babybauches nachsagte.

„Schnallt euch an, damit das Kaminfeuer nicht noch länger auf uns warten muss.“

Die gesamte Fahrt über kreisten Gabriels Gedanken um die vergangenen Monate. Seit Ende April lebten sie schon zu dritt in der Villa in Steglitz, mittlerweile war es Ende Oktober.

Noch immer konnte er es nicht erklären, aber durch die Schnapsidee, eine Internetannonce aufzugeben, hatten sie Frank gefunden – oder er sie, wie man es sehen wollte.

Nach einigem Hin und Her, E-Mails und Telefonaten, hatten sie sich getroffen und im Laufe weniger Wochen gemerkt, dass nichts jemals wieder so sein würde wie früher, als er und Sam ein Paar gewesen waren.

Frank hatte ihnen gegeben, was sie gebraucht, aber zu keinem Zeitpunkt vermisst hatten. Verrückt, einfach unerklärlich, aber genau deshalb so real in Gabriels Gefühlswelt verankert.

Er hatte sich in Frank verliebt, ohne dass seine innige Liebe für Sam darunter gelitten hatte. Ebenso war es Sam ergangen. Sie beide hatten recht schnell begriffen, wie wichtig Frank für sie war, doch ebendieser hatte seine Zweifel und Ängste erst spät überwinden können. Beinahe zu spät …

Aber nun waren sie hier, zusammen, glücklich. Ein Gefühl, welches Gabriel um keinen Preis missen wollte.

Doch nicht nur ihre Beziehung zu dritt war ‚passiert‘, auch andere, sehr negative Dinge, die innerhalb der Firma und im Freundeskreis für großen Kummer gesorgt hatten.

Ein Seufzen entkam ihm, als er an Colin dachte. Mitte Mai verschollen, unauffindbar bei einem Observationsauftrag verlorengegangen. Sondereinheiten suchten nach ihm, bis vor kurzem hatte auch sein bester Freund Vittorio nicht aufgeben wollen.

Niemand sah sich in der Lage zu glauben, dass er tot war, doch gab es seit dem Fund von Colins Wagen keine Hinweise mehr zu seinem Verbleib.

Eine Hand legte sich auf Gabriels rechte Schulter, drückte sacht zu. „Woran denkst du, Engel?“

Gabriel schluckte. „Colin.“ Seine Stimme erstickte schon bei diesem einen Wort.

Seufzen von der Rückbank und ein weiteres Zudrücken an seiner Schulter waren die Antwort.

Natürlich, Sam und Frank kannten alle Mitarbeiter, die auch zu Gabriels engerem Kreis gehörten. Und Colin war der Zwillingsbruder von Sams bester Freundin Teras.

„Vielleicht werden wir ihn irgendwann finden“, murmelte Sam, doch er klang genauso frustriert, wie Gabriel sich fühlte.

Hilflosigkeit konnte erdrückend sein. Was nützte es, die am besten organisierte Detektei Europas zu besitzen, wenn man einen verschollenen Mitarbeiter und sehr guten Freund nicht wiederfinden konnte?

„Ihr wisst, dass das niemandem hilft“, befand Frank in seiner von Logik und Realismus geprägten Art. Auch wenn es im ersten Moment hart klang, hatte er recht. „Wir können jetzt alle monatelang in Starre verfallen, aber auch das wird ihn nicht zurückbringen. Was jetzt zählt, sind die noch Anwesenden. Vito leidet wie ein Tier unter dem Verlust und Teras ergeht es, hochschwanger, auch nicht besser. Erik und Luke brauchen Hilfe. Das sind die Dinge, um die wir uns kümmern sollten, solange die Suchtrupps unterwegs sind.“

„Du hast recht, Frank“, brachte Gabriel heraus und nickte, als müsse er sich die Worte in den Kopf schütteln, an die richtigen Stellen rücken.

„Niemand sagt, dass es leicht wird, aber wir können es für die Genannten leichter machen. Das liegt besonders in deiner Hand, Engel.“ Eine zweite Hand streifte Gabriels Nacken, liebkoste die von einer Gänsehaut überzogene Stelle unterhalb seines Ohres.

Unwillkürlich lehnte er sich in die Berührung und wollte die Augen schließen. Während der Fahrt undenkbar.

„Vor einer Weile hat Teras mir gesagt, wie abartig sie mein Selbstmitleid fand … Wenn ich nur wüsste, wie wir ihr helfen können!“

„Das können wir nur, indem wir als Freunde da sind“, fügte Sam hinzu.

Gabriel bog wenig später in die Einfahrt vor der Villa und betätigte das große Metalltor, um auf den Hof zu fahren.

Er schaffte es kaum, aus dem Auto zu steigen, weil Frank und Sam bereits bei ihm waren, um ihm die Stärke zu geben, die er brauchte.

In seiner Verantwortung war einer seiner besten Freunde möglicherweise gestorben. Ja, er kannte das Risiko seit Langem, fürchtete immer wieder um Sam, wenn er diesen zu einem Auftrag mitnahm oder sendete.

Gabriel erwiderte die Umarmungen mit einem tiefen Seufzen auf den Lippen.

„Ohne euch würde ich das nicht aushalten. Auch wenn Teras mir nie die Schuld gegeben hat, ich selbst gebe sie mir.“

„Wir sind doch da … Und ich denke immer noch, dass ich eingeweiht werden sollte.“ Franks Worte ließen Gabriel einfrieren, wie das Wasser einer zu lange im Eisfach liegenden Flasche beim Aufdrehen erstarrte.

„Niemals!“, zischte er und Sam räusperte sich.


© Gerry Stratmann / Nathan Jaeger / Gay-fusioN GbR

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Published on November 06, 2021 05:40

November 5, 2021

[Info] Vorlesestunden auf Discord

 Hallo Ihr Lieben,

jeden Mittwoch- und Sonntagabend lesen Gerry und ich aus unseren Büchern vor.

Genauer gesagt lesen wir sie von Anfang bis Ende und richten uns dabei nach den Wünschen der Zuhörer. :)

Wenn auch Du dabei sein willst, schau in der Navigationsleiste nach 'Interaktiver Kontakt' und schließe Dich uns an.

Wir sind eine kleine, aktive Community mit viel Spaß und noch mehr Zusammenhalt.



Wir hören uns!

Euer Nat

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Published on November 05, 2021 20:03

[Leseprobe] Club Loveshack 2 - Die Sucht

 Leseprobe

Stalking und Sexwahn


 

„Scheiße, ist das geil!“, keucht der namenlose Kerl hinter mir, während er mich in der halbdunklen Gasse neben dem Schwulenclub fickt.

Meine Handflächen gegen die Backsteinwand gelehnt, versuche ich zu ignorieren, wie viel Dreck und Rotz hier kleben mag.

Alles, was momentan für mich zählt, ist der Schwanz in meinem Inneren, der mich ablenkt.

Wovon? Das tut nichts zur Sache. In jedem Fall brauche ich die Zerstreuung, damit ich nicht nachdenken muss.

Die anhaltenden, rhythmischen Bewegungen verschaffen mir einen leeren Kopf und die Geilheit, die ich will.

Stöhnend strecke ich ihm meinen nackten Arsch deutlicher entgegen.

Es dauert nur Minuten, dann grunzt er mir seinen Orgasmus ins Ohr. Ich lasse mich von seinen letzten, langen Stößen mitreißen und keuche leise, während mein Kopf haltlos in den Nacken fällt.

Fertig.

Erledigt.

Er zieht sich zurück, klatscht mir seine Hand auf den nackten Arsch und sagt: „War nett“, bevor er das Gummi abstreift, in hohem Bogen in den Abfallcontainer auf der anderen Seite der Gasse wirft, sich anzieht und geht.

Ich beruhige meinen Atem, schlucke trocken und lehne meine Wange an die Wand, ohne mich anzuziehen.

Mir ist egal, dass meine Jeans noch in den Kniekehlen hängen.

Kalt drückt sich das raue Gestein in meine Wange, kratzt über meine erhitzte Haut.

Ich schließe die Augen und verlasse mich.

Das geht nur nach einem Orgasmus.

Mitreißende Schwerelosigkeit, die es mir erlaubt, meinen Geist auf Reisen zu schicken.

Weit weg, in die Vergangenheit, in die Einbildung einer heilen, guten Welt.

Der kühle Wind, der meinen Arsch streift, lässt mich frösteln. Ich stoße mich mit einem bedauernden Seufzen von der Backsteinwand ab, um mich zu drehen und meine Hose wieder hochzuziehen.

Vorbei.

Zu schnell vorbei.

Es erscheint mir, als hielte der Rausch des Orgasmus’ jedes Mal weniger lange an.

Falls das den Tatsachen entsprechen sollte, habe ich auf Dauer ein Problem …


 

Ich bin ein verdammter Stalker!

Nicht, dass ich jemals einer hätte sein wollen, und rein pathologisch ist diese Bezeichnung auch nicht korrekt, aber ich verfolge diesen Typen nun seit Wochen.

Ich bilde mir ganz sicher nicht ein, dass wir eine Beziehung haben, zumindest keine, die man mit dem Wort ‚Partnerschaft‘ gleichsetzen könnte. Auch haben wir nie viel geredet, und doch fühle ich mich zu ihm hingezerrt, von ihm auf eine brutale, unabdingbare Art angezogen.

Vielleicht ist es doch krankhaft, so darauf zu reagieren?

Vielleicht hätte ich mich nach der ersten Begegnung mit ihm, die nicht einmal hier im La Bouche stattgefunden hat, einfach fernhalten müssen?

Meine Gedanken sind so vernünftig wie abwegig.

Ich habe nämlich nicht!

Er zieht an mir, lässt mich um sich kreisen, ohne dass ich diese unheimliche Faszination auch nur halbwegs verstehen könnte.

Nicht einmal seinen Namen kenne ich.

Aber ich weiß sehr, sehr genau, wie er sich verhält, wenn er gefickt wird.

Ein tiefes Grollen steigt aus meiner Kehle auf, rollt über die Stimmbänder und ich klappe hastig den Mund zu, damit der Ton nicht hörbar für andere entkommen kann.

Ein mieser Spanner scheine ich auf jeden Fall zu sein, auch wenn mich nicht erregt, was ich beobachte, wenn ich mich wie jetzt in den tiefen Schatten der Gasse verstecke, in der er sich hin und wieder ficken lässt.

Keine Ahnung, eine echte Abneigung gegen den Darkroom im La Bouche scheint er jedenfalls nicht zu haben – dort habe ich ihn bereits gehabt. Dreimal.

Trotzdem drücke ich mich wie ein mieses Stück Scheiße an die Wand am Ende der Gasse, damit ich ihn sehen kann, ohne dass er mich bemerkt.

Verrückt, meschugge, hirnverbrannt – ich weiß das alles, und wenn ich ihn nachher noch ansprechen sollte, um ihn zum vierten Mal in den Darkroom zu entführen, werde ich danach nach Hause fahren und mich selbst für den größten Idioten aller Zeiten halten.

Meine Selbstbeschimpfungen nützen nur nichts, ich werde es trotzdem tun, werde ihn benutzen und beobachten, jedes verdammte Wochenende.

Dabei hätte ich wahrlich Wichtigeres zu tun, als mich an jedem Wochenende einen Abend lang im berüchtigtsten Schwulenclub der Umgebung herumzutreiben.

Ist eigentlich gar nicht mein Pflaster. Gelandet bin ich hier ausschließlich seinetwegen!

Tja, das passiert, wenn man jemanden verfolgt und beobachtet, nicht wahr?

In jedem Fall finde ich die Faszination, die er auf mich abstrahlt, nahezu monströs!

Zudem ist sein Verhalten so … schräg!

Jetzt gerade passiert es wieder.

Halbnackt steht er noch immer an der Wand, obwohl der Kerl, der ihn eben noch so hart durchgefickt hat, längst verschwunden ist.

Mein Unbekannter lehnt dort, den Kopf in den Nacken gelegt, die Hosen in den Kniekehlen, und die Augen geschlossen.

Er schluckt sichtbar, seine Silhouette zeichnet sich klar ab, besonders jetzt im Profil.

Ich verspüre den unbändigen Drang, über seinen langgestreckten Hals zu lecken, jede Kontur seiner Kehle zu erforschen.

Das Seufzen, das mir entkommt, ist hoffentlich leise genug.

Wieso macht er mich so an? Wieso kann er mich unwissentlich in diese Abhängigkeit zwingen?


 

Ich kehre in den Club zurück, bestelle mir ein Bier und sondiere die Lage.

Klar, das hier ist ein absoluter Baggerschuppen. Wer ficken oder eines der Glory Holes nutzen will, kommt hierher.

Zu diesen willigen, notgeilen Kerlen gehöre auch ich.

Es mag mir nicht gefallen, dazu in diesen miesen Club gehen zu müssen, aber was bleibt mir?

In anderen Läden wollen die potentiellen Fickpartner auch reden, eventuell sogar was trinken oder sind so wählerisch, dass ich vermutlich überhaupt keine Chance bei ihnen hätte.

Dabei brauche ich die Reize, die Stimulanz durch andere.

Ein privat und mir selbst verschaffter Orgasmus wirkt nämlich leider nicht.

Das stört mich, um ehrlich zu sein, aber immerhin kann ich mit verschiedenen Sexpartnern auch deutlich mehr Höhepunkte erleben als mit nur einem.

„Na, komm schon“, spricht mich eine nicht ganz unbekannte Stimme von links an. Ich wende den Kopf, stoße mit dem Typen an, der mich bereits in den vergangenen Wochen ins Himmelreich gefickt hat, und grüble, ob ich seinen Namen kenne.

Ist belanglos. Namen interessieren mich nicht mehr. Höflichkeit ebenso wenig.

In mir herrscht ein emotionales Vakuum, das ich ganz sicher nie wieder aufgeben kann.

Es verhindert den Schmerz, lässt mich erleben und genießen.

Hastig schüttle ich diese Gedanken aus meinem Kopf. Ich will ihn leer und frei, leicht und sorglos.

Der schwarzhaarige Halbgott neben mir sieht mich erstaunt an. „Keinen Bock?“

Ich strahle ihn an. „Oh, doch! Wenn du mich willst, gehöre ich dir.“

Seine grünbraunen Augen blitzen zufrieden auf, seine Lippen schürzen sich leicht. „Keine Angst, dass man dir diese Leichtlebigkeit negativ auslegen könnte?“

Ich winke ab und trinke einen Schluck. „Glücklicherweise ist mir vollkommen egal, ob und was jemand über mich sagen oder denken könnte. Interessiert dich etwa, was die Kerle hier absondern, wenn du ihnen den Rücken zudrehst?“

Sekundenbruchteile später steht er dicht hinter mir und reibt seine Härte an meinem Arsch.

„Ich finde spannender, wenn du mir den Rücken zudrehst“, raunt er lasziv in mein Ohr und lacht kehlig über die erregten Schauder, die mich zittern lassen.

Vorfreude. Das hier ist Vorfreude auf den nächsten Orgasmus. Ich will wieder abtauchen in die Welt der Vorstellungskraft, in meine wunderbare fantastische Vergangenheit.

Deshalb drücke ich ihm meinen Arsch entgegen und lausche seinem tiefen, zufriedenen Brummen.

„Na, komm. Sonst reiße ich dir hier und jetzt die Klamotten runter“, versichere ich ihm, und er stellt eilig das Glas ab, um mir zu folgen.

Wenn ich beobachte, wie andere ihn ficken, macht mich das kein bisschen an, aber wenn er mir nah ist, mir sogar folgt wie jetzt, werde ich augenblicklich dermaßen geil, dass ich alle Beherrschung benötige, die ich aufbringen kann.

Selbiges gilt, wenn er nach einem Fick in diese Versunkenheit abtaucht …

Aus irgendeinem Grund fühle ich mich ihm dann näher, als ich dürfte.

In einer halben Stunde spätestens erlebe ich ihn wieder in diesem bemerkenswerten Zustand, und das, weil ich ihn ihm verschafft habe!

Der Namenlose ist der Einzige, den ich hier im Club auch nur eines zweiten Blickes würdige, und ganz sicher der Einzige, den ich ficken will.

Den bisherigen Abend habe ich damit verbracht, Abfuhren zu erteilen und ihn zu beobachten.

Nur ihn.

Es ist krank, ich weiß, aber es hilft mir, wenn ich aktiv an dem beteiligt bin, was er nach dem Sex jedes Mal zu durchleben scheint.

Sobald er nach mir die Tür zum Darkroom durchschritten hat, ziehe ich ihn mit mir und wir erreichen eine der leeren Kabinen im hinteren Teil des verwinkelten Raumes.

Ich würde gern so viel mehr tun, als ihn hier ein weiteres Mal zu ficken, ich will ihn streicheln, festhalten, ihm zeigen, wie sehnsüchtig ich aus mir unerfindlichen Gründen bin.

Aber nicht hier, nicht an diesem Ort, den ich innerlich für seine Existenz verfluchen will.

Nein, verdammt! Nirgendwo anders könnte ich tun, was er will, ihm geben, was er offensichtlich braucht.

Dieser Mann ist nicht einfach notgeil oder sexsüchtig, es gibt einen Grund für all das – auch für mein Verhalten!

Wenn ich nur herausfinden könnte, worin dieser Grund liegt …

Mit einem Seufzen unterbreche ich kurzfristig meine Gedanken, weil er an meinen Hosen nestelt und die Knöpfe öffnet.

Natürlich bin ich erregt! Wie sollte ich das nicht sein, angesichts der Tatsache, dass er so viel mehr für mich ist als ein bloßer Zwischendurchfick in einem miesen Schuppen?

So schade ich es finde, dass er wie immer sofort zur Sache kommen will, so sehr törnt es mich andererseits auch an, deshalb schiebe ich seine hastig geöffneten Hosen ebenso herab, wie er meine, und drehe ihn um.

Seine schlanken Hände legen sich an die glatte, dunkle Wand der Kabine und er streckt mir seinen Arsch hin.

Ich beeile mich, ein Gummi überzustülpen, lasse Gleitgel aus dem an der Wand befestigten Spender in meine Hand laufen und meine Finger danach in seine Spalte dringen.

Ich bin zu geil auf ihn, um noch darüber nachzudenken, dass ich weder der Erste noch der Letzte bin, der ihn heute ficken wird.

Beides schmerzt mich auf eine unerklärliche Art.

Immerhin weiß ich seit Wochen, wie er drauf ist, wenn er hierher kommt …

Vielleicht sollte ich lieber damit aufhören, mich von meinen seltsamen Gefühlen für diesen Fremden so versklaven zu lassen.

Leichter gesagt, als getan!

Ich überprüfe die Weichheit seiner Muskelringe, lasse meine Finger zweimal tief in ihn gleiten und halte ihn und meinen Schwanz anschließend in Position, um einzudringen.

Er keucht, kommt meinen Stößen entgegen.


 

Keine halben Sachen, immerhin will ich einen weiteren Orgasmus spüren, mich in die Gedankenwelt, die er mit sich bringt, versenken.

Ich stöhne hemmungslos, genieße, dass der namenlose Hengst hinter mir sich in mir versenkt.

Wieder und wieder.

Keuchend ergebe ich mich seinen Berührungen, seinem Stöhnen und den festen Griffen seiner Hände in meinen Seiten.

Fahrige Finger wandern über meine Haut, streichen über meine Brust, necken beinahe schmerzhaft meine Nippel und bringen mich dazu, mich dichter an seinen erhitzten Leib zu drängen.

Für den Bruchteil einer Sekunde katapultiert mich diese Behandlung, dieses allgemein unsagbar gute Gefühl in die Vergangenheit, dann in die Gegenwart und diesen absolut erfüllenden Orgasmus, der mich mit seinen Wellen überrollt und von den Füßen fegen will.

Ich habe große Mühe, mich an irgendetwas festzuklammern.

Eine wild in meinen Schläfen pochende Schwärze übermannt mich, lässt meine Knie einknicken, ohne dass ich noch reagieren könnte.

Meine Hände gleiten von der glatten Wand ab, umklammern den einzigen Halt, den ich wahrnehme, als meine Sicht sich klärt und die Schwärze endlich weicht.

Arme, die mich umfangen. Mich halten und meinen Sturz sofort gebremst haben müssen, da ich keineswegs auf dem Boden liege.

„Hey, alles okay?“, raunt eine aufgeregte Stimme.

Ich blinzle in das Halbdunkel, muss mich orientieren.

„Hey, rede mit mir!“ Noch einmal diese sanfte, weiche Stimme.

Klingt besorgt und irgendwie … halbwegs vertraut.

Mühsam versuche ich, mich aufzurappeln, drehe den Kopf und begreife erst jetzt, dass jemand meinen Rücken fest an seine Brust presst.

„Bitte, sag was!“

„Ich …“ Ein kläglicher Ton

„Oh Mann, Gott sei Dank! Ich hatte schon Angst, du wärest bewusstlos!“

Ich schlucke hart und schaffe es, mich wieder aufzurichten.

„Geht schon“, sage ich, auch wenn ich gar nicht weiß, ob es das wirklich tut.

Sehr langsam wird der schraubstockartige Griff um meinen Oberkörper lockerer, ich kann mich zu ihm umdrehen.

„Wer …?“, frage ich blöde, bis mir in den Kopf kommt, wo ich mich befinde. Mit wem.

„Komisch, mein Name hat dich in den vergangenen Wochen nie interessiert“, erklärt er und lächelt mich schief an.

Ich muss wie immer zu ihm hochsehen, er ist ganz sicher einen Kopf größer als ich, knappe zwei Meter dürfte er messen, zudem ist er breitschultrig und irgendwie massig, ohne dick zu sein.

Ich kichere innerlich, vielleicht, weil mich meine eigenen Gedanken so verwirren.

Dick, so ein Unsinn, an dieses Wort kann man im Zusammenhang mit ihm nun wirklich nicht denken.

Bevor ich es selbst schaffe, richtet er meine Kleidung und ich mustere ihn perplex.


 

„D-danke“, stottert er und sieht in meine Augen.

Habe ich vorher schon mal so viel Zeit gehabt, ihn zu mustern?

Klar, bei unserem ersten Aufeinandertreffen, das in einem Baumarkt stattgefunden hat, konnte ich sehen, dass er unglaublich schöne, wenn auch sehr traurige Augen hat.

Wenn ich allerdings sagen sollte, welche Farbe sie haben, müsste ich passen.

Da liegt zu viel Trauer, zu viel Düsternis in seinen Iriden, als dass noch Platz für eine der klassischen Farben geblieben wäre.

Er hat vor diesen mittlerweile sechs oder sieben Wochen – Blödsinn, es sind exakt sechs Wochen und drei Tage vergangen– in derselben Regalreihe gestanden wie ich.

Für ein neues Bauprojekt in meiner Wohnung benötigte ich lange Schrauben, er wanderte ziemlich ratlos an den zig kleinen Verpackungen mit Nieten, Schrauben, Dübeln, Nägeln, Türbeschlägen und allem anderen Kram aus der Metallwarenabteilung auf und ab und drehte dabei eine einzelne, verzinkte Schraube zwischen Daumen und Zeigefinger.

Die Erinnerung an diese Situation lässt mich breiter lächeln und ich nicke vor mich hin.

„Ich heiße Sebastian, aber meine Freunde nennen mich Satan.“

Was würde ich darum geben, sein Gesicht jetzt vernünftig sehen zu können?!

Eindeutig – wir müssen raus aus dem Darkroom, aber dann wird er sich verziehen und ich habe keine Chance mehr, mit ihm zu reden, mehr über ihn zu erfahren!

Zwickmühlen sind wirklich nicht mein Ding, aber welche Wahl habe ich schon?

Ich kann ihn schließlich nicht in dieser dämlichen Kabine anketten, nur damit er sich nicht gleich vom Nächsten anquatschen und durchnehmen lässt.

„Satan?“, hakt er nach und kraust die Brauen, das immerhin kann ich erkennen, und meine Fantasie erledigt den Rest.

Ich habe mir sein schmales Gesicht mit den hohen Wangenknochen und dem markanten Kinn sehr genau eingeprägt.

Noch ein Nicken. „Ist ein Nickname aus ’nem Chat.“

„Verstehe.“

Leider verrät er mir nicht, wie er heißt, und es ist mir gerade auch zu plump, danach zu fragen.

Ich meine, hey, wir stehen noch immer direkt voreinander in einem echt schäbigen Darkroom und ich habe ihn und mich gerade erst wieder angezogen …

„Trinkst du noch ein Bier mit mir?“, wage ich mich vor, obwohl ich bereits weiß, dass er ablehnen wird.

Sein Kopf neigt sich zur Seite. „Ein Bier? Wirklich nur eines?“

„Ja“, krächze ich, weil mich seine Gegenfrage irgendwie überrumpelt.

Voll peinlich, aber was soll ich machen?

Der Stalker-Schrägstrich-Spanner in mir jubelt, weil ich es so vielleicht schaffen kann, die merkwürdige Ebene unserer Bekanntschaft in ein normaleres Fahrwasser zu bringen.

„Ja, ein Bier“, bestätige ich und greife nach seinem Handgelenk, damit er mir auf dem Weg zwischen Fickkabine und Theke nicht abhandenkommen kann.

Möglicherweise ahne ich, dass ein weiterer Kerl, der ihn fickt, mich nicht mehr so kalt lassen würde …


Ich vergesse, noch weiter darüber nachzudenken, und nicke einfach.

„In Ordnung“, sage ich verständlich und begreife zeitgleich, dass ich mir das auch hätte sparen können.

Immerhin schleppt er mich bereits zum Tresen, an dem er mich vorhin aufgegabelt hat.

„Zwei Bier!“, ordert er und lässt mich erst nach einem prüfenden, endlos langen Blick los, als wir nebeneinander Halt machen.

Ich grüble ernsthaft, was hinter seiner Stirn vor sich geht.

„Sag mal, haben wir uns schon mal außerhalb gesehen?“, frage ich, weil ein mildes Wiedererkennen in meinen Kopf schleicht.

Er nickt. „Einmal. Ist ein paar Wochen her. Im Baumarkt.“

Stirnrunzelnd lasse ich meinen Blick an seiner gesamten Länge entlanggleiten und versuche, den Typen aus dem Heimwerkerladen mit ihm in Einklang zu bringen. Es gab da lediglich eine Person, abgesehen von der Kassiererin, mit der ich auch nur einen Blick getauscht habe.

Heute trägt er Lederhosen, schwere Boots, ein hautenges, pechschwarzes Shirt mit angeschnittenen Ärmeln, das mir deutlich zeigt, wie trainiert und muskulös er ist.

Ich seufze. So war ich auch mal.

Trainiert, ansehnlich, vernünftig ernährt und mit Idealgewicht.

Davon bin ich heute wohl weiter entfernt als irgendwann sonst in meinem Leben.

Scheint ihn jedoch nicht zu stören, wenn ich bedenke, dass ich ihn seit ein paar Wochen immer wieder hier getroffen habe und er mich jedes Mal flachgelegt hat.

Ich habe Schwierigkeiten, diesen Halbgott mit dem genervt und abgehetzt aussehenden Kerl aus dem Baumarkt in seinen blauen Arbeitshosen und dem Flanellhemd überein zu bringen.

„Du warst das?“, hake ich blöde nach.

„Japp. Schuldig im Sinne der Anklage“, albert er zu meinem Erstaunen und legt seine Handfläche auf sein Brustbein. „Haben die Schrauben eigentlich gepasst?“

„Ja, haben sie. Die Scharniere halten wieder. Danke noch mal.“

Der Barkeeper schiebt uns die Gläser zu und Sebastian greift nach beiden, um mir anschließend eines hinzuhalten.

„Gern geschehen …“, gibt er zurück und wir stoßen an, bevor wir beide beherzt trinken.

Fasziniert beobachte ich, wie er den kleinen Schaumrest an seiner Oberlippe mit der Zunge einfängt und muss hart schlucken.

Er ist sexy, unbestritten. Ich bezeichne niemanden als Halbgott, der nicht wirklich so aussieht.

Was er wohl an mir findet?

Ich schnaube abfällig über mich selbst.

Was soll er schon finden? Einen Gestörten, der sich wahllos durchficken lässt, der eher tot als lebendig aussieht und dessen Augen jeglichen Glanz verloren haben.

Ich bin eine hässliche, abgemagerte Vogelscheuche!

„Wieso kommst du hierher?“ Seine Frage überrumpelt mich und ich starre ihn sekundenlang einfach nur an, mitten in sein schön geschnittenes, markantes Gesicht, sogar kurz in seine grünbraunen Augen.

„Weil ich es muss.“

Seine Augenbrauen, die ebenso schwarz sind wie sein Haar, heben sich synchron in seine Stirn, sorgen für zwei Dackelfalten, die mich reflexartig dazu bringen wollen, die Hand zu heben und sie wieder glatt zu streicheln.

Hastig weiche ich einen Schritt zurück, stoße dabei fast einen besetzten Barhocker um, und stolpere haltlos.

Bevor ich am Boden ankommen und mir den Rest meines Bieres über die Klamotten kippen kann, hat Sebastian mich geschnappt und stellt mich mühelos wieder auf die Füße.

Klar, ich wiege aktuell etwa fünfzig Kilo, das dürfte für jemanden seines Kalibers keine nennenswerte Schwierigkeit darstellen, aber seine Geschwindigkeit überrascht mich dennoch.

Blinzelnd sehe ich zu ihm hoch, als er mich, an sich gezogen, einfach festhält. Mein Bierglas noch zwischen uns.

„Womit habe ich dich so erschreckt?“, will er leise wissen und gibt mich frei, als ich ein wenig herumzapple.

Mein Glas landet auf der Theke und ich murmele: „Nicht du. Ich habe mich selbst erschreckt.“

Mein Bekenntnis lässt ihn leise auflachen. „Das klingt schräg, weißt du das?“

Umgehend nicke ich, weil ich das sehr wohl begriffen habe. „Tut mir leid, ich glaube, ich sollte gehen.“

Nein, verdammt! Das will ich gar nicht, ich will noch mal in den Darkroom, brauche noch mehr, will erneut diese schwerelose Reise in die Erinnerung antreten!

Moment mal …

Ich verharre und blicke von schräg unten wieder in sein Gesicht. Der letzte Orgasmus war anders.

Ich meine, anders ist gut, der Kerl hat mich ausgeknockt.


 

Die Art, wie er mich ansieht, löst in mir verschiedene Reaktionen aus. Ich will ihn wieder an mich ziehen, ihm diese Unsicherheit wegküssen, will, dass er seine Angst und alle Zweifel, die sich so überdeutlich in seinem schmalen Gesicht abzeichnen, wegstreicheln.

Tja, nichts davon geht. Er hat von Anfang an Küsse jeglicher Art abgelehnt und mir rigoros mitgeteilt, dass er keine will.

Ich muss mich zwingen, nicht wieder nach ihm zu greifen, nehme stattdessen mein eben noch so hastig abgestelltes Glas wieder auf und leere es.

„Du willst gehen?“, frage ich, weil das Schweigen mich am Ende doch noch dazu treiben könnte, ihn wie ein Neandertaler über meine Schulter zu werfen, ‚Uga! Uga!‘ zu brüllen und ihn wegzuschleppen – in meine Höhle, versteht sich.

Er sieht mich nur weiter so an und macht keine Anstalten, zu reagieren.

„Was ist los?“, frage ich, nun selbst unsicher geworden.

Verdammt, wo sind meine Coolness und meine schon fast pathologische Selbstsicherheit eigentlich hin, seitdem ich ihm begegnet bin?

„Ich heiße Oliver“, sagt er schließlich und es dauert, bis ich es kapiere.

Meine Fragen beantwortet er trotzdem nicht.

„Hallo Oliver, freut mich“, sage ich mehr aus einem Reflex heraus, dabei freut es mich wirklich!

Ich lächle ihn an, er erwidert.

„Tut mir leid, ich bin … Ich muss jetzt wirklich gehen.“

Seine eigene Verwirrung ob dieser erneuten Fluchtidee lässt mich eilig meine Möglichkeiten abwägen und ich sage: „Soll ich dich nach Hause bringen?“

Er sieht mich überrascht an.

„Mit dem Taxi, meine ich“, setze ich hinzu.

„Denkst du, ein Taxifahrer schafft es nicht allein, mich an meinem Haus abzusetzen?“, fragt er ironisch und auch ein wenig lauernd.

Das entlockt mir ein weiteres gutmütiges Lachen.

„Nein, das kann nur ein Profi wie ich“, erwidere ich, um einen echt ernsten Ton bemüht, während ich meine Mundwinkel nicht im Griff habe.

Seine Augen weiten sich. „Oh? Dann bist du kein wilder Hengst, sondern ein professioneller Kerle-Heimbringer?“

Er kichert.

Klingt wirklich schön …

Oh klar, Satan, Weichspüler brauchst du für die nächsten Jahre nicht mehr zu kaufen!

Ich nicke gewichtig. „Aber hallo!“

Er lacht nun richtig und ich werde wieder ruhig. „Hey, ganz ernsthaft, ich würde dich nur abliefern und weiterfahren.“

„… und wüsstest dann meine Adresse …“, setzt er hinzu.

Die weiß ich eh schon, aber das sollte ich ihm vielleicht nicht ausgerechnet jetzt auf die Nase binden.

„Ja, wüsste ich. Hast du Angst?“

„Es gibt nichts, wovor ich mich noch fürchten müsste“, erwidert er unerwartet hart und kalt.

Seine Worte schockieren mich mehr als sein bisheriges Verhalten.

„Dann gibt es auch nichts, wofür es sich für dich zu leben lohnt?“

Mann, müssen wir dieses Gespräch jetzt wirklich führen? Noch dazu hier? In diesem Bumsschuppen?!

„Doch, Sex.“

Seine Antwort lässt mich ungläubig aufschnauben, dabei demonstriert er das doch mit seinem Verhalten seit Wochen!

„Okay …“, sage ich gedehnt und weiß nicht, was ich sonst noch dazu bemerken soll.

„Schockiert dich das etwa?“, fragt er provokant.

„Nein, ich sehe es ja.“

„Du ermöglichst es mir sogar.“

„Weißt du, wenn es dir nur darum geht, möglichst viel Sex zu haben, gäbe es andere Möglichkeiten als diesen furchtbaren Laden“, sage ich, weil ich selbst wirklich sehr ungern hier bin.

„Schon klar, aber dann ende ich jedes Mal biertrinkend und redend mit den Kerlen.“ Sein spöttischer Ton gefällt mir.

„So wie jetzt?“

Er nickt. „Nicht unbedingt meine bevorzugte Tätigkeit.“

„Bist du nur freitags hier?“

„Ja. Wieso fragst du?“

„Weil ich verstehen will, wieso du dich jeden Freitag von keine Ahnung wie vielen Kerlen durchnehmen lässt, aber im Rest der Woche offenbar nicht.“ Meine Erklärung bringt ihn dazu, den Kopf schräg zu legen und mich noch genauer zu mustern.

„Und?“ Sein Ton ist herausfordernd.

„Nichts und, ich will es nur kapieren.“

„Was gibt es daran denn zu kapieren? Ich mache es halt so“, sagt er schnippisch.

Ob ihn mein Interesse wirklich so sehr nervt?

„Also gibt es keinen echten Grund dafür, dich an den anderen Tagen nicht ficken zu lassen?“, hake ich nach und weiß sehr genau, dass ich den Bogen damit echt überspannen könnte.

„Nein. Gibt es nicht. Was spielt das denn für eine Rolle?“

Ich hebe die Schultern. „Sag du es mir. Ich bin nur neugierig.“

Er schnaubt verächtlich. „Niemand hindert dich daran, aber das bedeutet nicht, dass ich irgendwas von mir erzähle.“

Oh, damit hat er mir die Tür eiskalt vor der Nase zugeknallt.

„Schon okay“, sage ich und hebe abwehrend die Hände. „Niemand zwingt dich.“

Es wird Zeit, abzuhauen, alles andere ergibt keinen Sinn.

„Ich weiß“, schnappt er.

Nickend stehe ich vor ihm. „Alles klar, man sieht sich“, sage ich möglichst kalt und mache kehrt, um den miesen Schuppen endlich zu verlassen.

Ich weiß genau, dass ich, wenn ich mich nicht sehr gut ablenke, nächsten Freitag wieder hier sein werde, um ihn zu beobachten, nach Möglichkeit auch zu ficken.

Albernes Verhalten, schon klar, aber wie soll ich denn gegen diesen Sog ankommen, in dem ich seinetwegen stecke?


 

Da geht er hin, und ich kann nicht sagen, dass es mir leidtut.

Bullshit, natürlich finde ich es schade, weil seine Verabschiedung durchaus danach klang, als würde ich ihn vorerst nicht wiedersehen.

Ist vielleicht auch besser so, aber deshalb muss es mir nicht gefallen.

Dabei bin ich echt genervt von seiner Neugierde, seinen Nachfragen.

Was geht es ihn denn an, wieso ich was mache?

Ich bin alt genug, um das alles für mich selbst zu entscheiden und niemand hat mir da reinzureden!

Schon gar nicht so ein dahergelaufener Wicht, der nach ein paar unverbindlichen Ficks plötzlich anfängt, derart zutraulich zu werden!

Eindeutig, es ist besser, dass er gegangen ist.

Ich wende mich zur Theke und bestelle ein weiteres Bier, das ich schnell austrinke, um mir anschließend den nächsten Kerl zu suchen.

Der eben noch so deutliche Drang, das La Bouche zu verlassen, nach Hause zu gehen, ist weg.

Eindeutig, ich brauche Sex, jetzt sofort!

Auf dem Weg zur Tanzfläche fängt mich ein Typ ab, den ich schon oft hier gesehen habe. Immerhin gehe ich seit einem halben Jahr jeden Freitag hierher.

Bisher hat er mich nicht angesprochen oder sich auch nur genähert.

Als seine Finger sich um mein Handgelenk schließen, bleibe ich stehen und lächle ihn an.

Er ist etwa so groß wie ich, dunkles Haar, der Rest spielt keine Rolle, solange er Top ist und über brauchbare Ficktechniken verfügt – und was das angeht, bin ich echt nicht wählerisch!

Wir verschwinden ohne viel Aufsehen im Darkroom und haben ganz sicher keine zwei Worte gewechselt, als er in mich eindringt und mich mit langen, harten Stößen durchfickt.

Ich genieße den Rhythmus, gebe mich ihm hin, spüre irgendwann nur noch den heftigen Druck, der sich zu einem weiteren Orgasmus aufbaut.

In Erwartung dessen, weshalb ich diesen ganzen Scheiß überhaupt mache, schließe ich die Augen und gebe mich dem Gefühl hin, das mich wegschwemmen und erinnern kann.

Es dauert nur Sekunden, dann verliert sich alles, was meinen Kopf so leicht und frei machen sollte, in einer dumpfen Leere.

Enttäuscht schnaube ich auf – und sende damit prompt das falsche Signal an den Kerl hinter mir, der sich schwer atmend von dem Gummi befreit und anzieht.

Meine folgenden, halblauten Flüche sind auch nicht hilfreich …

„Was ist los?“, fragt er und klingt irgendwie angepisst.

„Nichts, nichts!“, beeile ich mich zu sagen, weil ich keinen Ärger will. Er ist definitiv fitter als ich und könnte mich vermutlich mit einem Schlag ausknocken, wenn ich jetzt was Blödes sage und ihn damit provoziere.

Misstrauisch sucht er meinen Blick. „Ach? Nichts also? Und weshalb fluchst du dann vor dich hin?“

Er klingt drohend, wirkt plötzlich so viel größer und präsenter, als er eigentlich dürfte. Ich weiche, mit dem Rücken zur Wand gedreht, zurück, bis er mich zwischen seinem harten Körper und dem glatten, lackierten Putz der Kabine einklemmt.

Sein Blick hypnotisiert mich auf eine widerliche Art, seine neben mir an die Wand gelehnten Hände versperren auch den seitlichen Rückzug.

„Ich …! Ehrlich, alles gut, das war ziemlich geil!“, stammele ich und schaffe es einfach nicht, den Blick zu senken.

„Dann überleg dir beim nächsten Mal lieber, ob Flüche der richtige Dank für einen Fick sind!“, zischt er und Sekunden später sinke ich keuchend an der Wand herab, weil ich einen Faustschlag in den Magen und einen widerlich harten Hieb ins Gesicht abbekommen habe.

Mein nackter Arsch landet auf den Bodenfliesen und ich zucke kurz, dann überrollt mich der brennende Schmerz an meinem rechten Auge und irgendetwas trübt meine Sicht.

Mein Kopf rauscht, pulsiert, mir wird speiübel und ich rappele mich mühevoll auf, damit ich mir nicht selbst auf die Hosen kotze, falls es soweit kommen sollte.

Anziehen, raus hier.

Ganz raus.

Jede Ansprache ignorierend, schwanke ich weiter.

Das La Bouche fällt taumelnd hinter mir zurück.

Ich wickele mich in meine Jacke und friere zum Gotterbarmen, hastige Atemzüge begleiten meine unsicheren Schritte durch das Industriegebiet, in dem der Club liegt.

Ich muss nach Hause, mir ansehen, was dieser Arsch mit meinem Gesicht angestellt hat!

Mein Magen beruhigt sich mit jedem Zug frischer Luft, aber das stetig neu aufbrandende Schwindelgefühl in meinem Kopf, bringt mich fast um den Verstand.

Ich traue mich nicht, noch einmal an mein Auge oder auch nur die rechte Gesichtshälfte zu fassen, obwohl ich gegen die Nachtkälte deutlich spüren kann, wie warmes Blut darüber rinnt.

~*~

Kaum zu glauben, dass ein simpler Fausthieb gegen meine Schläfe eine solche Verwüstung in meinem Gesicht fabrizieren konnte, aber ich sehe das Resultat, am Spiegel im Badezimmer stehend, sehr deutlich.

Alles ist geschwollen, besonders die Augenlider des rechten Auges. Ich traue mich auch mit dem eiskalten, nassen Waschlappen kaum daran, um das angetrocknete Blut abzuwischen.

Eine knappe Stunde war ich unterwegs, um nach Hause zu gelangen.

So wollte ich auf keinen Fall in ein Taxi steigen, wobei mich vermutlich auch kaum ein Taxifahrer mitgenommen hätte.

Ich seufze schmerzerfüllt und beiße die Zähne aufeinander.

Au!

Verdammt, seine Faust muss mich richtig großflächig erwischt haben, denn die Zähne der oberen Reihe schreien gepeinigt auf.

Na gut, also ohne zusammengebissene Zähne saubermachen …

Es dauert eine weitere Stunde, bis ich die Blutreste so weit entfernt habe, dass ich mich umziehen kann.

Nun zieren zwei Steri-Strips meine Augenbraue, weil sie einen kleinen, aber tiefen Cut abbekommen hat.

Erleichtert und in kuscheligen Klamotten sinke ich mit einem frischen Kaffee auf einen Küchenstuhl und stütze mich auf der Tischplatte ab.

Was ist heute Abend passiert? Wieso konnte ich nicht aufhören, über den kurzen Rausch zu fluchen?

Hätte ich mich nicht besser beherrschen müssen?

Der Schmerz meiner rechten Gesichtshälfte verkündet mir, um wie vieles besser ich mich jetzt fühlen würde, wenn ich meine Wut und Enttäuschung nicht geäußert hätte.

Tja, hätte, wäre …

Müßiges Thema, denn ich habe.

Nun bleibt mir nur, meine Wunden zu ertragen und mir für die Zukunft vorzunehmen, nicht noch einmal derart größenwahnsinnig zu sein.

Trotzdem bin ich auch sauer auf diesen Mistkerl!

Wie soll ich am Montag erklären, was mir passiert ist, ohne mit der Wahrheit herauszurücken?

Mein äußerst geschätztes und sehr besorgtes Personal wird mit Fragen zu meinem Aussehen ganz sicher nicht sparen, und vermutlich kann ich von Glück sagen, wenn mich Anika, Ida und Madlen nicht sofort zu einem Kollegen schicken.

Das wollen sie sowieso seit Monaten, aber bislang habe ich mich rausgeredet, wenn sie mir erklärt haben, dass ein krank aussehender Arzt auf seine Patienten nicht unbedingt vertrauenerweckend wirkt.

Ich sehe es vor mir, wie sie sich mit meiner Laborassistentin Claudia verbrüdern, um mir gemeinschaftlich noch vor Öffnung der Praxis den Marsch zu blasen …

Der Kaffee schmeckt bitter – ich habe den Süßstoff vergessen.

Mist.

Unter gequältem Stöhnen stehe ich erneut auf und kehre müde und niedergeschlagen zurück zum Tisch.

Es ist nach drei Uhr in der Nacht. Ich sollte machen, dass ich ins Bett komme.

Aber vorher muss ich die geschwollene Gesichtshälfte erst mal kühlen.

© Nathan Jaeger

 

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Published on November 05, 2021 17:32

[Leseprobe] Writing Ghost

 Leseprobe

Ich weiß, ich darf mich nicht ständig in die Erinnerungen ziehen lassen, die mein aktuelles Leben ausbremsen, aber in jedem Sommer ist es dasselbe.

Sobald ich im Freibad die herumtobenden Jugendlichen und Kinder sehe, die Geräuschkulisse wahrnehme und dabei die Augen schließe, bin ich wieder zwölf und mein bester Freund Moritz liegt neben mir.

Unser letzter gemeinsamer Sommer. Immer wieder flüchte ich mich dorthin, auch wenn es sinnlos ist.

Ich kann nichts dagegen tun – außer vielleicht, dem Freibad fernzubleiben – was angesichts der phänomenalen Temperaturen absolut undenkbar ist.

Blöde vor mich hin grinsend sehe ich Moritz und mich wie in einem Film. Wir toben im Wasser, tauchen uns gegenseitig unter, schwimmen um die Wette, dann liegen wir atemlos auf unseren Handtüchern und freuen uns über alles und nichts, während wir über Mädchen lästern, über unsere neuesten Rekorde bei irgendwelchen Spielen reden oder auch über das aktuelle Buch, an dem wir lesen, wenn unsere Mütter abends das Licht gelöscht haben.

Taschenlampen und Papierbücher sind dabei vollkommen out. Wir haben beleuchtete E-Reader, in denen man ganz wunderbar unter der Bettdecke versteckt lesen kann.

Ich seufze und richte mich mit einem Ruck auf.

Moritz ist tot. Seit beinahe vierzehn Jahren.

Ich weiß es, aber wirklich begreifen werde ich es wohl niemals.

Ein anaphylaktischer Schock.

Mein bester Freund, mit dem ich meine gesamte Kindheit bis zur sechsten Klasse am Gymnasium verbracht habe, ist damals einfach so gestorben.

Niemand wusste, dass er allergisch auf Wespengift reagiert, weil ihn vorher niemals eine gestochen hatte.

Und dann … ist er einfach daran gestorben.

Heute weiß ich, dass er qualvoll erstickt ist, aber damals habe ich den Erwachsenen geglaubt, dass er friedlich eingeschlafen ist.

Ein Schütteln rinnt durch meinen Körper, das nichts mit meinen noch nassen Schwimmshorts zu tun hat.

Moritz verloren zu haben, war hart. Seitdem ist jeder Sommer hart.

Seufzend reibe ich mir übers Gesicht und stehe auf, um meinen Liegeplatz wieder mehr in die Sonne zu bringen.

Anders lässt sich diese unnatürliche Kälte nicht aus meinem Körper vertreiben.

Ich weiß bereits aus den vergangenen Jahren, dass es im Laufe des Sommers leichter wird, dass die Erinnerungen in den Hintergrund treten und mir wieder mehr Platz gewähren, über andere Dinge nachzudenken.

Aber heute ist mein erster Tag im Freibad und an diesem ist es in jedem Jahr besonders schlimm.

Vielleicht wird sich das niemals ändern, weil alles so eingebrannt, so unumstößlich in meinem Kopf verankert ist.

Trotzdem habe ich lernen müssen, vorwärts zu gehen. Ich musste mich auf die Situation einstellen, an der niemand die Schuld trug, musste mich damit abfinden, dass Moritz fort war.

Und ja, ich musste mir neue Freunde suchen. Andere, lebendige.

Klar habe ich das gemacht. Was blieb mir anderes übrig?

Moritz und ich hatten durchaus viele Freunde, aber niemand davon war uns so nah wie wir uns.

Er war wie ein Bruder, ein Vertrauter – allerdings bekam ich keine Gelegenheit mehr, ihm mein größtes Geheimnis anzuvertrauen.

Ich habe mit vierzehn herausgefunden, dass ich auf Jungs stehe, dass Mädchen mich nicht interessieren, zumindest nicht den hormonellen Teil von mir.

Vielleicht habe ich wegen des Verlustes so lange gebraucht, mich zu einem Coming out zu bewegen?

Drei Jahre lang wusste niemand von meiner Neigung, erst dann habe ich es meiner Mutter erzählt – unter Tränen, voller Angst.

Dass beides unbegründet war, habe ich damals erfahren, aber leichter wurde es dadurch nicht.

Daran sind ganz sicher nicht meine Eltern oder die Familie schuld, sondern meine eigenen Lebensumstände.

Ich hatte Angst.

Wie sollte ich jemals wieder jemanden an mich heranlassen? Wie jemals wieder jemanden wie einen Bruder lieben, ohne Moritz und dessen Freundschaft zu verraten?

Auch wenn ich in der Schule Freundschaften gepflegt und ausgebaut habe, war nichts so eng und nah wie meine Verbundenheit mit Moritz.

Dabei bin ich mir ganz sicher, dass ich nie in ihn verliebt war.

Nein, verliebt war ich zum ersten Mal mit fünfzehn, lange vor dem Outing bei Mama.

Dass daraus nichts wurde, lag wohl daran, dass Kevin eindeutig auf Mädchen stand, vermutlich immer noch steht.

Ich atme noch einmal tief durch und setze mich wieder auf meine Decke, krame mein Handy aus den Abgründen der Schwimmtasche und sehe, dass mein heutiger bester Freund, sofern man ihn so bezeichnen kann, sich gemeldet hat.

Er lebt eine gute Autostunde von mir entfernt. Auch wenn wir uns in den letzten Jahren oft getroffen haben, sind tägliche gemeinsame Aktivitäten eher selten.

Ich finde das gut so, denn das erspart mir die weitere Annäherung und die Angst.

Hin und wieder besuchen wir gemeinsam Festivals oder Konzerte und haben auch schon mal ‚Urlaub‘ beim jeweils anderen oder gemeinsam an der See gemacht.

Malte ist ebenso schwul wie ich, aber wir hatten nie was miteinander, weil wir uns diesbezüglich einfach nicht grün sind.

Sexuelle Anspannung gibt es schlicht nicht.

Davon abgesehen ist das Thema bei mir sowieso nicht weiter erwähnenswert. Ich hatte zwar kurze Beziehungen, auch mal den einen oder anderen One-Night-Stand, aber das war’s auch schon.

Egal, wenn ich mich hier weiter festdenke, vergeht mir am Ende noch die Lust aufs Schwimmen!

Zudem sollte ich wohl damit aufhören, blöde auf mein Handy zu starren, anstatt Maltes Nachricht endlich mal zu lesen.

> Hey Lulatsch, ich hoffe, du liegst bei diesem Wetter irgendwo faul in der Sonne. Ich habe gleich Feierabend und werde den nächsten Badesee ansteuern.

Ich antworte.

> Hey Zwerg! *fg* Ich aale tatsächlich schon seit zwei Uhr im Freibad. Dir viel Spaß am Badesee! Was steht dieses WE bei dir an? Nachher Videochat?

Sekunden später klingelt mein Handy. Ein Videoanruf von Malte geht ein.

Ich nehme das Gespräch an und grinse in die Kamera. „Hey Zwerg!“

Er lacht sich scheckig. „Hey Lulatsch! Na? Schon Frischfleisch in leichter Bekleidung entdeckt?“

Ich schüttle den Kopf und verziehe den Mund. „Nein, du weißt doch … Erster Tag im Freibad …“

Die Anonymität des Internets hat mir damals sehr geholfen, Malte alles über Moritz und mein Trauma zu erzählen. Vermutlich ist auch das ein Punkt auf der ‚Wir würden niemals was anfangen‘-Liste.

„Ja, sorry, ich weiß. Ich hatte nur gehofft, du lässt dich ablenken. Zeig mal, was ist denn so im Angebot?“

Ich drehe die Kamera, lasse sie um mich herum über die Liegewiese gleiten, während ich Maltes unterschiedlichen Kommentaren lausche und tatsächlich lachen muss.

„Wow, der da hinten! Der Braungebrannte mit der roten Badehose … meine Fresse!“

Ich kichere. „Seine Freundin ist grad zum Kiosk marschiert, ich fürchte, der würde dich nicht ranlassen.“

„Ach, egal. Wie sieht es aus? Ich hätte für übernächstes Wochenende Karten für ein Konzert. Magst du mitkommen?“

Sein Themenwechsel irritiert mich kurz, dann schürze ich die Lippen und drehe die Kamera wieder um. „Hm, bisher liegt nichts an. Ich muss erst mal rauskriegen, was ich dieses WE machen will.“

Nach einigem Geblödel legen wir auf, weil Malte bereit ist, den Badesee zu erobern. Dazu muss er aber erst mal dorthin fahren, und dabei ist Videotelefonie sehr unpraktisch.

Davon abgesehen weiß ich zu genau, dass er an einen See fahren wird, der als Cruising-Revier bekannt ist – und dort wird er sicherlich nicht lang allein bleiben …

Macht nichts. Ich habe mir den Termin in zwei Wochen vorgemerkt und freue mich schon auf das Konzert, der Rest ist mir gerade ziemlich egal.

Vielleicht, weil ich mein E-Mail-Postfach am Handy aufgerufen habe, und seit Ewigkeiten mal wieder den Drang verspüre, eine Nachricht an Moritz zu schreiben.

Nun ja, an seine Adresse. Dass sie nicht bei ihm selbst ankommt, weiß ich schließlich!

Früher, direkt nach seinem unerwarteten Tod, habe ich ihm eine Mail an sein Postfach gesendet. Kurz darauf noch eine.

Schließlich ist eine Art Tagebuch daraus geworden, in dem ich ihm von allem erzählt habe, was mir am jeweiligen Tag passiert ist.

Mindestens ein Jahr lang habe ich das beibehalten, aber irgendwann ließ ich es sein, weil ich das Gefühl hatte, dass es nichts nutzt.

Mehr als zehn Jahre lang habe ich ihm keine Nachricht mehr gesendet, auch nicht am ersten Freibadtag eines Jahres.

Heute schon.

Hallo Momo,

es tut mir leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe, aber damals erschien mir irgendwann alles so sinnlos, deshalb habe ich aufgehört, dein Postfach als Tagebuch zu benutzen.

Heute will ich es aber tun. Ausnahmsweise.

Dabei gibt es gar nichts Besonders zu sagen. Nur, dass ich gerade sonnenbadend und faul unter ‚unserem‘ Baum im Freibad liege und meine Gedanken ständig zu dir und unserem letzten Sommer wandern.

Es ist in jedem Sommer so. Beim ersten Freibadbesuch vermisse ich dich höllisch – und der ist heute.

Bisher haben Wetter und Freizeit nicht zugelassen, dass ich herkam.

Hm, Mittlerweile bin ich 25 … was bedeutet, dass du seit mehr als 13 Jahren nicht mehr da bist.

Aber das ändert nichts daran, dass du mir fehlst. Es wird nicht besser, nur weil mehr Zeit vergeht.

Wer behauptet, dass der Schmerz weggeht, hofft auf Demenz, nicht wirklich darauf, dass es erträglicher wird.

Tja, du siehst, die Jahre haben mich zynisch gemacht, aber nicht nur die.

Ich habe damals, kurz nachdem ich aufgehört habe, dir zu schreiben, herausgefunden, dass ich auf Jungs stehe. War ein ziemlicher Schock und ich hätte so gern mit dir darüber geredet, dich ins Vertrauen gezogen, dich um Rat gefragt.

Schon klar, du hättest kaum etwas Schlaueres sagen können, als ich selbst, immerhin waren wir gleich alt und wohl auch gleich naiv, schließlich waren wir echte Idioten …

Kein Vorwurf! Ich kann dir versichern, dass ich auch heute noch ein Idiot bin.

Einer, der kaum echte Freunde hat, keinen Menschen mehr nah an sich heranlässt und zum Thema Liebesleben schweige ich wohl besser, sonst endet das hier in einer mitleiderregenden Litanei über alle Mistkerle dieser Welt.

So wenig ich Freundschaften suche, so sehr wünsche ich mir, wenn ich ganz-ganz ehrlich bin, eine echte Beziehung.

Du weißt schon, romantisch, verklärt, kitschig, ernsthaft, verliebt …

Mann, sei froh, dass du mein kellertiefes Seufzen jetzt nicht hören musstest …

Ich bin echt peinlich.

Okay, bevor ich doch noch selbstmitleidig werde, höre ich besser auf.

Du sollst nur wissen, dass ich sehr, sehr oft an dich denke!

Dein J.

Ich sende die Nachricht ab und verstaue das Handy wieder.

Da ich in tausend Jahren keine Antwort bekommen werde, lohnt es sich schließlich auch nicht, darauf zu warten.

Stattdessen fühle ich mich seltsam erleichtert, weil ich nach so langer Zeit wieder an Momo geschrieben habe.

© Nathan Jaeger

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Published on November 05, 2021 17:27

[Leseprobe] Club Loveshack - Die Wohnung

 Leseprobe

Wenn mein Freund Sven wüsste, dass ich hier bin, hätte ich vermutlich nichts zu lachen, aber zu meinem … nein, ‚Glück‘ ist definitiv das falsche Wort …

Wie soll ich es bloß sagen?

Wann immer ich diese Wohnung betrete, habe ich einen anderen Namen, und viel interessanter!, andere Sexpartner als zu Hause.

Ich hänge meine Jacke im Flur an die Garderobe und trete durch die verglaste Tür ins Wohnzimmer.

Das vertraute Stöhnen dringt sofort in meine Ohren – Nick liegt wichsend auf dem Sofa und sieht mich aus halbgeöffneten Augen an.

„Na, endlich!“, stöhnt er.

„Entschuldige, nach deinem Anruf musste ich mich noch vorbereiten“, erwidere ich und drücke ihm einen Kuss auf die Wange.

Dabei setze ich mich auf den Rand der Couch und übernehme nahtlos seine Massage, bis er laut keuchend kommt.

Die erste Amtshandlung für jeden von uns, wenn wir uns hier treffen. Erst mal Druck loswerden, damit alles, was danach kommt, länger dauern kann.

Nick richtet sich übergangslos auf. „Na, los, ausziehen!“

Scheiße, irgendwann werde ich herausfinden, wieso mich dieser milde Befehlston so geil machen kann. Aber bis dahin ziehe ich es vor, meine Rolle bei ihm zu genießen.

Deshalb folge ich seiner Aufforderung umgehend und knie wenig später auf dem runden Polsterhocker vor der Fensterfront des Wohnzimmers.

Den nackten Arsch einladend in seine Richtung gestreckt, blicke ich über meine Schulter zu dem muskulösen Zweimeter-Mann, der mit wiegenden Schritten näherkommt.

„Sieh nach vorn, Sugar!“, verlangt er, mein Blick geht zum Fenster. Ich kann beides – nach draußen in den sich bewölkenden Himmel des beginnenden Abends blicken und unsere Spiegelungen auf dem Glas der riesigen Fensterscheiben sehen.

Was mich mehr anmacht, ist die Spiegelung, in der ich genau verfolge, wie Nick sich nähert und dicht hinter mir stehen bleibt.

Seine warmen Finger streichen durch meine Spalte, über meine Backen und meinen Damm. Zärtliche Liebkosungen, ich halte die Luft an. Als er den Kopf neigt, gleitet sein heißer Atem über meine empfindliche, erregte Haut.

Seine nasse Zunge folgt, kaum dass sein erfreutes Brummen verklungen ist.

Zuckend winde ich mich, biete ihm meinen Arsch deutlicher an, will alles, jetzt und sofort, auch wenn ich genau weiß, dass er mich zappeln lassen wird.

Allein schon, weil ich meinen Vorab-Schuss noch nicht hatte.

Eine Sache, die Nick in Kürze ändern wird.

Zuvor jedoch drückt er den Inhalt einer mit Gleitgel aufgezogenen Spritze in mein empfindliches Loch und lässt mich schaudern.

Meine Reaktion auf seine Vorbereitung für einen harten, geilen Fick zu einem späteren Zeitpunkt lässt ihn leise auflachen.

Bevor ich es begreife, hat er mich an der Taille umfasst und dreht mich auf die Seite, greift um und ich liege auf dem Rücken.

Seine Hand schlingt sich fest um meinen harten Schwanz, wichst mich unbarmherzig und mit wachsender Intensität.

Es dauert nicht lange, auch wenn ich es nicht in Minuten oder Massagestrichen sagen könnte, bis ich laut stöhnend über Nicks Finger komme.

„Hmmm“, brummt er und sieht auf mich herab.

Sein hungriger Blick lässt mich schaudern, während ich versuche, die Wellen dieses ersten Orgasmus’ zu überstehen.

Ich weiß genau, jeder weitere am heutigen Abend wird ungleich heftiger und intensiver werden.

Die Vorfreude hat mich im Griff, es gibt einfach nichts Besseres als Sex mit Nick an genau diesem Ort.

Unterdessen ich meinen Atem beruhige, verschwindet Nick und kehrt mit Reinigungstüchern zurück, um die Spritzer, die nicht seine Finger, sondern meinen Oberkörper getroffen haben, wegzuwischen.

Jede seiner Gesten ist sanft, zärtlich, auch wenn wir nicht ineinander verliebt sind.

Liebe hat bei unseren Treffen in dieser Wohnung keinen Platz.

Ich beobachte jede seiner Bewegungen, genieße das Spiel seiner Muskeln und seufze ungehemmt.

Bei ihm kann ich sein, wie ich bin.

Ergeben, passiv, annehmend, nicht gebend. Wobei man speziell über Letzteres streiten könnte, da Nick behauptet, mein Verhalten gibt ihm sehr viel.

Bei meinem Freund ist alles anders, da bin ich der ‚Boss‘, wie man so schön sagt, und ich kriege nur sehr selten mal einen geilen, harten Schwanz reingesteckt.

Sei’s drum, nichts zieht mich aus den anregenden, hitzigen Erlebnissen, die ich jetzt genießen kann.

Nick ist nur Augenblicke, nachdem er die Tücher entsorgt hat, über mir, neigt den Kopf zu meinem, küsst mich hart und gierig.

Ich stöhne in seinen Mund und ergebe mich erneut.

Seine großen Hände umschließen meine Handgelenke, pinnen meine Arme über meinen Kopf gestreckt auf das weiche Polster des Hockers.

Sein Gewicht liegt auf mir, meine angewinkelten Beine rahmen seinen Arsch ein, und ich winde mich unter ihm vor Lust.

Dass diese nicht abflaut, wenn Nick auf mir liegt, und seinen längst wieder erwachten Prügel an mir reibt, ist wohl klar.

„Ja!“, keuche ich.

„Ja, was?“, fragt er, den Kuss unterbrechend und hebt den Kopf, um mich zu fokussieren.

„Ja, bitte mach weiter, ich brauch’s heute dreckig, hart und schnell.“

Sein Grinsen, das laszive Lecken über seine Unterlippe, mir bricht der Schweiß aus und ich stöhne leise.

Nick umfasst beide Handgelenke mit der Linken und nutzt seine Rechte, um mein linkes Knie seitlich neben meinen Oberkörper zu drücken.

Mein Schwanz und meine Eier rutschen an seinem harten Bauch entlang, seine pralle Eichel streift meinen Damm und er hebt das Becken, um sich an meinem zuckenden Loch zu platzieren.

Mit einem tiefen Brummen schiebt er sich in mich, überwindet den zuckenden, gierigen Muskel meines Eingangs und bremst seinen Stoß erst ab, als er vollständig in mir steckt.

Dadurch, dass er mir vorhin schon Gleitgel reingespritzt hat, müssen wir uns keine Sorgen über fehlende Schmierung machen und können das hier einfach genießen.

Nick beendet seine Bewegung nach diesem ersten Stoß und richtet sich weiter auf, lässt meine Handgelenke los und schiebt auch mein zweites Bein neben meine Brust.

Mein Becken kippt ihm entgegen, ich will nicht, dass er auch nur einen Zentimeter aus mir herausrutscht!

Ich schiebe meine Hände in die Kniekehlen und halte meine zittrigen Beine an mich gedrückt, fühle mich herrlich ausgeliefert und einfach begehrt.

„Ja!“, keuche ich, weil er mich nur hungrig und abwartend mustert, während sein riesiger Prügel mich ausfüllt.

Sein rechter Mundwinkel hebt sich auf eine arrogant-spöttische Art. „Muss ich schon wieder fragen, Sugar?“

Ich schaudere, wohl, weil er so gut wie ich weiß, was er erwartet …

Tief atme ich ein, merke selbst, wie sehr der Luftstrom, der meine Lungen erreicht, zittert und stockt.

„Fick mich, Nick.“

Er schüttelt bedächtig den Kopf und grinst noch breiter auf mich herab.

Scheiße, ich kenne diesen Gesichtsausdruck so genau, und doch provoziere ich es immer wieder.

Klar, wird er mich richtig durchficken, aber bestimmt nicht, wenn ich es verlange, sondern wenn er es entscheidet! Eine Tatsache, die mir im Grunde ja auch entgegenkommt.

Seine Hände gleiten über meine Schenkel, streifen meinen erwachten Schwanz und kneten meine Eier.

Ich zapple unruhig, weil er sich noch immer nicht in mir bewegt, mich einfach so auf seinem Prügel festhält.

Wenn ich Pech habe … Scheiße, ich kann das laute, unwillige Murren nicht unterdrücken, als er sich aus mir zurückzieht und sich wieder über mich beugt.

Ganz dicht an meinem Ohr raunt er: „Dreckig und hart, sagtest du vorhin?“

Sein lockender Ton lässt mich aufstöhnen und heftig nicken, auch wenn ich weiß, dass ihn das nur noch mehr dazu reizen wird, mich zappeln zu lassen.

Vielleicht kann ich aber auch erreichen, dass er seine Selbstbeherrschung verliert?

Ich reibe mich an ihm, umschlinge ihn mit meinen Beinen und verhake die Knöchelgelenke miteinander. So kann ich für mehr Kontakt sorgen, mich dichter an ihn drängen und ihn aufreizend berühren.

„Bitte, Nick, du kannst mich auf jede erdenkliche Art haben, aber zuerst brauche ich einen schnellen, erbarmungslosen Fick!“, flehe ich und weiß genau, dass er diesen Tonfall von mir geil findet.

Ist schließlich nicht unser erstes Mal, sondern eher das hundertste, genau weiß ich es nicht.

Vollkommen egal, denn Nick zieht meine Aufmerksamkeit sehr deutlich auf sich und seine von einem Schweißfilm überzogene Haut.

Er richtet sich auf, dass er kniet, zieht mich, ob der verschränkten Beine, mit sich und schiebt seine Handflächen unter meine Schulterblätter, bis ich auf seinen Schenkeln hocke und an seiner Brust lehne.

Ich bin nicht gerade klein, aber im Vergleich zu ihm dann doch.

Entsprechend bin ich leicht genug, um ihm einen solchen Kraftakt zu ermöglichen.

An seiner Brust lehnend atme ich tief durch.

„Was, wenn ich es heute aber weder hart noch dreckig will, Sugar?“

Ich muss lächeln, weil das hungrige Raunen von eben einem sanften Flüstern gewichen ist.

Dass er mich ‚Sugar‘ nennt, liegt übrigens daran, dass mein Name in dieser Wohnung – genau wie in dem Chat, durch den wir uns getroffen haben – Sugar&Pain lautet.

Es ist also kein Kosename, sondern eine simple Anrede.

Meine Arme schlingen sich um seinen Hals, irgendwie kann ich mich bei diesem massigen Kerl unglaublich beschützt fühlen – nicht dass ich das Bedürfnis hätte, mich beschützen zu lassen, es ist einfach ein unwillkürliches Gefühl, das mich jedes Mal beseelt, wenn er mich so an sich drückt.

Gerade als er seine Hände über meinen Rücken hinab zu meinen gespreizten Backen gleiten lässt, um mich anzuheben, schließt sich die Wohnungstür hinter einem weiteren Besucher.

Mein Blick fliegt zu Nicks Augen, fragend kräuseln sich meine Brauen.

„Keine Ahnung, vielleicht sind wir unerwartet zu viert?“, murmelt er, ohne auch nur den Kopf zu drehen, als die Flurtür sich öffnet und wieder schließt.

Ich werfe einen Blick über Nicks Schulter, als er mich unbeirrt weiter anhebt, und ich seinen schweren Schwanz nicht mehr vor, sondern unter mir spüre.

„Guten Abend!“

Keiner von uns reagiert auf den Gruß.

Besonders die feuchte Eichel, die Nick nun zielsicher wieder an meinem Loch platziert, hindert mich daran.

„Ja!“, flüstere ich, ohne weiter auf den Mann zu achten, der eben angekommen ist.

Lonny wird warten oder mitmachen, wir werden es herausfinden.

Die Sensation dessen, was sich gerade in mir abspielt, weil Nick mich wieder auf sich gleiten lässt, spült jeden Gedanken an etwas anderes als ihn und sein Riesending weg.

„Ahhhh!“, stöhne ich und sinke noch dichter an seine Brust, während mein Rücken ins Hohlkreuz fällt und Nicks Atem meine Wange streift.

Erst als ich ihn wieder vollständig aufgenommen habe, wendet er den Kopf.

„Hey Lonny. Mit wem bist du verabredet?“

„Bin ich nicht“, erklärt der blonde Adonis, der nun neben uns stehenbleibt. „Ich bin vorbeigefahren, sah Licht, und hab beschlossen, ich könnte mal reinschauen. Braucht ihr Gesellschaft?“

Ich kichere unterdrückt, weil Lonny sich gierig über die Lippen leckt.

„Du meinst, ob ich erlaube, dass du deinen Schwanz noch mit reinsteckst?“, frage ich keck.

Auch eine Sache, die ich mit meinem Freund nie haben werde – Doppelpenetrationen.

Allerdings passt neben Nicks Schwanz definitiv kein zweiter in mich …

Der Prügel in mir zuckt, es ist, als übertrüge sich Nicks Missbilligung meines Vorschlags auch auf seinen Schwanz.

Ich sehe ihn lächelnd an. „Keine Sorge, du bist immer genug“, erkläre ich beschwichtigend.

„Du hättest jetzt auch mal was anderes sagen sollen …“, knurrt er und Lonny hebt abwehrend die Hände.

„Hey, war nicht meine Idee, aber nein, Doppelpack ist nicht die beste Idee. Wenn ihr lieber allein weitermachen wollt, rufe ich Bullit an.“

„Guter Plan“, knurrt Nick, bevor er meinen Mund zu einem wilden Kuss einfängt.

Nach zwei Zungenschlägen umschlingt er meine Mitte so fest, dass ich kaum noch Luft bekomme, während er mich anhebt und rückwärts von unserem Hocker steigt.

Ein paar Schritte, eine aufgestoßene Tür, dann legt er mich auf das Bett, ist wieder über mir und schiebt meine Beine herab.

Wieder murre ich genervt, als er sich zurückzieht und aufsteht.

„Ganz ruhig, Sugar.“ Mit diesen Worten geht er hinaus und kehrt Augenblicke später zurück.

Was immer er getan hat, mit Lonny gesprochen hat er nicht, der telefoniert nämlich bereits mit Bullit, einem weiteren Nutzer dieser Wohnung.

Egal, alles egal, Nick ist wieder im Schlafzimmer und schließt nachdrücklich die Tür, nachdem er an der Klinke hantiert hat. Ich kann nur vermuten, dass er ein ‚Bitte nicht stören‘-Schild angehängt hat.

Von der Tür aus mustert Nick mich wieder so hungrig und voller Begierde, dass ich zittere. Trotzdem kommt er nicht näher, umrundet stattdessen das Bett und öffnet den Schrank, in dem sich gewisse Werkzeuge wie Spreizstangen, Ketten, Seile und Handschellen befinden.

Mein Schwanz zuckt erregt, als Nick eine der Beinspreizstangen und zwei Paare Klett-Manschetten herausholt und aufs Bett wirft.

Ich schlucke hart.

Nick wird mich fesseln, am Bett anbinden oder einfach zu einem geilen, fickbaren Paket verschnüren – ganz ohne Seile.

Er schließt den Schrank und tritt ans Fußende des Bettes, umfasst meine Knöchel und zieht mich daran näher zu sich.

„Komm her“, raunt er und ich stöhne auf, weil diese Art, von ihm behandelt zu werden, diese Gratwanderung zwischen Zärtlichkeit und Ruppigkeit mich absolut anmacht.

Er zieht mich so weit zu sich, dass mein Arsch an der Bettkante zu liegen kommt, und meine Füße den dicken, flauschigen Teppich berühren.

Ich setze mich auf und mustere Nick neugierig und fragend.

„Warte ab, Sugar. Du wirst es nicht bereuen.“

Klingt wie ein Versprechen, und ich weiß, dass er es halten wird.

In Seelenruhe legt er mir die Manschetten um Hand- und Fußgelenke, dann zieht er mich in den Stand und an seine Brust.

Die massiven Karabiner, die an den D-Ringen der Manschetten hängen, stellen ein unvertrautes Gewicht dar. Zu selten machen wir das hier, viel zu selten!

„Hmmm“, brummt er in mein Haar. „Ich mag es, wenn du dich mir auslieferst.“

Ich kann nicht antworten, zu geil macht mich das alles, zu atemlos und zu hungrig.

Nick dreht mich um, schiebt mich wieder in Richtung Bett. „Knie dich hin!“

Ich folge seiner Aufforderung sofort und warte ungeduldig ab.

Kaum knie ich richtig, schiebt er meine Fußgelenke weiter auseinander und befestigt die Spreizstange dazwischen, dann murmelt er: „Leg den Kopf ab, Arme zu mir.“

Ich lasse meine Hände an meinen Seiten entlang gleiten, bis er sie nacheinander umfasst und die Karabiner mit den D-Ringen der Fußmanschetten verbindet.

Gut, dass ich nicht so weit auf das Bett gekrabbelt bin – durch die Stange kann er nicht hinter mir knien, sondern muss stehen, wenn er mich erreichen will.

Mein Arsch streckt sich durch diese Haltung weit nach oben, lädt ihn ganz sicher dazu ein, mich wieder zu ficken. Kein Wackeln nötig.

Ich schreie auf, als sich Nicks Hand um meine Hoden schließt.

Ein zufriedenes Brummen quittiert meine Reaktion.

Seine Finger gleiten über meine Haut, krallen sich in meine Seiten und dirigieren mich.

Ohne Vorwarnung stößt er in mich, stippt seine Eichel mehrfach ein und zieht sie wieder heraus.

„Verdammt!“, fluche ich hemmungslos, weil die anstrengende Haltung, meine Geilheit und Nicks Treiben mich an den Rand des Wahnsinns bringen.

„Die Scheißstange stört“, murrt er, und löst sich von mir, um sie zu entfernen.

Kaum ist sie weg, zieht er mich noch näher zum Bettrand und rammt sich tief und gnadenlos in mich.

Der aufbrandende Schmerz vergeht in einer Welle von Lust, ich stöhne laut, schnappe nach Luft und drehe den Kopf, soweit ich kann.

Ich versuche, einen Blick auf Nicks Gesicht zu erhaschen, was nicht so einfach ist.

Klar will ich gern sehen, wie es ihm gefällt, mich so vor sich zu haben.

Ich meine, gemessen an der Härte seines Schwanzes ist er genauso geil wie ich, aber es zu sehen ist noch einmal etwas anderes.

Trotzdem versuche ich nicht, mich anders zu positionieren.

Ich mag es, ihm so ausgeliefert zu sein, weil ich weiß, dass ich ihm vertrauen kann.

Niemals würde er das hier ausnutzen, um mir ernsthaften Schaden zuzufügen. Dazu respektiert er mich zu sehr.

Es dauert nicht lange, dann verfällt er in einen gemäßigten Rhythmus, der mich stetig weiter bergan treibt.

Sein Keuchen vermischt sich mit meinem, nichts anderes nehme ich mehr wahr, ich habe nur noch Ohren für uns, für die Geräusche, die aus unserer Gier geboren sind.

„Ja! Ja!“, flehe ich abgehackt, längere Worte zu bilden, versuche ich erst gar nicht. Dazu fehlen mir die Luft und der klare Verstand.

Alles, was ich will, ist kommen, heiß und heftig abspritzen und mich zuckend um Nicks Riesenschwanz zusammenziehen.

Nick verändert den Rhythmus immer wieder, treibt sich in wahnsinnig kurzen, überreizenden Stößen in mich, zieht sich dann wieder fast ganz aus mir heraus, nur um einen langen, harten Stoß in seinen Takt zu mischen.

Immer stärker rauscht die Gier durch meinen Leib. Das hier soll nicht enden, niemals, oh doch, ich will kommen!

Alles, was von mir bleibt, ist ein winselnder, endlos geiler, vollkommen überreizter Männerkörper, der in Widersprüchen denkt.

Kommen, noch genießen. Anfeuern, um Gnade flehen. Zittern, erstarren.

Nicks Hände halten mich aufrecht, als er sich mit drei oder vier langen, tiefen Stößen für seinen Schuss in mich drängt.

Ich spüre das Pulsieren seines Schwanzes, als er abspritzt, und schließe mich zuckend um ihn, als wollte ich auch das letzte bisschen seines Saftes in mir haben.

„Fuck!“, stöhnt er und hält mich fest, hört aber auf, sich zu bewegen.

Er weiß genau, ich bin nicht weniger heftig gekommen als er.

Minuten, so scheint es mir, verharren wir in dieser Position, versuchen, aus dem Nebel der Geilheit wieder zu landen.

Schließlich zieht er sich zurück und öffnet die Karabiner, nicht aber die Manschetten.

Bevor ich es begreife, ist er neben mir, zieht mich weiter nach oben und legt sich zu mir.

Rasselnder Atem, verhangener Blick, ich sehe ihn keuchend an und versuche, wieder richtig zu mir zu kommen.

Keiner spricht, wir liegen einfach da und sehen uns an, während Nick mich an seine Brust zieht, als wäre ich ein knochenloses Stofftier.

© Nathan Jaeger

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Published on November 05, 2021 17:21

[Leseprobe] Linked - Genoptimierter Unfall

 Leseprobe

Ich muss mich beeilen, es wird bereits dunkel. Wenn man im Draußen lebt, sollte man sich nach Einbruch der Nacht nicht mehr im Freien aufhalten.

Mein Weg führt mich durch Gassen und über breite Straßen. Alles liegt tief verschneit da, macht aus der Skyline von Häusern in unterschiedlichen Graden des Verfalls, spärlicher Bodenvegetation und Baumgerippen eine bizarre Welt, in der alles Bewegliche – zum Beispiel ein einzelner Passant wie ich – auch auf Entfernung leicht gesehen werden kann.

Ich muss noch ein langgestrecktes Feld passieren, welches zu dem Hof gehört, auf dem ich bis vorhin gearbeitet habe, dann erreiche ich die dichtgedrängten Gebäude der Stadt.

Die Installation der Solaranlage auf dem Scheunendach von Markwart, einem der zahlreichen Bauern der Umgebung, hat deutlich länger gedauert, als ich eingeplant hatte. Nun ja, eigentlich Unsinn, denn meine Verzögerung beruht einzig auf der Tatsache, dass ich mich von seiner Frau Eleanor noch zum Abendessen habe überreden lassen.

Mein e echte Schwachstelle – für eine gut bereitete Mahlzeit nehme ich beinahe jedes Risiko in Kauf.

Meine Schritte beschleunigen sich ohne mein Zutun, es wird wirklich Zeit, dass ich in den Winkeln und Nischen der Häuser abtauche.

Dunkel, beinahe bedrohlich, ragen die Ausläufer der Stadt vor mir auf. Dennoch mag ich sie, die vier- bis fünfstöckigen Mehrfamilienhäuser, die, zum Großteil unbewohnt und sich selbst überlassen, jeder Witterung trotzen.

Manche haben nur noch löchrige Dächer, aus einer Zeit, in der man Dachpfannen als Abdeckung benutzte.

Instand gesetzt wird nur, was noch genutzt wird. Die meisten bevorzugen es, im Stadtkern zu leben.

Bauern wie Markwart sind für alle Bewohner des Niemandslandes überlebensnotwendig. Sie produzieren Fleisch, Getreide und Milch, wodurch es möglich ist, sich hier draußen ausgewogen zu ernähren.

Markwart, Eleanor und ihre drei Söhne arbeiten, unterstützt von einigen Helfern aus der Stadt, das ganze Jahr hindurch für den Erhalt des empfindlichen Gleichgewichts. 

In einer stark ausgedünnten Zivilisation, die sich grob in zwei Bereiche aufgliedert: Produktive und Nachtbanden.

Zu Ersteren gehöre auch ich. Ich repariere Technik jeglicher Art und installiere und warte Solaranlagen.

Die Nachtbanden verlassen gerade ihre Häuser in den Randbezirken der Stadt. Sie haben ihren Handel mit den Produktiven, die den Tag im Draußen beherrschen, erledigt, danach ausgeschlafen und werden nun ihrer Aufgabe nachgehen.

Da ich mich noch am Stadtrand aufhalte, schwebe ich in akuter Gefahr, einer dieser Banden in die Hände zu fallen.

Wieder.

Nein, nicht darüber nachdenken!

Ich setze weiter einen Schritt vor den anderen. Meine Finger um die Gurte des Rucksacks gelegt, marschiere ich die Straße entlang.

„Befehl: Musik, Klassik, Three Days Grace, Album vier“, sage ich leise und der Minicomp, der im gesamten linken Unterarm implantiert und von dem nur ein flaches Display mit einer Datenbuchse am Handgelenk sichtbar ist, beginnt mit dem Abspielen der Musik, die in den Implantaten im äußeren Gehörgang ankommt. „Lautstärke zehn.“ 

Sofort reagiert der Minicomp  und ich gehe mit rhythmisch beschwingten Schritten weiter. Vielleicht kann ich so die immer deutlicher aufsteigende Panik besser unterdrücken.

Musik hilft mir bei vielem. Besonders, seitdem ich vor neun Monaten hier gelandet bin.

Nun ja, gelandet … abgestürzt sind wir. Mein Pilot und Personenschützer Peer und ich. Der Langstreckenhelikopter, der mich zum Beginn der ersten Semesterferien in meine Heimatsphäre und zu meinen Eltern bringen sollte, ist einfach vom Himmel gefallen. In tausend Teile zerschellt und, soweit möglich, ausgebrannt.

Keine Zeit zum Nachdenken. Ich höre über die Musik hinweg das lautstark geführte Gespräch einer Nachtbande.

Es sind Sekundenbruchteile, die ich benötige, um in den etwa einen Meter breiten Zwischenraum zweier Häuser zu schlüpfen und an den Wänden abgestützt nach oben zu klettern. Nur weg vom Boden. Das ist immer das Erste, was ich mache.

Eine Überlebensstrategie, die ich mir hier angewöhnen musste. Was das angeht, bin ich sehr froh, in der Edukativsphäre meine sportlichen Aktivitäten auf Parcours ausgerichtet zu haben.

Ich gehe nur im Dunkeln über den normalen Boden . Sobald es das Wetter und die Sichtverhältnisse zulassen, bewege ich mich kletternd, springend und hangelnd möglichst weit oberhalb des normalen Niveaus.

Von dieser Position aus kann ich sehen, wer sich am Boden  bewegt, ohne sofort in Gefahr zu geraten oder selbst gesehen zu werden.

Vier Meter trennen die fest ins Mauerwerk getretenen Profilsohlen meiner Synfibrestiefel von der dichten Schneedecke.

Eine Nachtbande, bestehend aus vier Leuten, geht an der Öffnung vorbei. Ich beobachte sie und atme erleichtert durch, dass sie mich nicht bemerkt haben.

Im Grunde verrückt, wieso hätten sie in die Gasse und dann auch noch nach oben blicken sollen?

Irrational, manche Gedanken und Ängste. Davor schützt anscheinend nichts und niemand.

Vielleicht auch aufgrund dieser Erleichterung erschrecke ich nur Sekunden später heftig.

Unter mir, in der schmalen Gasse , geht ein einzelner Mann entlang. Er kommt vom hinteren Teil des Weges auf mich zu und wirkt mit seiner kerzengeraden Haltung und den forschen Schritten mindestens leichtsinnig, eher arrogant.

Ein Einzelner hat hier draußen in der Dunkelheit nicht die besten Überlebenschancen. Auch nicht, wenn man  groß gewachsen und muskulös ist.

Allein der schattenhafte Umriss des Fremden erweckt meinen Neid.

So gut gebaut wäre ich auch gern!

Die Welt ist ungerecht, vielleicht war sie das schon immer …

Aber wenn ich bedenke, dass ich in einem Genlabor designt wurde, ist es geradezu fatal, dass der Techniker ausgerechnet das Wachstumsgen vergessen zu haben scheint. Männer wie Frauen sind heute, im Jahre 2219, mindestens einsachtzig groß. Spätestens mit 16 Jahren erreicht jeder, absolut jeder, der in den Sphären geboren wurde, dieses Maß.

Ich dagegen bin der brillante Fehlschlag des Labors. Ganze 160 Zentimeter trennen meine Fußsohlen von meinem Scheitel. Das ist vernichtend wenig und stellt mich auf eine Wachstumsstufe mit Zwölfjährigen!

Müßig, zu erwähnen, dass ich bereits 19 Jahre alt bin, und somit weit unter jeglichem Standard liege …

Ich muss damit leben, aber das bedeutet leider nicht, dass ich besser ausgestatteten Menschen gegenüber nicht neidisch oder eifersüchtig werde.

Im Grunde ist es so, dass ich auf den ersten Blick eher wie ein Kind denn wie ein Erwachsener wirke. Ich bin klein, leicht, schmal.

Das verschafft mir durchaus Vorteile, aber gerade jetzt, an einem Winterabend, ist es ein gewaltiger Nachteil, weil man mich für leichte Beute hält.

Der Typ da unten ist eine beeindruckende Erscheinung. Mindestens einsneunzig groß, V-förmiger Oberkörper, endlose Beine, einfach perfekt.

Jede seiner Bewegungen hebt sich gegen den helleren  Schnee ab. Ich vergesse sogar, den Mund zu schließen, während ich seine Geschmeidigkeit in mich aufsauge.

Er trägt sein helles Haar zu einem geflochtenen Zopf gebunden  und ein langer, vermutlich pechschwarzer Mantel, der bis zur Hüfte eng anliegt und danach weit fällt, weht bei jedem seiner langen Schritte.

Was für ein Glück, dass er nicht bereits Augenblicke vorher durch diese Gasse gekommen ist, sonst hätte er mich bei meiner Flucht nach oben beobachtet.

Mir vergeht die Lust, ihn wahlweise anzuschmachten oder aus lauter Neid zur Hölle zu wünschen, als er direkt unter mir stehenbleibt und übergangslos den Blick hebt.

Er hat mich bemerkt!

Chimärendreck, das darf doch jetzt nicht wahr sein!

Mein lautloser Fluch ändert nichts an der Tatsache, dass ich in sein Gesicht blicke und mich von dem, was ich erkennen kann, gefangen nehmen lasse.

Er sieht wahnsinnig gut aus! Sollte ich die Straßenlaterne verfluchen, die seine ebenmäßigen, bartlosen Züge beleuchtet?

Egal, ich habe keine Zeit nachzudenken, während meine Füße sich von den Wänden lösen und ich mit gestreckten Beinen die knappen zwei Meter überbrücke, um ihm meine Profilsohlen ins Gesicht zu treten.

Eine andere Chance habe ich nicht. Weiter hoch  ist keine Option. Die Mauern enden nur einen halben Meter über mir und ein vereistes, schneebedecktes Dach zu erklettern, ist reiner Selbstmord. 

Ich wappne mich für den Aufprall und kann den erschrockenen Schrei nicht unterdrücken, als etwas Silbernes meinen rechten Oberschenkel trifft und sich mit brennendem Schmerz hineinfrisst.

Meine Instinkte behalten das Ruder in der Hand. Ich kugele mich zusammen – es wird ein harter Aufprall.

Abrollen, wieder auf die Beine kommen und losrennen.

Der Schmerz ist widerlich, aber ich habe keine Zeit, mir die Verletzung anzusehen, muss möglichst schnell möglichst viele Meter zwischen den Fremden und mich bringen, wenn ich diese Nacht überleben will.

Das klamme, feuchte Gefühl, das meine Bewegungen und die Hose hinterlassen, zeigt mir anschaulich, dass ich stark blute. Das Nass kühlt wahnsinnig schnell aus und der Schmerz betäubt sich rasch durch die eindringende Kälte.

Ich habe keine Zeit, wenn ich überleben will! Kopflos haste ich weiter. Anhalten darf ich nicht. Jede Minute Verzögerung trennt mich möglicherweise zu lange von einem sicheren Unterschlupf und Ruhe, um mir anzusehen, was dieser Wahnsinnige mit meinem Bein angestellt hat.

Bis zu meiner Wohnung werde ich es nicht schaffen, aber vielleicht habe ich noch genug Energie, um humpelnd und strauchelnd einen meiner Notunterschlupfe zu erreichen.

Ich werde Licht brauchen, um die Wunde zu verarzten.

Nur zu gern gebe ich mich der Hoffnung hin, dass der Kerl mit dem Katana mich nicht verfolgt. Immerhin müsste er mich sonst längst erwischt haben.

Meine Finger krampfen sich über der blutenden Öffnung zusammen. Ich kann mir bislang nicht einmal ansehen, wie tief sie ist.

Ganz sicher, die Waffe war ein Katana. Ein fürchterlich scharfes, wie ich angesichts des glatten Schnittes in meiner Hose sagen muss.

Ich bücke mich und nehme eine Handvoll Schnee auf, reibe damit über den Schnitt in meinem Bein und bin in diesem Moment sehr froh, dass ich vor lauter Taubheit nichts anderes als das dumpfe Pochen und ein kurzes Brennen verspüre.

Der Schnee wird dunkel, ich nehme eine weitere Handvoll und wiederhole das Spiel, dann wische ich meinen schwarzen Synfibrehandschuh an der nächsten Wand ab und trete aus der schmalen Gasse, durch die ich geschlichen bin, auf den Bürgersteig einer Hauptstraße.

Hauptstraße ist nett ausgedrückt … Sehr breit ist die freie Fläche, die vor mir liegt, aber als Weg für Fahrzeuge wird die marode Oberfläche  schon seit langem nicht mehr genutzt.

Es gibt kaum noch Mobile, man geht innerstädtisch zu Fuß.

Aber wo die Flanierwege, Alleen und Gehsteige in den Sphären glatte, gut gangbare Oberflächen  bieten, bewegt man sich hier mehr oder minder von Schlagloch zu Schlagloch.

Tja, das Leben im Draußen ist nicht immer leicht, besonders das Überleben kann dem einen oder anderen sogar extreme Schwierigkeiten bereiten.

Egal, ich lebe noch und ich gedenke, zu überleben.

Ob ich das schaffe, liegt allein bei mir.

Gesetze oder Rechte gibt es hier nicht. Natürlich auch keine Exekutive, die diese wahren könnte.

Die Menschen, die innerhalb der Sphären für ‚Gerechtigkeit‘ sorgen, würden sich wohl auch nicht hertrauen.

Ich überquere die Straße  und versuche, nicht zu humpeln. Wenn mich jemand beobachtet, stehe ich gleich wieder ganz oben auf der Speisekarte, denn ein humpelnder Schatten ist ein leicht zu besiegender Schatten.

Ein toter Schatten, mit ein wenig Pech.

Aber Pech hatte ich heute wohl schon genug!

Die Straßen  sind menschenleer. Nach Einbruch der Nacht ist eben niemand so geistesgestört wie ich …

Ich tauche schräg gegenüber zwischen zwei Gebäuden ab und verschwinde in der nächsten vollkommen dunkel daliegenden Gasse. Noch zwei Straßen , dann bin ich an meinem Notunterschlupf angekommen und kann endlich mein dämliches Bein versorgen.

Geschafft!

Das Versteck liegt in einer früheren Geschäftsstraße. Die gesamte Erdgeschossfront wird von zahlreichen, nun dunkel und verbarrikadiert daliegenden Schaufenstern geprägt.

Neben einem verlassenen Café, wie es sie in der Prä-Sphären-Zeit reichlich gegeben zu haben scheint, führt ein Weg zu den Hinterhöfen der Geschäfte.

Mein Ziel ist das Schuhgeschäft, in dessen Keller es neben dem ehemaligen Lager auch einen Heizungsraum gibt.

Ich steige die Stufen hinab und schleppe mich in den Raum am Ende des Ganges. Schwer falle ich mit meinen steifgefrorenen Gliedern auf die Matratze, die ich vor ein paar Wochen hierher gebracht habe, und schalte die Taschenlampe ein, um anschließend das kleine Öllicht zu entzünden. Sobald ich mehr Ausrüstung hier hinterlegt habe, werde ich die alte Lampe gegen eine mit Solarakku austauschen. Aber das mache ich grundsätzlich erst, wenn ich ein brauchbares Schloss an der Tür installiert habe.

Mehrere solcher strategisch recht günstig verteilter Unterschlupfe habe ich. Dieser ist noch nicht so alt, aber immerhin habe ich Licht und die Matratze. In einer Ecke steht ein Kanister mit Trinkwasser, also kann ich ein paar Tage überleben, sollte ich dazu gezwungen sein, zu bleiben.

Ich zische genervt und auch ein wenig schockiert, als ich die glatten Schnittränder meiner Hose auseinanderziehe.

Handschuhe mit den Zähnen abstreifen, Rucksack loswerden, Medikit auspacken, Hose ausziehen …

Die Winterjacke vielleicht auch … aber dann wird’s zu kalt!

Hier unten steht zwar der große Kessel einer alten Gasheizung, aber da sie nicht mehr funktioniert, verbreitet sie keine Wärme.

Egal, raus aus den Klamotten, das Bein muss versorgt werden!

Mit zusammengebissenen Zähnen kämpfe ich mich aus Stiefeln, Hose und Jacke, werfe alles auf einen Haufen vor der Matratze und bin einmal mehr erschrocken über die Tiefe des Schnittes in meinem Bein.

Diagonal zieht er sich von der Mitte des Knies in Richtung Hüftknochen und zeigt mir dabei viel zu viele Lagen meines Gewebes. Muskeln, diverse Hautschichten, wenigstens kein Knochen!

Ich krame im Medikit und finde das Fläschchen mit Wundkleber. Die Wunde kann ich kleben, wenn ich zwei Klebenähte anlege. Eine innen, auf halber Strecke der Schnitttiefe, eine außen auf der Haut. In den Sphären gibt es deutlich bessere Methoden für die Versorgung derartiger Verletzungen, aber ich besitze nichts davon. Der  Medikit des Helikopters ist alles, was ich habe. Kleber ist besser als gar nichts und ich muss diese verfluchte Blutung stoppen.

Ein schmerzerfülltes Seufzen entkommt meinen Lippen, egal wie fest ich sie auch aufeinandergepresst halten will.

Durch meine Ausziehaktion blutet die Wunde zu stark nach, deshalb organisiere ich mir einen hoffentlich halbwegs sauberen Lappen aus meinem Rucksack und Wasser aus dem Kanister, das glücklicherweise nicht vollkommen eingefroren ist. Saubermachen, danach kleben und in meinen Schlafsack kriechen.

Wenn dieses Zittern nicht nachlässt, werde ich meinen kostbaren Vorrat an Entzündungshemmern zum Einsatz bringen müssen. Aber das will ich möglichst vermeiden.

Schmerzen kann ich aushalten, Fieber jedoch wäre im Niemandsland ziemlich tödlich für mich.

Ich rolle mich zusammen und versuche, den Schmerz zu verdrängen. Natürlich spüre ich ihn – mit dem kribbelnden Stechen von tausend Nadeln – als die Taubheit mich immer mehr verlässt. Meine Zehen finden auch, dass sie sich ein wenig Gehör verschaffen sollten, und irgendwie ist alles an mir klamm und kalt. Der Schlafsack wird mich retten, wenigstens für den Rest dieser Nacht. Morgen muss ich versuchen, von hier aus in meine Wohnung zu gelangen. Irgendwie.

Auch wenn ich befürchte, das kaum zu schaffen, muss ich es versuchen. In dieser Kälte überlebe ich auch die heutige Nacht nur mit viel Glück …

Mit einem vermutlich ziemlich mitleiderregenden Seufzen drehe ich mich zur Wand und versuche, ruhig zu atmen. Meine bibbernde Stimme befiehlt dem Minicomp, mir Musik zu spielen, bei der ich wegdämmern kann.

Schlafen, ich muss schlafen.

~*~

Ich höre Musik und liege auf meinem Bett. Es war ein langer Tag. In zehn Minuten ist Schlafenszeit und Sébastièn hockt noch an seinem Schreibtisch, um die neuesten Daten seines Genetikprojektes von seinem Minicomp in den Zentralcomputer der Edukativsphäre zu übertragen.

Seufzend drehe ich mich auf die Seite und beobachte ihn dabei. Er ist nicht nur mein bester Freund, ich bin auch ziemlich verliebt in ihn.

Trifft sich ganz gut, denn wir sind beide androphil und er ist genauso verliebt in mich …

Lächelnd richte ich mich ein wenig auf und befehle meinem Minicomp, die Musik leiser zu machen.

„Brauchst du noch lange?“, will ich wissen.

Er wendet den Kopf und lächelt zurück.

Immer wieder muss ich feststellen, dass seine hellblauen Augen und die farblich exakt darauf abgestimmten hellblauen Haare einfach perfekt zu ihm passen.

Sébastièn ist sehr gutaussehend und vermutlich ist er der einzige Mensch in allen Sphären, auf dessen Statur und Aussehen ich nicht neidisch bin.

Ihn kann ich anblicken, ohne an die Grausamkeit meines eigenen genetischen Programms zu denken. Er gibt mir das Gefühl, genau richtig zu sein …

„Nicht mehr lange.“ Er sieht mich an und runzelt ganz leicht die Stirn. „Was hast du?“

Die Frage verwundert mich nicht. Sébastièn weiß immer, wenn etwas mit mir nicht stimmt oder ich in meinen Gedanken gefangen bin.

„Ich hab nur drüber nachgedacht, wie froh ich bin, dass es dich gibt.“

„Geht mir genauso“, erwidert er. Nur wenig später, nach dem hellen Piepen seines Minicomps löst er die Kabelverbindung und kommt auf mich zu.

Wir werden gemeinsam einschlafen und gemeinsam aufwachen. Das ist schon seit Jahren so.

Wir sind jetzt 16 und haben seit zwei Jahren unsere eigene Wohneinheit. Seitdem schlafen wir auch miteinander, aber es geht in unserer Beziehung um viel mehr als nur Sex.

Wir sind … irgendwie füreinander bestimmt, denke ich.

Gibt es so etwas?

Immerhin sind wir die Produkte dessen, was unsere Eltern auf einen Wunschzettel geschrieben haben …

Genetisch designte, perfekte Kinder, deren Lebensweg bereits vor der Geburt in einem Reagenzglas festgelegt wurde.

Sébastièn ist Wissenschaftler. Er weiß seit langem, dass er eines Tages, nach dem Studium der Genetik, in einem Forschungslabor arbeiten wird.

Seine genetische Programmierung sorgt dafür, dass er den nötigen Intellekt und vor allem auch den Wunsch mitbringt, in genau diesem Bereich des Sphärenlebens seinen Platz einzunehmen.

Er wird glücklich sein und jeden Tag gern zur Arbeit gehen.

Ich schmiege mich in seine starken Arme und vergesse für ein paar Stunden, dass mein eigenes genetisches Programm vollkommen schiefgegangen ist.

~*~

Chimärendreck, ist mir kalt!

Mein Kiefer schmerzt. Mit zitternden Fingern hebe ich eine Hand aus dem Schlafsack an mein Gesicht und begreife, dass ich wild mit den Zähnen klappere und genau das mich auch geweckt hat.

Jeder einzelne Zahn scheint sich gelockert zu haben, zumindest fühlt es sich so an.

Mit dem Aufwachen vergeht auch der Traum, nein, eigentlich war es eine Erinnerung an mein altes Leben in der Edukativsphäre.

Ich war bei meinem Freund Sébastièn, wenn auch nur gedanklich und für ein paar Stunden, aber ich war dort und ich war … glücklich.

Solche Überlegungen muss ich immer wieder bewusst aus meinem Kopf verdrängen. Es ist vorbei, und zwar unwiederbringlich!

Ich hangele nach der Taschenlampe und ignoriere die Gänsehaut auf meinem Arm. Mühsam kann ich meinen Daumen dazu bewegen, sich über das eiskalte Gerät zu bewegen, um das Licht zu aktivieren.

So grell!

Ich schließe mit einem Keuchen die Augen und ziehe den Arm zurück an den Schlafsack. Irgendwie muss ich den Verschlussmechanismus öffnen, also den kleinen Hebel zu fassen bekommen, der das System in Gang setzt.

Ich bin immer noch sehr froh, dass ich dieses Ding im Notfallkit des Helikopters gefunden habe …

Ein scharfes Einatmen begleitet den Moment, in welchem der Verschluss den Schlafsack auf kompletter Länge öffnet und die kalte Luft der Umgebung mich umfängt.

Trotzdem fällt mein Blick zuerst auf mein Bein. Prüfend streiche ich darüber und nehme wohlwollend zur Kenntnis, dass der Kleber gehalten und die Wunde nicht mehr nachgeblutet hat. Mich aufzurichten fällt mir zwar schwer, aber ich muss möglichst schnell in meine Klamotten kommen und von hier verschwinden.

Ich bin unterkühlt, mein Körper braucht Ruhe, um das verlorene Blut nachzubilden und vor allen Dingen muss ich etwas essen. In meiner beheizten und elektrisch voll versorgten Wohnung werde ich alles haben, was ich benötige. Auch fließendes Wasser.

Wie ich in die Hose reinkommen soll, weiß ich noch nicht, deshalb ziehe ich hastig mein Shirt, das Longsleeve und den dicken Hoodie an, danach endlich greife ich nach den zerschnittenen Hosen und schiebe mit einiger Kraftanstrengung meine Füße in die kalten, steifen Röhren. Das rechte Hosenbein ist hart von meinem getrockneten Blut.

Das verletzte Bein anzuwinkeln fällt mir schwer, aber ich beiße die Zähne zusammen – was leider nicht den Schmerz in meinem Bein mindert, sondern den in meinem Klapperkiefer neu anfacht. Wunderbar!

Na gut, jetzt aufstehen, Hose schließen, Stiefel an, Jacke an und nichts wie los. Ich werde bestimmt eine halbe Stunde brauchen, zumindest, wenn ich mit einberechne, wie sehr mir die Verletzung das Gehen erschweren wird.

Egal, ich schaffe das. Ich schaffe seit so vielen Wochen alles. Auch wenn ich zugeben muss, dass ich so etwas niemals erwartet hätte.

Nach dem Schließen der Jacke und dem Schultern des Rucksacks mache ich den ersten Probeschritt auf die Tür zu und stocke in der Bewegung, um die Taschenlampe von der umgedrehten Holzkiste zu nehmen, die mir hier als eine Art Behelfstisch dient.

Prüfend greife in an den Gürtel, ja, Medikit und Zahlungsmittel habe ich. Wenn ich jetzt etwas vergesse, bin ich im Arsch. Noch einmal herumleuchten.

Ich drehe mich zur Tür und greife nach der Klinke, drücke sie hinab und spüre plötzlich eine widerliche, von Angst ausgelöste Gänsehaut auf dem gesamten Körper.

Da, auf der Holzkiste – von mir bisher geflissentlich ignoriert, weil einfach nicht erwartet – habe ich im Schein der Lampe etwas gesehen, das ich ganz sicher nicht dort abgelegt habe!

Noch einmal leuchte ich hin und blinzle. Mit schweren Schritten gehe ich zurück und hebe es auf.

Es ist schwarz, etwa faustgroß und würfelförmig. Aber wirklich ins Auge gefallen ist mir das Emblem, welches in Richtung Tür gedreht war. Das Wappen von Sphäre 3 – ein gleichseitiges Dreieck mit einer perfekt symmetrischen Hand, in deren Handfläche ein geschlossenes Auge ruht.

Ich habe es seit neun Monaten nicht mehr gesehen!

Nein, stimmt nicht. Ich selbst besitze mehrere Gegenstände mit dem Zeichen von Sphäre 3, aber im Niemandsland gibt es nichts von dort.

Der Helikopter war ausgebrannt und leer, nachdem ich wieder zu mir gekommen bin. Nur die Dinge, die ich bei mir hatte, die Dinge, die mit mir hinausgeschleudert wurden, tragen das Wappen!

und dieses Kästchen hier.

Ich drehe es in den Fingern, höre ein leises Klappern und schiebe es, ohne mich noch länger damit aufzuhalten, in meine Jackentasche, bevor ich wieder zur Tür humple und endlich hinausgehe.

~*~

Ein heißes Wannenbad wäre jetzt wohl genau das Richtige, aber da ich dabei schlecht meinen Oberschenkel aus dem Wasser hängen lassen kann, begnüge ich mich damit, nur schnell heiß zu duschen und mich in mein Bett zu werfen, nachdem ich meine Wohnung erreicht habe.

Sie ist groß, um nicht zu sagen, vollkommen an jeglichem Standard vorbei. Ich verstehe noch immer nicht, wieso sie nicht längst bewohnt war, als ich zum ersten Mal hierhergekommen bin.

Immerhin ist ein Loft mit Ausblick über die halbe Stadt und vor allem über die umliegenden Straßen doch geradezu perfekt. Ich vermute, ich verdanke meine Behausung der Tatsache, dass niemand in der Lage war, die vorhandene Technik wieder in Gang zu bringen und das gesamte Gebäude für sich nutzbar zu machen. Die anderen Wohnungen, es sind zwei unter meiner und eine darüber, stehen leer und besitzen nicht einmal mehr Türen.

Dabei ist die Solaranlage auf dem Dach wirklich die ideale Stromversorgung und beheizt ganz nebenbei den riesigen Raum und mein Wasser. Sie war außer Funktion, es fehlten Kabel und ein paar Sicherungen, doch dank meines fehlgeleiteten genetischen Programms liebe ich alles, was mit Solartechnik, Strom und altmodischen Gerätschaften zu tun hat, und habe alles nach und nach repariert.

Das geknackte Türschloss ist erneuert und verbessert. Es ist nun mit meinem Minicomp gekoppelt, über den ich die Haustür und die Eingangstür zum Loft per Fernsteuerung bedienen kann.

An Möbeln gab es nicht mehr viel, aber immerhin haben die Plünderer das fest installierte Bett unberührt hinterlassen.

In dem liege ich nun, zwischen altmodischen, dicken Bettdecken, wie es sie in keiner der Sphären mehr gibt. Die Decken waren Bezahlung für einen Auftrag am Anfang meiner Zeit im Niemandsland. Nach den ersten Wochen, die ich mehr oder minder auf der Straße verbracht habe und mir voller Inbrunst gewünscht habe, beim Absturz ebenfalls getötet worden zu sein, traf ich Matteo.

Ich muss lächeln beim Gedanken an ihn. Mein bester Freund im Draußen …

Das Kästchen aus meinem Unterschlupf fällt mir wieder ein, außerdem verlangt mein Magen endlich eine ordentliche Füllung, so dass ich nur zehn Minuten liegenbleibe, und mich danach auf den Weg in die Küche mache.

Auf halber Strecke hole ich den ominösen Gegenstand aus meiner Jackentasche und schlurfe fluchend zum Kühlschrank.

Natürlich funktioniert auch er einwandfrei.

Die sich dem Sonnenlauf zuwendende Solaranlage auf dem Flachdach, ein Stockwerk über mir, produziert sogar so viel Strom, dass ich ihn verkaufe.

Davon allein kann ich nicht leben, auch wenn hier draußen neben den bevorzugt als Zahlungsmittel dienenden Naturalien zusätzlich eine Art Währung im Umlauf ist.  Den Rest meines Lebensunterhalts verdiene ich damit, dass ich andere ungenutzte Solaranlagen wieder in Gang bringe und deren ‚Besitzer‘ dafür bezahlen müssen.

Ich verstehe nur bedingt, woran es liegt, dass sich außer mir kaum einer mit diesen Anlagen auszukennen scheint. Immerhin gab es in der Prä-Sphären-Zeit nur Wind-, Wasser- und Solarkraft neben den Atomkraftwerken. Letztere gingen für das Draußen vom Netz, als die Sphären versiegelt wurden. Gas- und Kohlekraftwerke gibt es seit langem nicht mehr. Sie verseuchten die Luft und vor allem schadeten sie der schwindenden Ozonschicht. Erneuerbare Energien sind also seit mehr als 150 Jahren die einzigen Quellen für Strom und Heizung, wenn man von Holzöfen und Kaminen absieht.

Die Menschen im Niemandsland wissen, wie schädlich die gemütlichen Holzfeuer sind, aber oft bleibt ihnen nichts anderes – bis ich alte Solaranlagen wieder in Betrieb nehme.

Ich habe wohl einfach Glück, dass ich im geschichtlichen Physikunterricht nicht geschlafen habe, als wir alte, erneuerbare Energien zum Thema hatten.

Ist ja auch noch gar nicht so wahnsinnig lange her …

Ich bin erst seit zwei Wochen 19. Normalerweise wäre  ich im Herbst mit dem dritten Semester angefangen, aber meine Schul- und Ausbildungszeit wurde durch den Absturz im Frühjahr schlagartig beendet.

Ich höre mein Seufzen und ärgere mich darüber.

Es bringt nichts, sich noch Gedanken zu machen oder gar zu versuchen, an der Situation, in der ich stecke, etwas zu ändern. Ich kann es nicht, so sieht es leider aus.

Ich bin mehr als vierhundert Kilometer von der nächstgelegenen Sphäre entfernt – das weiß ich, weil ich mir während des Helikopterfluges genau angesehen habe , wo wir uns befanden. Ich saß schließlich neben dem Piloten.

Technisches Versagen hat unseren Langstreckenflug vorzeitig beendet und mich hierher gebracht.

Bereits in den ersten zwei Wochen im Niemandsland habe ich mir nichts so inbrünstig gewünscht, wie ebenfalls verbrannt zu sein. Wie Peer, der Pilot.

Der Inhalt des Kühlschranks verrät mir in aller Bescheidenheit, dass ich in den nächsten Tagen, ob ich will oder nicht, dringend einkaufen muss.

Es gibt zwar einige Geschäfte in der Stadt, aber in meinem Stadtteil werden kaum Nahrungsmittel angeboten.

Unten an der Ecke verkauft eine Familie Bekleidung, in der Querstraße bietet eine Frau Weine an, die über Händler aus weiter entfernten Gebieten des Niemandslandes geliefert werden und schräg gegenüber meines Wohnhauses liegt eine Bäckerei.

All diese Läden schließen bei Sonnenuntergang und öffnen mit der Morgendämmerung. Der frühe Morgen ist die einzige Grauzone, in der Produktive und Nachtbanden zeitgleich unterwegs sein dürfen. Eine halbe Stunde lang verkaufen alle ihre Waren an jeden, danach gehört der Tag den Produktiven .

Das einzige Gesetz des Niemandslandes. Wer diese Zeiten nicht einhält, spielt mit seinem Leben.

Bis auf einen Supermarkt genau im Zentrum dieser Stadt, der rund um die Uhr an sieben Tagen in der Woche geöffnet hat, halten sich alle daran. Diese Ausnahme hat sich daraus ergeben, dass die Nachtbanden nicht im Zentrum unterwegs sind, wenn sie ihre Häuser verlassen.

Ich habe es gestern Abend gebrochen, habe leichtsinnig mein Leben riskiert und bin deutlich zu spät noch unterwegs gewesen.

Was ist heute für ein Tag?

Mein Blick huscht auf den Minicomp. „Befehl: Datum und Wochentag.“

Die angenehme Stimme verkündet in meinen Ohren: „Freitag, 16. Dezember 2219.“

Na wunderbar!

Wieder sehe ich in den Kühlschrank und beschließe, dass ich bis Montag hinkommen werde. So lange muss ich meinem Bein einfach Zeit geben.

Ich könnte auch morgen oder übermorgen losgehen, aber das traue ich mir einfach nicht zu. Immerhin muss ich meine Einkäufe in einem Rucksack und zu Fuß hierher bringen …

Nein, die Sachen, die ich noch hier habe, werden ausreichen. Müssen ausreichen.

Genervt mache ich mir eine Instant-Suppe und esse sie an der Theke, die die Küche optisch vom Rest des riesigen Raumes abtrennt.

Ich hasse es, zu kochen. Ein lästiges Übel, an das ich mich im Niemandsland erst einmal gewöhnen musste.

Unter den Kuppeln der Sphären ist es anders. In der Edukativsphäre, die ich seit meinem vierten Lebensjahr bewohnt habe, wurden alle Mahlzeiten in den Kantinen der Jahrgangszentren eingenommen. Zuhause in meiner Heimatsphäre, die ich nur in den ersten drei Lebensjahren und den Ferienzeiten besucht habe, hat sich meine Mutter stets um alles gekümmert, und ich musste mich nur an den gedeckten Tisch setzen.

Es war schön so, aber wie soll ich es sagen? Ich bin hier draußen verdammt schnell sehr erwachsen geworden – notgedrungen.

Mein Blick schweift gedankenverloren durch das Loft. Nur mein Badezimmer hat eigene Wände und eine Tür. Selbst mein Bett steht in einer halboffenen Nische, die nur durch eine zusammenschiebbare Wand nicht schon von der Eingangstür aus einsehbar ist.

Ich atme tief durch.

Der Würfel aus Sphäre 3 steht neben mir und ich sehe ihn stirnrunzelnd an, bevor ich den Suppenlöffel weglege und das mysteriöse Ding in die Hand nehme.

Ich hebe es vor die Augen. So dicht, dass das Symbol darauf verschwimmt. Danach drehe ich es und suche nach einem Sensor, den ich bislang wohl nur durch Zufall nicht schon unabsichtlich betätigt habe.

An einer Seite finde ich ihn und schiebe meinen Daumen kurz darüber.

Der Deckel springt auf und ich sehe, woher das leise Klappern kam.

In dem Kästchen liegt eine kleine Kunststoffschachtel, von der drei weitere in entsprechender Größe hineinpassen würden.

Auf dem Deckel der Schachtel, die ich heraushole, befindet sich erneut das Zeichen von Sphäre 3, diesmal aber von einem stilisierten DNA-Strang umrandet.

Ein genetisches Produkt also …

Ich öffne die Schachtel , nachdem ich das größere Kästchen beiseite gestellt habe.

Ein weißes Schaumstoffpolster füllt die Dose aus. Darin liegt, neben einem kleinen Glaskölbchen, welches einen Datenspeicher darstellt, noch eine Ampulle mit einer bräunlichen Flüssigkeit.

Ich habe weder einen derartigen Würfel noch seinen Inhalt jemals zuvor gesehen …

Mit einem hörbaren Ausatmen sinke ich gegen die Rückenlehne meines Barhockers, den ich aus einem alten Café geklaut habe.

Das Polster ist eingerissen, aber ich mag den leicht knarzenden, dunkelroten Lederbezug trotzdem zu gern, als dass ich ihn durch einen neuen ersetzen wollen würde. Tja, könnte ich auch gar nicht, immerhin bin ich kein Möbeldesigner oder so etwas.

Im Grunde bin ich noch gar nichts – werde es wohl auch nie werden.

Na gut, angefangen hatte ich mein Studium der Politikwissenschaften, aber was habe ich da in einem Semester schon gelernt? Nichts. Und hier draußen ändert sich das eben auch nicht mehr.

Wie auch? Im Niemandsland gibt es zwar Schulen, die das Grundwissen in Bezug auf Sprache, Schrift und einfache, alltagstaugliche Mathematik vermitteln, aber keine Universitäten.

Es existieren nur Menschen, die Handwerken oder Geschäften nachgehen, von und mit denen man leben kann. Philosophen oder Künstler sucht man vergebens.

Mein technisches Geschick hat mich gerettet, damals, vor diesen mir ewig lang erscheinenden Wochen. Neun Monate …

In Sphäre 3 werden jetzt die gemütlichsten Wochen des Jahres gefeiert. Künstlicher Schnee fällt vom Glashimmel, Tannenbäume mit bunten Lichterketten stehen an jeder Ecke … Das Dezemberfest ist in vollem Gange.

Ich schließe die Augen und denke an Sébastièn. Sollte ich nicht tun, das weiß ich nur zu gut. Nicht jetzt, nicht sonst wann.

Ich werde ihn nie wieder sehen.

Er hat genauso wenig nach mir gesucht wie meine Familie. Zumindest habe ich mich vom Ort des Absturzes nie so weit entfernt, dass ich einen Suchtrupp hätte übersehen können.

Ein Schnauben dringt aus meiner Kehle. Es klingt so trotzig, wie ich mich augenblicklich fühle.

Ich brauche ihn nicht! Ich brauche niemanden!

Seltsam, eigentlich hätte ich erwartet, dass ich mit der Zeit wenigstens den Sex mit Sébastièn vermissen würde, aber … Sex ist keine Option.

Nichts, das ich genießen könnte.

Nicht mehr.

Ich bin dankbar für meinen Trotz, dankbar für alles, was mich davon abhalten kann, an ihn oder meine Eltern zu denken. Ich habe sogar aufgehört, mich zu fragen, ob sie sich wohl ein zweites Kind angeschafft haben. Die Gendesigns sind heutzutage schließlich so perfekt, dass Frauen über 50 ohne Probleme gebären können …

Immerhin verdanke ich einem Menschen in einem hochsterilen Labor meine Augen- und Haarfarbe, die Tönung meiner Haut und genauso gut den Grips in meinem Kopf.

Noch ein Seufzen. Was nutzt mir mein überragender Intellekt, wenn ich dabei so klein bin, wie diese abartigen Gartendekorationen, die unsere Vorfahren sich in der Prä-Sphären-Zeit aufgestellt haben? Gartenzwerge haben sie die Dinger genannt. Ich erinnere mich gut daran, wie wir in der ersten Klasse darüber gelacht haben.

Ich trage zwar weder ein rotes Mützchen noch bin ich dicklich, aber allein meine vertikale Benachteiligung hat meine Umgebung schon immer dazu gereizt, mich aufs Korn nehmen zu wollen.

Eines haben jedoch bisher alle gelernt. Ich mag klein sein, aber das macht mich nicht harmlos.

In Wahrheit habe ich in der Edukativsphäre alles daran gesetzt, mich zu trainieren, ohne dabei auffällig kräftig zu werden.

Waffenloser Nahkampf und das Führen von Hieb- und Stichwaffen gehörten für mich ebenso zum Unterricht wie Naturwissenschaften und alle europäischen Sprachen. Letztere lernt allerdings jedes in den Sphären zur Welt gekommene Kind.

Ich kann mich also wehren!

Heute Nacht hat das nicht funktioniert …

Der Typ, dessen Namen ich nicht einmal weiß – oder auch nur wissen will – ist mir zuvor nie begegnet.

An seinen vollkommenen Körperbau erinnere ich mich nur zu gut. Niemals hätte ich vermutet, dass es ein Mann seiner Statur schaffen kann, sein Katana in einer derart engen Gasse so schnell und wendig zu benutzen.

Leise Anerkennung schleicht sich in meine Gedanken, weshalb ich hastig den Kopf schüttle.

Ich mag ihn nicht!

Er macht allein durch sein Auftreten schon keinen Hehl daraus, dass er sich den übrigen Bewohnern des Niemandslandes haushoch überlegen fühlt.

Nun ja, was sein Aussehen angeht, mag das sogar stimmen.

Schluss damit!

Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten, dass er ebenso genetisch designt wurde wie ich. Nur dass sein Laborant etwas mehr Feingefühl in Sachen Körpergröße bewiesen hat.

Ist aber utopisch. Der Mistkerl ist ganz sicher hier draußen geboren. Brutal und mies genug ist er dafür. Nur ein Leben in der gesetzlosen Welt des Niemandslandes – und nichts anderes! – kann einen solchen Krieger hervorgebracht haben.

Ich glaube, sein Aussehen ist auch das, was ihn mich seit unserer ersten Begegnung inbrünstig hassen lässt.

Er sieht zu gut aus, zu perfekt. Nichts an ihm ist mit dem kleinsten Makel behaftet, soweit ich das beurteilen kann. Und genau das macht mich rasend vor Wut, wenn ich nur an ihn denke!

Als er mir letzte Nacht über den Weg gelaufen ist, hätte er mich gar nicht bemerken dürfen!

Mein Blick fällt auf meinen Oberschenkel, der nun von einer sauberen Hose bedeckt ist.

Ich habe ihn unterschätzt.

Passiert mir selten, immerhin rechne ich stets mit allem, seitdem ich weiß, was einem hier wiederfahren kann …

Nein, an meine ersten Wochen im Draußen will ich nun wirklich nicht denken!

Ich schüttle den Kopf erneut auf eine nachdrückliche Art und zwinge mich dazu, mich wieder auf meinen blöden Fehler von heute Nacht zu konzentrieren. Auf diesen miesen Scheißkerl, der einfach so aus dem Nichts seine Klinge gezogen hat.

Ich weiß nicht, wie er das geschafft hat, wieso er so schnell reagieren konnte. Na ja, wenigstens ist er mir offensichtlich nicht gefolgt, sonst hätte ich die Nacht wohl kaum überlebt …

Wer sich hier nachts auf die Straßen traut, ist selbstmordgefährdet oder verdammt gut darin, sich seiner Haut zu erwehren. Ich bin … vielleicht beides?

Spielt keine Rolle mehr.

Aber um ehrlich zu sein, habe ich mir zu viel aufgebaut, als dass ich es darauf anlegen könnte, mich einfach so umbringen zu lassen.

Mein Blick fällt wieder auf die kleine Ampulle und den Datenkristall.

Vielleicht sollte ich die Informationen in dem Ding ansehen, um herauszufinden, was genau das braune Zeugs ist?

Ich nehme den Glaszylinder aus der Schachtel und öffne, ohne großartig darüber nachzudenken, den Minicomp an meinem linken Unterarm. Ein kleines Fach fährt auf und ich bringe das Stäbchen in Position, bevor ich das Fach schließe und der Holoprojektor sich aktiviert.

Hm, kein Bild, zumindest nicht vom Sprecher des Textes, den ich zu hören bekomme. Statt eines Gesichts erscheint nur ein komplexes, sich um die eigene Achse drehendes Molekül in exzentrischen Farben.

„Enaform Duo – Geweberestaurierendes Mittel zur Regeneration von tiefen Fleischwunden. Testphase Gamma durchlaufen, bereit für den Handel seit 15. Mai 2219.“

Das behauptet die werbewirksam klingende, männliche Stimme und ich verstehe gleichzeitig, wieso ich noch nie etwas Vergleichbares gesehen habe. Das Zeug ist erst auf den Markt gekommen, als ich schon zwei Monate verschollen war. Ebenso wird mir klar, dass tatsächlich jemand aus Sphäre 3 in der Stadt sein muss.

Jemand, der mich während des Schlafens gefunden hat. Jemand, der mir dieses Mittel geben wollte, sich aber nicht dazu genötigt sah, zu bleiben, bis ich aufgewacht bin.

Jemand, der mich hätte töten können.

Ein harter Klumpen bildet sich in meinem Magen. Der Unterschlupf ist unbrauchbar.

Noch bin ich nicht sicher, ob ich erleichtert oder alarmiert sein soll. Es gibt hier niemanden, der aus meiner Heimatsphäre stammt!

Ich schiebe den Teller von mir und stehe auf, um zu meiner Bettnische zu humpeln. Die Schachtel nehme ich mit. Ich weiß, dass ich der Produktbeschreibung glauben kann, ich könnte sie mir auch als Gesamttext anzeigen lassen. Ja, das sollte ich tun. Allein schon, um herauszufinden, ob und wie ich das Medikament benutzen soll, wenn ich es denn letztlich will.

Im Bett liegend aktiviere ich also die Textanzeige des Datenkristalls und lese mir alles durch, was holographisch angezeigt wird.

Am Schluss treffe ich die Entscheidung, dass ich es ruhig versuchen kann. Ich muss die Ampulle aufbrechen und das Zeug schlucken. Angeblich werden dadurch ein paar ruhende Zellen in meinem Körper dazu animiert, sich zu teilen und den Schnitt in meinem Oberschenkel innerhalb kürzester Zeit zu heilen.

Ich meine, ich glaube ja durchaus, dass wir mittlerweile dazu in der Lage sind, so einiges zu leisten, was die Gentechnik angeht, aber das?

Trotzdem versuche ich es und breche das Glaskäppchen der Ampulle ab, bevor ich sie an meine Lippen setze. Ich rieche sofort, dass die braune Flüssigkeit eine Medizin sein muss. Genmedizin riecht nämlich überhaupt nicht. Ebenso wenig wie sie nach irgendetwas schmeckt.

Mir fallen die Augen zu, kaum dass ich geschluckt und die leere Ampulle beiseitegelegt habe. Ein starkes Schlafmittel ist schließlich auch drin …

© Nathan Jaeger


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Published on November 05, 2021 17:17

[Leseprobe] Gefängnisse der Vergangenheit 2 - Zorn

 Leseprobe

Eines Tages werde ich diesen verdammten Job an den Nagel hängen.

Ich halte meine geprellten Rippen, nachdem ich den Koffer in der Eingangshalle meines Hauses abgestellt habe, und gehe schnurstracks nach oben ins Bad, um den Whirlpool einzuschalten.

In einer halben Stunde kann ich meine geschundenen Knochen im heißen Wasser wieder geraderücken und hoffentlich entspannt schlafen.

Der Rückflug aus Indien hat mir trotz Businessclass keine Ruhe verschafft. Nicht eine Sekunde konnte ich schlafen – was möglicherweise auch an den superreichen Saublagen irgendeines indischen Großmagnaten gelegen haben könnte.

Narrenfreiheit geht mit Reichtum einher, so viel ist sicher …

Weiter zur Küche, den Kaffeeautomaten anschalten und meine Lieblingstasse darunter stellen.

Während die Bohnen frisch gemahlen werden, wandere ich zurück in den Flur, wo auf einem Tischchen die Post der vergangenen Wochen liegt.

Saskia, meine Haushälterin-Schrägstrich-Bodyguard, hat sie wie immer dort für mich gesammelt. Sie hat heute ebenso frei wie alle anderen Bediensteten.

So handhabe ich das immer, wenn ich nicht gerade schwer verletzt von einem Auftrag zurückkehre.

Auf dem Rückweg zur Kaffeemaschine blättere ich die Kuverts durch und entdecke zu meinem Erstaunen einen Brief von meiner Schwester Sisann.

Sie lebt – wie der Rest meiner Familie – in meinem Heimatdorf Sporken.

Normalerweise würde sie mir eine Nachricht im Messenger senden, wenn sie etwas mitzuteilen hat. Wieso also dieser Brief?

Ich nehme ein Messer als Brieföffner aus der Besteckschublade, schiebe sie mit einem Hüftschwung wieder zu und fummle mit Messer und Umschlag herum, um nachzusehen, was sie schreibt.

Hallo Jilas,

Da Du Dich bisher nicht gemeldet hast, muss ich Dich auf diesem Weg davon in Kenntnis setzen, dass gestern eine Einladung bei uns im Briefkasten gelegen hat.

Ich denke, Du willst sie in den Händen halten, damit Du es glauben kannst.

Liebe Grüße Sisann

Ich runzle die Stirn, sehe noch einmal in den Umschlag und finde die Klappkarte, von der sie schreibt.

Eine Hochzeitseinladung!

Raphael Waldeck und Kaniel Steffens.

Ich schwanke sekundenlang zwischen hysterischem Auflachen und großer Wut, während meine Knie wackelig werden.

Scheiße!

So ein Verhalten passt überhaupt nicht zu mir, aber was soll ich gegen meine Gefühle schon tun?

Ich ignoriere sie seit einer ganzen Weile, aber das ist ja nun vorbei.

Nun ja, es wirdvorbei sein …

Ich sehe erneut auf die Karte.

Schon nächste Woche!

Ein tiefes Durchatmen, ein Tippen auf meinen Ohrstecker, dann sage ich: „Rufe Sisann an.“

Mein Smartphone wählt die Nummer meiner jüngeren Schwester, während ich ins Bad gehe, um den Whirlpool abzuschalten.

„Hallo Bruderherz!“, begrüßt sie mich nach ein paar Sekunden.

„Hallo Kleine. Wie geht es dir?“

Sie kichert. „So ein Babybauch ist etwas umständlich, aber sonst geht es mir super!“

„Das freut mich. Und wie geht es den anderen?“

„Jilas, du rufst doch nicht wirklich an, um das zu fragen?“ Ihr wissender Unterton lässt mich kurz stocken, dann rette ich mich in ein Lachen.

„Darf ich mich nach meiner Rückkunft nicht danach erkundigen?“, frage ich scheinheilig dagegen.

„Du hast gerade meinen Brief geöffnet“, stellt sie fest und lacht nun ebenfalls.

„Ist wahr. Ich komme noch heute nach Sporken.“

„Denkst du, dass das eine gute Idee ist?“ Sie klingt zweifelnd.

„Allerdings! Ich muss das tun, Sisann!“

„Na, wenn du meinst …“

„Meine ich. Ich packe jetzt nur noch schnell eine neue Tasche, dann steige ich in den Wagen.“

„Bist du nicht gerade erst gelandet? Wo warst du? In Indien, oder?“

„Ja, war ich und ja, bin ich. Wieso fragst du?“

„Weil ich dich kenne, Bruderherz. Du bist vollkommen gerädert und würdest unter normalen Umständen mindestens einen Tag durchschlafen!“

Damit hat sie recht. Ich werfe noch einen wehmütigen Blick auf den Whirlpool und schließe die Badezimmertür von außen.

„Egal. Ich muss einfach!“

„Verstehe, monatelang verspürst du genau Null Komma Null Sehnsucht nach deiner Familie, und nun musst du total fertig in einen Wagen steigen und beinahe sechshundert Kilometer abreißen, weil heute ein gewisser Junggesellenabschied stattfindet?!“

Sie klingt ein wenig panisch, aber ich kann es nicht ändern.

„Ich liebe dich, aber manchmal ist deine Sorge um mich echt fehl am Platz, Sisann!“

„Ja, ja, schon gut. Sind die Hormone“, redet sie sich raus.

„Okay, Süße, wir sehen uns dann nachher, ja? Ich fahre direkt zu dir und Falco.“

„Alles klar, ich lüfte dein Zimmer schon mal.“

Wir legen auf und ich atme tief durch.

Verdammt, verdammt, verdammt!

~*~

Hätte ich beruflich ein ähnlich schlechtes Timing wie in meinem spärlichen Privatleben, müsste ich mir vermutlich seit etwas mehr als zehn Jahren die Radieschen von unten ansehen.

Ich seufze und biege von der Bundesstraße auf die Ausfallstraße nach Sporken ab.

Noch knappe zehn Minuten, dann werde ich vor Sisanns und Falcos Haus, in einer Nebenstraße unseres ruhigen Heimatdorfes, einparken und mir zuerst einen Kaffee machen.

Ich bin unfassbar müde und will im Grunde nichts anderes als schlafen, aber das wird warten müssen.

Ein Punkt meiner Löffelliste besagt ganz klar, dass ich diese Hochzeit verhindern muss. Komme, was wolle!

Dabei … habe ich noch keine Ahnung, wie genau ich das überhaupt anstellen soll.

Es gibt ja diese hirnverbrannte amerikanische Floskel, dass jeder, der etwas gegen die Eheschließung einzuwenden hat, nun sprechen oder für immer schweigen möge, aber das ist hierzulande nun mal nicht üblich.

Schon gar nicht, wenn man nicht kirchlich, sondern lediglich standesamtlich heiratet, wie es bei Kaniel und Raphael der Fall sein wird.

Also muss ich wohl etwas anderes finden.

Wäre echt schön gewesen, wenn ich mir innerhalb der letzten Wochen schon mal Gedanken dazu hätte machen können, aber woher sollte ich ahnen, dass es nun plötzlich so weit ist?!

Wer weiß? Vielleicht sollte ich trotzdem einfach bei der Zeremonie aufkreuzen und Unruhe stiften?

Ein irres, ganz sicher meiner Übermüdung geschuldetes Lachen kriecht durch meinen Hals und ich schüttle über mich selbst den Kopf.

Bevor ich zu Sisann abbiegen kann, komme ich an einem großen, weitläufigen Komplex vorbei, der hier noch immer fehl am Platz wirkt, obwohl meine Schwester und ich darin aufgewachsen sind – das Landhotel Sporken.

Seit vier Generationen im Besitz meiner Familie.

In der Garage, rechts am Privatbau der Anlage, haben meine Freunde und ich früher an Mofas und Rollern, später an Motorrädern gebastelt, die wir hatten.

Heute steht meine heißgeliebte Maschine – nun gut, eine davon – in einem Schuppen hinter dem Carport meiner Schwester.

Ich seufze leise und passiere das Anwesen des Hotels, das am Ortseingang, direkt neben einem hauseigenen kleinen See, steht, durchquere das Dorf und biege ab, um meinen Wagen in Falcos Carport abzustellen.

Ich schaffe es kaum, auszusteigen, als die seitlich gelegene Tür zur Küche meiner Schwester aufspringt und Sisann mir entgegenkommt.

Die sommerlich laue Brise dieses Julitages lässt ihr Schwangerschaftskleid wehen und ich beeile mich, den Wagen zu verlassen, um sie an mich zu drücken.

„Hey Süße!“

„Bruderherz!“, murmelt sie und klammert sich an mich.

Ich bin beinahe zwei Köpfe größer als sie, weshalb ich versucht bin, sie hochzuheben.

Ich lasse es, aus Rücksicht auf ihren ansehnlichen Babybauch, zu dem ich mich nun herabbeuge.

„Hallo Baby, hier ist dein Patenonkel. Es wäre schön, wenn du bald da herauskommst, damit ich dich endlich sehen kann!“, erkläre ich dem Kugelbauch und reize Sisann damit zu schallendem Lachen.

„Sie hat noch fast vier Monate Zeit! Du bist ein unglaublicher Spinner, Jilas!“

„Ich weiß. Ein hundemüder noch dazu. Hast du einen bis zwei Liter Kaffee für mich?“

„Komm rein, ein Becher dampft schon frisch auf dem Tisch vor sich hin. Du kannst deine Tasche später holen.“

Ich folge ihr hinein und schnappe mir die Tasse. Nach dem ersten Schluck hebe ich ihn vor meine Augen und lese den Aufdruck darauf.

Spezialagent Kaffee – Mit der Lizenz, Tote zu erwecken!

Das erste Wort lässt mich leicht zusammenzucken, aber ich fange mich erstaunlich schnell.

„Perfekte Tasse!“, befinde ich.

„Wie tief bist du eigentlich geflogen, dass du schon hier bist? Wann haben wir telefoniert? Um zehn? Jetzt ist es gerade mal halb drei!“

Ich räuspere mich und ziehe es vor, erst noch einen Schluck des Muntermachers zu trinken, bevor ich antworte.

„Äh, sagen wir es so: Der Verkehr hielt sich in Grenzen und mein Wagen ist erstaunlich schnell …“

Sie schnaubt nur.

„Tut mir leid, Süße, aber ich wollte zeitnah ankommen, damit ich nicht am Steuer einschlafe!“

„Schon klar. Monatelang hört und sieht man kaum was von dir, aber wenn dein Erzfeind heiraten will, stehst du innerhalb von Stunden auf der Matte.“

Sisann setzt sich zu mir an den Tisch und schüttelt missbilligend den Kopf.

„Ich hatte viel zu tun … Es ist im Grunde reines Glück, dass ich überhaupt herkommen konnte.“

Wie immer halte ich mich extrem bedeckt, was meinen Job angeht. Schließlich weiß auch mein Schwesterchen nicht, womit ich mein Geld tatsächlich verdiene. Die offizielle Version – man könnte es auch ‚Tarnung‘ nennen – lautet, dass ich Geschäftsmann bin.

Tatsächlich bin ich das irgendwie wohl auch.

Das Architekturstudium, das ich absolviert habe, hat mir eine Idee für ein geniales Patent verschafft, doch kaum hatte ich die ersten Semester hinter mir, bin ich wie die Jungfrau zum Kinde an einen gänzlich anderen Job geraten.

Nach einem Sprung ins Eiswasser war klar, dass jener zweite Job, bei dem ich im Grunde nur aushelfen sollte, meine wahre Bestimmung ist.

Ich durchlief alle Tests und Trainings und seitdem bin ich genau der, der ich sein muss.

Meine heutigen Bosse, Franklin Geissner und Rainer Lannen, haben mir geholfen, die Tarnung aufzubauen – dazu gehörte auch, dass sie mir bei der Finanzierung des Patents geholfen haben.

Wann immer auf dieser Welt seither mein Fertigbausystem verwendet wird, erhalte ich Geld dafür.

Der Grund, wieso ich mir diesen Palast von einem Haus, Bedienstete und meinen Fuhrpark leisten kann. Ebenso die Spenden an das Dorf.

Eine supergute Tarnung eben, wenn ich bedenke, was diese Architekten-Nummer wirklich verbirgt.

Ich blicke noch mal auf die Tasse und schlucke hart.

Mein Job ist zeitweise echt die Hölle, aber all meinen Meckereien und der Muskelschmerzen, die ich auch jetzt wieder verspüre, zum Trotz, würde ich ihn nie freiwillig aufgeben.

„Wann und wo ist denn die nächste Baustelle?“, will sie wissen.

„Muss ich noch klären. Das mache ich aber erst am Montag.“

Eigentlich kenne ich den neuen Auftrag bereits, aber ich habe zeitlichen Spielraum für die Erledigung und dementsprechend eilt nichts.

Nun ja, zumindest nichts Berufliches.

Wirklich dringend ist nur diese verdammte Hochzeit!

„Hm, dann hast du wirklich und wahrhaftig ein ganzes Wochenende Zeit für deine Familie?“, hakt sie ironisch nach.

„Habe ich! Aber jetzt würde ich unheimlich gern das Bad im Dachgeschoss belegen und eine Stunde in der Wanne dümpeln, bevor ich mindestens drei Tage am Stück schlafen will.“

„Genau … Als ob du jetzt an Schlaf denken könntest …“

Ich lache müde. „Ist wahr, aber die Wanne brauche ich. Der Flug steckt mir noch in den Knochen und die Fahrt hierher war auch nicht entspannend.“

„Na, dann sieh zu, dass du deine Tasche holst und nach oben gehst, ich lasse dir die Wanne ein und bringe dir eine Thermoskanne Kaffee. Und wehe du pennst beim Baden ein!“

„Du bist die Allerbeste, Schwesterchen!“, befinde ich und erhebe mich, um ihren Vorschlägen zu folgen.

~*~

Ich liebe diese Wanne. Sie ist fast so schön wie mein Whirlpool, hat sogar Sprudeldüsen und hilft mir enorm, meine müden und geschundenen Knochen, Muskeln und Gelenke zu entspannen.

Perfekt!

Der Kaffee hält mich wach, so dass ich gegen 17 Uhr deutlich munterer und vor allem besser gelaunt wieder in der Küche im Erdgeschoss antanze.

Sisann ist nicht dort, hat mir aber bezeichnenderweise einen Zettel an die Kaffeemaschine gepappt, auf dem sie mir mitteilt, dass sie zum Hotel gegangen ist.

War ja so klar!

Durch ihren Abgang bin ich nun gezwungen, ebenfalls in meinem Elternhaus aufzutauchen.

Sie weiß genau, das hätte ich mir aus diversen Gründen gern erspart.

Ich liebe meine Familie, ohne jede Frage!

Aber ich hasse das Brimborium, das sie jedes Mal veranstaltet, wenn ich in Sporken bin.

Tief seufzend schnappe ich mir meine Brieftasche, mein Handy, den Ohrstecker und die Autoschlüssel, um meiner Schwester zu folgen.

Alles andere würden meine Eltern und die restliche Verwandtschaft mir echt übelnehmen.

Ich tippe auf den Knopf in meinem Ohr und sage: „Rufe Sisann Mobil an.“

Es dauert nicht lange, bis sie das Gespräch annimmt.

„Sehr nett von dir, Süße, aber bevor du meckerst, ich bin auf dem Weg.“

„Na, besser ist es, hier freuen sich schon alle.“

„Ja, danke auch.“ Ich seufze erneut. „Ich hoffe für dich, dass du nicht alle angerufen hast.“

„Natürlich nicht, ich habe nur mit Mama telefoniert, die hat dann die Telefonliste gestartet …“ Sie kichert überdreht und bringt mich dazu, meinen Unwillen herunterzuschlucken.

„Schon gut, bis gleich!“


 

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Published on November 05, 2021 17:10

[Leseprobe] Gefängnisse der Vergangenheit - Trauer

 Leseprobe

„Es ist jetzt fünf Jahre her, mein Schatz, du musst endlich wieder vorwärts blicken!“ Die Mahnung meiner Mutter ist gut gemeint, trotzdem sträubt sich etwas in mir so sehr, dass ich nur mit Mühe verhindern kann, mich zusammen zu krümmen.

Fünf Jahre …

Vor fünf gottverfluchten Jahren ist meine Jugendliebe gestorben.

Mich daran zu erinnern, ist für niemanden eine gute Idee.

Ich starre meine Mutter an und nicke vorsichtig. „Ich weiß.“

„Manchmal glaube ich, du verdrängst es eher. Als wäre Anton nur auf eine lange, lange Reise gegangen“, beharrt sie.

Ich seufze vernehmlich. „Mama, wenn ich sage, dass ich es weiß, dann meine ich das auch so. Er ist tot! Aber das bedeutet noch lange nicht, dass mein Herz das verarbeitet hätte.“

Sie seufzt ebenso. „Das verstehe ich. Dennoch bist du zu jung, um im Haus deiner Mutter zu leben.“

Ich blinzle. „Du willst mich loswerden?!“

„Natürlich nicht! Ich will dich wieder echt und aus tiefster Seele lachen sehen! Will die Verliebtheit und das Begehren in deinen Augen schimmern sehen, wenn der Mann deines Herzens in dein Blickfeld gerät!“

Ich schnaube. „Dein Ernst?!“

Sie nickt nur und sieht aus dem Fenster der Küche auf den Hof.

Die Sonne ist längst untergegangen, wie immer am frühen Abend Anfang Februar.

Trotzdem ist es draußen keineswegs dunkel.

Wird an den zahlreichen Lichtern liegen, die unser Dorf speziell in der dunklen Jahreszeit erhellen.

Jedes Haus besitzt dicht unterhalb der Regenrinne eine Reihe von Lampen, die das Mauerwerk anstrahlen und die Denkmäler und Gemeindehäuser sind von großen Scheinwerfern angestrahlt – dunkel wird es in Sporken erst nach Mitternacht.

Manche Hausbesitzer haben ihre Vorgärten auch noch nicht von der Weihnachtsbeleuchtung befreit, in vielen Rabatten stehen deshalb noch kugelige Büsche und Baumgerippe, die von Lichternetzen oder -ketten beleuchtet werden.

Am vergangenen Wochenende waren es noch viel mehr, da haben wir das Lichterfest gefeiert.

Ehrlich, in diesem Kaff gibt es in jeder einzelnen Woche des Jahres irgendein Fest, zumindest kommt es mir manchmal so vor.

In Wahrheit sind es ein bis zwei Feste im Monat.

Trotzdem müssten wir weithin als ‚das Partydorf‘ bekannt sein, aber da wir keine großartige Werbung für unsere Feiern machen, weiß kaum jemand außerhalb von Sporken davon.

So heißt unser Dorf. Sporken im Münsterland. Etwa zehn Kilometer von der Stadt, in die wir eingemeindet wurden, entfernt, schlummert es friedlich – bis zur nächsten Party!

„Du wirst nicht jünger, was glaubst du, wann du zuletzt ausgegangen bist? Und ich rede nicht von deinen langen Wanderungen durch die Landschaft oder den treffen mit deiner Clique“, präzisiert sie und reißt mich damit aus meinen Gedanken.

Tief durchatmen, sie meint es wirklich nur gut.

„Ich bin 33, Mama. Nicht hundert! Und ich wandere gern durch die Natur! Sie ist still und gleichzeitig so herrlich laut und pulsierend! Sie gibt keine Widerworte und diskutiert nicht mit mir, dass ich mir einen neuen Mann suchen soll“, gebe ich spitz zurück.

Mühsam beherrsche ich mein Temperament.

Meine Mutter ist die Letzte, die ich anschreien will, nur weil sie sich Sorgen um mich macht.

Sie lächelt milde, als sie sich mir wieder zuwendet. „Du suchst also jemanden, der keine Widerworte geben und nicht diskutieren kann?“

Der Schalk blitzt aus ihren Augen.

„Klar! Am besten stumm und hübsch. Den kette ich dann im Schlafzimmer an, um ihn, wann immer ich will, zu vernaschen!“ Mein ironischer Ton reizt sie erst recht zum Lachen, mich aber auch.

Allein die Vorstellung ist schon absurd!

„Bevor ich es vergesse, du musst noch etwas für mich erledigen.“

„Ah ja? Was denn?“

„Ich habe vergessen die bestellten Eier bei Janssen abzuholen, ich brauche sie aber nachher für den Kuchen.“

Ich nicke und stehe auf. „Alles klar, bis gleich dann.“

Jacke, Handschuhe und Mütze sind bei solchen Ausflügen Pflicht, ich friere zwar nicht schnell, aber krank zu werden kann ich mir ebenso wenig leisten wie jeder andere.

Auf zum Hühnerhof!

Die Janssens sind die örtlichen Eierbauern. Ihr Federvieh rennt jeden Morgen auf ein riesiges Areal hinaus, auf dem es herumkratzen, ausruhen und baden kann.

Echte Freilandhühner eben.

Der Hof liegt am anderen Ende der gewundenen Dorfstraße, die mehr oder minder parallel zur Hauptstraße verläuft.

„Lasse, hast du einen Moment?“, spricht mich Bauer Lensing an, als ich dick eingepackt an seinem Hof vorbeigehe.

Ich trete zu ihm und zwei anderen Dorfbewohnern, die offensichtlich ein kühles Schwätzchen gehalten haben.

„Klar, was ist los, Ewald?“

„Ich muss morgen in die Tannenschonung. Der Sturm hat am Wochenende etliche Bäume entwurzelt, die nun zwischen den Tannen für dieses Jahr liegen. Hast du Zeit, mir zu helfen?“

Ich schürze die Lippen und nicke schließlich. „Sollte gehen. Wie spät soll ich da sein?“

„Wir wollen um sechs Uhr los.“

„Alles klar, dann bis morgen früh!“ Ich hebe die Hand zum Abschied und gehe weiter.

Mist, sechs Uhr ist echt unchristlich für mich, aber ich helfe eigentlich immer, wenn Not am Mann ist.

Durch meinen Job bin ich zeitlich absolut ungebunden und kann einspringen. Das tue ich für meine Mutter ebenso wie für andere im Dorf.

Es hat seine Vorteile selbständig und kreativ zu sein.

Ich muss nicht jeden Morgen um neun Uhr in einem Büro sitzen oder um sechs Uhr am Fließband in einer Fabrik stehen.

Dafür kommen dann aber solche lustigen Arbeitszeiten zustande, wie Ewald sie mir eben abgeschwatzt hat.

Ich gehe grinsend weiter und frage mich, wieso ich es nie schaffe, ‚nein‘ zu sagen.

Na ja, ich bin wohl einfach so und sollte das auch nicht zu ändern versuchen.

Vielleicht habe ich ja morgen in der Tannenschonung eine Idee für eine Wintergeschichte? Wäre cool – im wahrsten Sinne!

Ich erreiche den Hof von Janssen ohne weitere Zwischenfälle und gehe wie immer durch die Seitentür im Hof in die riesige Wohnküche.

Oma Janssen sitzt bei einem Glas Tee und sieht von ihrem Arztroman auf, den sie schmökert.

Das Abendessen für ihre Großfamilie steht auf dem Herd, es duftet verführerisch aus den Töpfen.

„Hallo Oma!“, grüße ich fröhlich. „Wie geht es dir?“

„Sehr gut, mein Junge. Was macht die Kunst?“, fragt sie und erhebt sich, um ein einem Anbau zu gehen. Dort steht bereits das Körbchen mit den von meiner Mutter bestellten Eiern.

„Alles gut! Das neue Buch ist veröffentlicht und verkauft sich einigermaßen, ich schreibe jetzt noch an zwei anderen, dann muss ich mich um die Wintergeschichten kümmern.“

Sie nickt vor sich hin und reicht mir das Körbchen.

„Da, damit Elise backen kann. Ich hab mich schon gewundert, wie sie die Eier vergessen konnte.“

Ich grinse. „Irgendetwas wird sie aufgehalten haben, du kennst sie ja.“

Eine Tatsache, jeder im Ort kennt meine Mutter. Sie ist kurz vor meiner Geburt als Alleinerziehende in dieses Dorf mit nicht einmal 500 Seelen gezogen, um mich aus dem Trubel der Großstadt herauszuhalten.

Damals lebten meine Großeltern noch. Wir bewohnen seitdem einen Hof, auf dem mittlerweile keine Landwirtschaft im herkömmlichen Sinne mehr betrieben wird, sieht man von den gigantischen Obstgärten ab.

Vier Sorten Äpfel, eine alte, heute kaum noch bekannte Kirschenart, Pflaumen und Birnen stehen in langen Reihen hinter dem Gehöft und sehen von weitem eher aus wie ein Weinberg.

Die Felder und Weiden, die zuerst noch zum Hof gehören, hat meine Mutter nach dem Tod meines Großvaters vor fast sechzehn Jahren bis auf zwei Wiesen direkt am Haus verpachtet.

„Ich will dich nicht von deinem Roman abhalten, Oma. Wir sehen uns die Tage, ja?“

Ich umarme sie zum Abschied und will die Küche verlassen.

„Warte kurz!“, bittet sie mich. „Jetzt hätte ich beinahe vergessen, dir zu erzählen, dass wir Zuwachs auf dem Hof haben!“

„Aha?“ Sie macht mich neugierig.

„Seit heute Nachmittag. Mein Großneffe aus Berlin ist zu uns gezogen.“

„Aus Berlin?!“ Spontan tut mir der arme Mann leid, dass er ausgerechnet in dieses Nest geraten ist, auch wenn ich sehr gern hier lebe.

Berlin ist auch nicht gerade um die Ecke, sondern 500 Kilometer weit weg!

Eine Tatsache, die mich augenblicklich an meinen besten Freund denken lässt.

Immer wenn unsere Bundeshauptstadt in einem Gespräch erwähnt wird, denke ich an Jilas und merke, wie sehr ich ihn vermisse.

„Ja! Ihm hat es dort wohl nie gefallen, zu laut, zu viel Trubel. Jetzt ist er mit dem Studium fertig und will raus aus der Großstadt.“

„Na gut, das kann ich verstehen. Und was hat er studiert, dass er danach einfach herkommt?“

„Er ist Fotograf und hat Grafikdesign studiert.“

„Oh, ein schöner Beruf, würde ich sagen. Na, dann sind die zukünftigen Dorffeste nicht mehr auf die stümperhaften Knipsereien von Leuten wie mir angewiesen!“

Wir lachen.

Oma Janssen ist die coolste 90-Jährige, die ich kenne.

„Stimmt! Na, du wirst ihn am Wochenende beim Schneeglöckchenfest kennenlernen!“

„Klingt gut, alles klar, ich muss dann jetzt los. Ewald hat mich breitgeschlagen, morgen lange vorm Aufstehen schon mit ihm loszuziehen!“

„Na, dann ab mit dir!“

Ich verlasse die Küche nun wirklich, gehe über den großen Hof in Richtung Dorfstraße und sehe mich dabei neugierig um, ob ich den Großneffen aus Berlin, dessen Namen sie mir nicht einmal verraten hat, irgendwo sehen kann.

Bewaffnet mit dem Weidenkörbchen voller großer Hühnereier mache ich mich auf den Heimweg.

Wie immer hat Oma Janssen es mit einem frisch ausgekochten Geschirrtuch ausgelegt und die Zipfel am Ende über den Eiern zusammengeschlagen.

Auch wenn ich oft die von Mama bestellten Dinge von den Nachbarhöfen oder aus dem Dorfladen abhole, komme ich mir speziell mit dem Eierkörbchen immer ein bisschen wie Rotkäppchen vor.

Das ging mir schon als Kind so.

Der Gedanke lässt mich in mich hineinlachen, als ich körbchenschwingend nach Hause gehe.

© Nathan Jaeger

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Published on November 05, 2021 17:00

[Leseprobe] Rucksacktour - Feind im Gepäck

 Leseprobe

„Immer dasselbe mit dir“, meckere ich meinen besten Freund an.

„Weil ich das ja auch mit voller Absicht mache, oder was?“, mault er zurück und wischt sich den Schweiß von der Stirn.

In zwei Tagen wollen wir unsere Rucksackreise durch Italien starten, und er wird krank!

Es ist zum Kotzen, das kann ich leider nicht mehr anders ausdrücken.

„Ja, schon klar, aber du könntest mal aufhören, dich ständig in alles so reinzusteigern“, versetze ich in versöhnlicherem Ton.

Er tut mir schon leid, so ist es nicht, aber wenn unsere Reise ins Wasser fällt, laufe ich Amok!

Dies ist unser letzter Sommer vor dem Abitur und damit haben wir zum letzten Mal sechs Wochen Ferien am Stück, die wir größtenteils dafür nutzen wollten, zuerst mit dem Flugzeug nach Italien zu fliegen und anschließend an der Küste entlang zu wandern.

Nur wir zwei, unsere Rucksäcke und ein paar Campingplätze.

Wir haben in den vergangenen Wochen alles minutiös geplant, uns alternative Strecken ausgeguckt – Google Maps ist da sehr hilfreich gewesen.

Und nun?

Ich spüre, wie Verzweiflung mich erfasst und ich den Gedanken habe, dass es vielleicht doch schlauer gewesen wäre, mit anderen Teilen unserer Clique nach Ibiza zu fliegen, um einfach ein bisschen Party zu machen.

„Tut mir wirklich leid“, schnieft Lelio und ich tätschle ihm beruhigend die Schulter.

„Du kannst ja nix dafür, aber Scheiße ist es trotzdem.“

„Vielleicht bin ich ja bis morgen wieder fit? Dann können wir übermorgen in den Flieger steigen und alles wird gut!“

„Wäre schön, aber was, wenn nicht?“

Er hebt die Schultern. „Dann habe ich dir unsere letzten großen Ferien versaut …“

Okay, meine Freundschaft hat soeben über meine Selbstsucht gesiegt.

„Hey, schon gut. Tut mir leid, dass ich so ruppig war“, sage ich leise.

Tut es mir wirklich. Lelio ist mein aller-allerbester Freund seit gefühlten hundert Jahren. Manchmal könnte man glauben, wir hätten schon im Mutterleib zusammen gespielt, so genau kennen wir uns.

Ist natürlich Quatsch, auch wenn unsere Mütter Cousinen sind.

„Wenn du nicht rechtzeitig gesund wirst, fahren wir einfach später.“

Er strahlt mich an. „Wirklich? Aber das wirft all unsere Pläne über den Haufen!“

Ich hebe die Schultern. „Ist doch egal, Hauptsache wir haben ’nen coolen Sommer!“

„Ja, ist wahr. Morgen gehe ich jedenfalls sofort zum Doc, damit er mir im Zweifel was aufschreiben kann, okay?“

„Ja, okay. Ich muss jetzt los, sonst ist Ma sauer wegen des Abendessens.“

„Grüß schön!“

~*~

Die Hiobsbotschaft am folgenden späten Vormittag haut mich aus den Socken.

Lelio hat Pfeiffersches Drüsenfieber und darf absolut nicht mitkommen.

Was soll ich jetzt machen? Zu Hause bleiben oder mir was anderes überlegen, um die Ferien zu verbringen?

„Dann fahr doch mit uns weg“, schlägt meine Ma vor, als wir am Mittagstisch sitzen.

Ich ziehe sofort eine Schnute. „Mit den Minimonstern und euch an die Ostsee? Nee, danke. Ich wollte nach Italien!“

„Hm, du musst es selbst wissen, Schatz. Alt genug bist du jedenfalls, um allein hier zu bleiben. Aber nach Italien fährst du bitte nicht allein!“

Da hat sie recht, immerhin bin ich fast 19!

Deshalb will ich auch aufbegehren. „Ich bin alt genug!“

„Nicht, um allein in einem fremden Land mit dem Rucksack herumzutouren“, setzt mein Vater hinzu und ich weiß genau, ich habe keine Chance.

„Hm“, mache ich und gebe nach. „Scheiße!“

Eine Lösung für mein akutes Urlaubsproblem werde ich wohl so einfach nicht finden.

Da laut Arzt keine Ansteckungsgefahr besteht, weil ich das Pfeiffer-Fieber bereits als Kind hatte, besuche ich am Nachmittag Lelio.

„Hey“, röchelt er und sieht wirklich schlimm aus.

Zu dem Fieber und der schwitzigen Haut hat er nun Hautausschlag und einen so geschwollenen Hals, dass er aussieht wie ein Leguan oder die Aliens aus V – die außerirdischen Besucher.

Seine Lymphknoten meinen es echt nicht gut mit ihm, weshalb mein Mitgefühl weiter anwächst.

Ich sitze mit Lelio in dessen Zimmer und wir zocken, soweit er es kann, an der Playstation.

Die Tür steht offen, weil es viel zu heiß ist, um in total verrammelten Räumen zu hocken.

„Hab gehört, euer Urlaub fällt aus“, spricht uns ‚Blödian‘ – Lelios bereits studierender Bruder – an, als er an der Tür vorbeikommt.

Ich brauche den Blick nicht vom Fernseher zu heben, um zu wissen, wie hämisch er gerade grinst.

„Was willst du, Blödian?“, frage ich, ohne ihn anzusehen. Lelio kann nur mäßig viel sprechen, deshalb übernehme ich das halt.

„Es wäre ziemlich erwachsen, wenn ihr endlich damit aufhören würdet, mich so zu nennen. Ich heiße Gillian. Aber es reicht auch, wenn ihr mich ‚großer Meister‘ nennt.“

Wie immer spricht er es nicht Englisch aus, das G am Anfang seines Namens ist ein G wie in ‚Gustav‘.

Bevor ich reagieren kann, hat Lelio bereits ein Kissen nach ihm geworfen.

„Du willst wirklich ‚Gillian‘ genannt werden?“, frage ich erstaunt und sehe ihn endlich an.

Gillian ist 24 und echt sexy, darüber nachzudenken verbiete ich mir jedoch sofort wieder, immerhin kann ich ihn ansonsten absolut nicht ausstehen.

Er hat Lelio und mir das Leben in Kinderjahren richtig zur Hölle gemacht.

Verzeihen werden wir ihm seine teilweise wirklich fiesen Streiche niemals!

Davon abgesehen sollte ich mir sowieso nichts anmerken lassen, denn Gillian, der sich sonst nur ‚Lian‘ rufen lässt, hat keinen blassen Schimmer, dass ich genauso schwul bin wie er.

Ich habe es nur Lelio unter dem Siegel allergrößter Verschwiegenheit verraten.

„Lian reicht auch“, entgegnet der Widerling nun und kommt näher.

Ohne zu fragen, wirft er sich neben uns auf Lelios Bett und nervt weiter herum.

Wir bemühen uns, zu zocken und ihn zu ignorieren. Gar nicht so einfach, er hockt so dicht neben mir, dass ich seine Wärme trotz der Hitze spüren kann. Seine Blicke brennen zusätzlich in meinem Rücken – zum Zocken sitze ich wie immer auf der Bettkante und lehne mich vor.

„Ernsthaft, was ist nun mit eurem Urlaub?“, fragt er irgendwann.

„Was interessiert es dich?“, frage ich genervt dagegen.

„Na ja, Leli hat mir erzählt, wie lange er krank sein wird und wie enttäuscht du deshalb bist.“

Ich drehe den Kopf zu meinem besten Freund, danach in die andere Richtung zu dessen Bruder. „Und? Bist du hier, um noch ein wenig Salz in die Wunden zu streuen?“

„Eigentlich wollte ich anbieten, statt Lelio mitzukommen.“

Das haut mich echt um und ich vermassele den nächsten Move im Spiel vollkommen.

„Bist du bescheuert? Fünf Wochen lang soll ich mit dir Widerling aushalten? Da fahre ich ja lieber mit meinen Eltern und den Minimonstern an die Ostsee!“, spucke ich ihm hin.

Ernsthaft, was denkt der sich denn?!

Lian zuckt nur die Schultern, steht auf und geht zur Tür. „War ein Angebot. Du kannst es dir ja noch bis morgen Abend überlegen.“

„Gar nichts kann ich da überlegen!“, meckere ich ihm nach, doch Lelio stupst mich an, sobald Lian sich abgewandt hat.

„Ey, sei nicht so! Ich hab ihm erzählt, wie scheiße es dir geht deswegen, und er hat es wirklich von sich aus angeboten!“

Ich schnaube. „Ernsthaft, Lelio? Was soll ich denn mit deinem Ekelbruder anfangen? Denkst du wirklich, das könnte ein schöner Urlaub werden? Ohne dich, dafür mit Mister ‚Nennt mich großer Meister‘?!“

„Du weißt so gut wie ich, dass er das nicht ernst meint und nur sauer ist, weil wir ihn immer noch Blödian nennen.“

„Klar weiß ich das, aber ich mag es, ihn auf die Palme zu bringen!“, bescheide ich Lelio mit einem bösen Grinsen.

Der kichert, bevor das Geräusch in ein klägliches Krächzen übergeht. Nachdem er sich beruhigt hat, sagt er: „Überleg es dir, ja? Ich werde mir niemals verzeihen, wenn du wegen meiner Knutscherei mit Alyssa auf deinen Italienurlaub verzichten müsstest.“

„Von ihr hast du dir das eingefangen?“

Er nickt. „Hab sie vorhin angetextet, sie hatte es bis vor zwei Wochen.“

„Na, Glückwunsch!“ Zum Thema Lian schweige ich besser, sonst rutschen mir noch mehr Schimpftiraden heraus.

Wir zocken weiter, bis Lelio zu müde wird. Schlaucht ihn halt alles ziemlich …

Als ich mich verabschiede, sagt er: „Denk drüber nach, ja? Unser Flieger geht morgen Abend. Dein Rucksack ist schon gepackt und ich will wirklich nicht, dass du meinetwegen auf was verzichten musst!“

„Lelio, wie soll ich denn mit Lian in Urlaub fahren? Er hasst mich genauso wie ich ihn! Ich verstehe nicht, wieso er so ein Angebot macht, wo doch jeder sieht, wie sehr er mich – uns beide – verabscheut!“

„Das tut er doch gar nicht. Manchmal glaube ich, er ist neidisch auf unsere tolle Freundschaft.“

„Dass er keine Freunde hat, ist ja wohl sein eigener Verdienst!“, meckere ich laut.

„Mann!“, mault Lelio. „Sieh sein Angebot doch einfach als Chance, Italien auf die Art kennenzulernen, die wir geplant hatten.“

„Hm“, mache ich.

Kann ich das? Will ich das?

„Bitte!“ Lelios Blick ist herzerweichend.

Ich muss sogar grinsen. „Ich schlafe ’ne Nacht drüber, dann kann ich beruhigt ‚nein‘ sagen, oder wirst du mich dann weiterhin nerven?“

„Sei kein Idiot, Nevio.“

„Das kann ich nicht versprechen!“

~*~

Tja, was soll ich sagen? Als ich heute früh aufgewacht bin, und mich das Flugticket, das dick und fett – und derzeit allein – an meiner Pinnwand hängt, so sehr angelacht hat, wusste ich, dass es nur eine Lösung meines Problems gibt:

Ich muss mit Blödian-Gillian losziehen.

Natürlich frage ich mich nach wie vor, wie ich das auch nur im Ansatz genießen soll.

Geplant war schließlich, dass ich mir mit Lelio einen Bungalow oder ein Zelt auf den jeweiligen Campingplätzen teile …

Der Gedanke, das nun mit Lian zu tun, widerstrebt mir auf eine merkwürdige Art.

Vielleicht, weil er nun mal ziemlich heiß aussieht?

Meine Lenden springen schließlich zu den unpassendsten Zeiten auf ihn an, und ich bin froh und dankbar, dass er das nie bemerkt hat!

Nach einem leckeren, kühlen Frühstück aus Honigmelone und Apfel in Joghurt, trete ich den Weg an, der mich in den Italien-Urlaub führen wird.

Ich gehe die Straße entlang und bemerke, wie wahnsinnig schwül es heute ist, bevor ich drei Häuser weiter durch die Seitentür ins Haus gehe.

„Hallo Nevio! Wie geht es dir?“, begrüßt mich Lelios Mutter Ingrid und lächelt mich an.

„Guten Morgen, ganz okay soweit. Weißt du, wo ich Lian finde?“

Ihr Lächeln wird zu einem breiten Grinsen und plötzlich habe ich wieder massive Zweifel an meiner Entscheidung.

„Er ist im Garten.“

„Okay, danke. Ich gehe dann mal …“

„Nevio?“, ruft sie mir nach, als ich mich auf den Weg gemacht habe.

„Ja?“

„Was wirst du ihm sagen?“

„Dass ich nach Italien will und das im Notfall eben auch mit ihm“, gebe ich zurück und versuche, nicht mit den Zähnen zu knirschen.

„Das ist schön. Lelio hat sich sehr gewünscht, dass du dich so entscheidest.“

Ich nicke. „Weiß ich, vermutlich mache ich es auch nur ihm zuliebe.“

Ingrid kichert. „Hauptsache, ihr genießt den Urlaub und schickt Lelio viele Fotos.“

„Wäre es nicht voll gemein, wenn ich ihm Fotos schicke?“

„Das kommt wohl darauf an, was drauf zu sehen ist“, erwidert sie kryptisch und lächelt hintergründig.

Ich runzle die Stirn.

„Was meinst du damit?“

„Na, wenn du von unterwegs ein paar tolle Impressionen schickst, wird Lelio sich sicherlich freuen.“

„Aha.“ Ich sehe sie stirnrunzelnd an und bin mir sicher, dass Ingrid nicht das gesagt hat, was sie eigentlich hätte sagen müssen, um ehrlich zu antworten.

Ich wende mich um, um durch Flur und Wohnzimmer in den Garten zu gehen.

Wie erwartet ist Lian dort, doch wenn ich bislang dachte, er liegt faul auf der Terrasse im Schatten herum, entdecke ich ihn stattdessen im Pool.

Lians Familie hat das Haus mitsamt Pool gekauft.

Fest installiert, eingemauert und gefliest, mit Pumpenanlage und allem Zick und Zack.

Viele Partys und auch einfache Nachmittage haben wir hier verbracht, rumgealbert, Spaß gehabt.

Jetzt trete ich an den Rand des hellgrünen Beckens und streife meine Flipflops ab, um die Beine ins Wasser zu hängen.

Irgendwann wird er mich schon bemerken, und bis dahin kann ich die Abkühlung gut vertragen.

Leider muss ich aufpassen, dass ich Lians durchs Wasser pflügenden Körper nicht zu genau beobachte, sonst bekomme ich das übliche Zeltproblem …

Lelios großer Bruder zieht weiterhin seine Bahnen in dem 15-Meter-Becken und meine Geduld wird auf eine harte Probe gestellt.

Erst als er eine Pause macht, bemerkt er mich und schwimmt mit wenigen Zügen auf mich zu.

Sein nasses Haar streicht er lässig nach hinten und sieht blinzelnd zu mir hoch.

„Na? Sitzt du da schon lange?“

Ich zucke undefiniert mit den Schultern. „Keine Ahnung.“

„Wieso kommst du nicht rein?“

„Weil ich eigentlich nur hier bin, um dich zu fragen, ob dein Angebot wirklich noch steht.“

„Tut es. Du willst also heute Abend in den Flieger steigen?“

„Ja. Und da Siegmund und Lara mich ohne Begleitung nicht weg lassen …“ Ich seufze.

Lian bemerkt es und grinst. „… bin ich deine letzte Hoffnung“, stellt er fest, klingt aber nicht so hämisch, wie ich erwartet hätte.

„So in etwa“, bekenne ich.

„Lelio wird sich ziemlich freuen.“

„Ja, ich weiß. Er tut mir so leid. Die blöde Krankheit und dazu noch der ausgefallene Urlaub.“

„Er findet viel schlimmer, dass er dich damit um den Urlaub gebracht hat.“

Ich mustere ihn. „Was genau hat er dir dafür versprochen, dass du mit mir fährst?“

„Gar nichts.“ Seine Miene wird hart. „Wieso denkst du, er müsste mir etwas dafür geben?“

„Weil du noch nie etwas ohne Gegenleistung für einen von uns getan hast, Lian. Du bist der mit Abstand ichbezogenste Mensch, den ich kenne.“ Ich schlucke hart. „Tut mir leid, wenn ich das sagen muss, aber ich stehe nicht auf Lügen, auch dann nicht, wenn mich die Wahrheit doch noch meinen Urlaub kosten könnte.“

Er schürzt die Lippen, nickt und drückt sich aus dem Becken hoch neben mich.

Erst jetzt fällt mir wieder auf, dass er größer und auch ein wenig breiter ist als ich.

Alles Muskeln.

Lian hat nie halbe Sachen gemacht, weder beim Gang ins Sportstudio noch beim Schwimmen.

Er sieht, ob mir das nun passt oder nicht, fantastisch aus.

Okay, es passt mir wirklich nicht, denn wie soll ich mit diesem erwiesenermaßen schwulen Adonis fünf Wochen aufeinander hocken, ohne dass er merkt, wie sehr mein Körper jedes Mal auf ihn reagiert?!

Wohlgemerkt, nur mein Körper. Ich kenne Lian zu lange und zu gut, als dass ich jemals positive Gefühle für ihn hegen könnte.

Klar, eine gewisse Dankbarkeit, dass er sich bereiterklärt hat, mich zu begleiten, ja. Aber sonst?

Nein, danke.

„Das ist ziemlich mutig von dir“, sagt er und nickt vor sich hin. „Aber vielleicht hilft es dir, wenn ich sage, dass ich mich auf die Zeit mit dir in Italien freue.“

Erstaunt sehe ich ihn an. „Tust du?“

„Klar!“ Er lächelt, gibt aber keine genauere Erklärung dazu ab.

Ich muss aus seiner verwirrenden Nähe heraus, sonst sieht er doch noch, was sich in meinen Shorts tut …

Deshalb stehe ich vorsichtig auf, schlüpfe umständlich in meine Flipflops und wende mich um. „Dann bis nachher, okay? Mama bringt uns um 17 Uhr zum Flughafen.“

Bevor ich aus seiner Reichweite entkommen kann, hat er mein Handgelenk umfasst und dreht mich wieder zu sich. „Ich meinte das ernst, Nevio. Bis nachher, ich werde pünktlich da sein.“

Ich nicke fahrig, er lässt mich los und ich verschwinde im Haus, um nach Lelio zu sehen.

 

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Published on November 05, 2021 16:55

[Leseprobe] Schmerzvolle Sehnsucht

 Leseprobe

Kaum habe ich den Kiosk, in dem ich das Anzeigenblättchen gekauft habe, verlassen, schlage ich die knisternden Seiten fieberhaft um, bis ich die Sparte ‚Er sucht Ihn – BDSM‘ finde, in der meine aufgegebene Annonce steht.

Er , 28 J., trainiert, 1,86m, 82 KG,

sucht Anleitung durch dominanten Ihn. Alter egal.

Bin mobil, Großraum WEI.

Darunter steht noch meine Handynummer – ein Prepaidhandy, das ich eigens zu diesem Zweck angeschafft habe.

Zufrieden falte ich das Blatt zusammen und schiebe es aufgerollt in die linke Arschtasche meiner Jeans.

Neugierde, die mich schon vor dem Formulieren der Anzeige bewegt hat, übermannt mich nun deutlich stärker. Ich bin aufgeregt, vielleicht sogar ein wenig nervös.

In jedem Fall ist jetzt alles nur noch eine Frage der Zeit, oder?

Ich meine, es wird sich doch jemand melden …?

Sicher, ich hoffe voll darauf, immerhin ist da diese Neugierde in mir! Ich will wissen, wie es ist, die Kontrolle an einen anderen Menschen abzugeben. Vorzugsweise an einen, der weiß, was er tut.

Ganz kurz habe ich mit dem Gedanken gespielt, in einen SM-Club zu gehen, aber das stellte sich als relativ schwierig heraus.

Erstens braucht man Kontakte, damit man in so einen Laden reinkommt. Woher nehmen, wenn man bislang gar keine Berührungspunkte mit dieser Szene hat? Zweitens habe ich mich halbtot gegoogelt, aber keine auch nur halbwegs öffentlichen SM-Clubs in der Gegend gefunden.

Private scheint es zu geben, aber da ist der vorherige Kontakt noch wichtiger, und ich habe mich nicht getraut, den einen oder anderen Forennutzer auf einschlägigen Seiten direkt anzuschreiben.

Egal, ich hab nun die Annonce aufgegeben und kann nichts weiter tun, als abzuwarten.

Vielleicht dauert es ja gar nicht so lange?

~*~

Eine ganze Woche!

Am Freitag war meine Anzeige in der Zeitung, und bis jetzt hat sich keine Sau gemeldet. Vermutlich kann ich es mir abschminken.

In der heutigen Ausgabe steht die Kontaktbitte nicht mehr drin, also ist meine Chance wohl ungenutzt vergangen.

Ich sitze gegen Mittag am Frühstückstisch, die gestrige Nacht war lang.

Bis nach zwei Uhr in der Frühe habe ich im Tonstudio den neuesten Song mit meiner Band eingesungen. Dieses Hobby nehme ich sehr ernst, deshalb braucht meine Stimme nun viel Tee und Honig. Das hilft bei mir am besten. Beides übrigens aus Fenchel.

Das Aufbackbrötchen noch in der Hand zucke ich erschrocken zusammen, als das zweite Handy zu klingeln beginnt.

Ich sehe auf das Display, nachdem ich das Brötchen wie ein ekelhaftes Insekt fallengelassen habe.

Zittrige Finger greifen nach dem Gerät mit der unterdrückten Nummer im Display. Ich atme tief durch und nehme den Anruf an.

„Ja?“

„Mein Name ist Sir Allen. Wenn es dir mit deiner Annonce ernst ist, sei um 18 Uhr im Park am südlichen Ende der Lindengasse.“

Zack, aufgelegt.

Ich starre das Gerät in meiner Hand noch eine ganze Weile verblüfft an und schlucke trocken, als mir klarwird, dass der Anrufer mit der sexy-tiefen Stimme nicht nur kompromisslos, sondern auch eindeutig gewesen ist.

Verdammt, nun gilt es!

Ich muss mich zwingen, meine Aufgeregtheit zu unterdrücken, um wenigstens das Frühstück hinter mich zu bringen.

Danach räume ich alles weg und gehe ausgiebig duschen.

Für einen solchen Termin sollte ich nicht nur haarlos, sondern auch gespült und gut vorbereitet sein, denke ich.

Er hat zwar nichts Entsprechendes gesagt, aber das heißt ja nichts.

Meine Anzeige hat nicht unbedingt verraten, dass ich bis auf Neugierde und extreme Googeleien keinerlei Ahnung von BDSM habe …

Okay, jetzt nur nicht die Nerven verlieren. Wenn ich das durchziehen will, sollte ich diese Chance nutzen.

~*~

Ein letzter prüfender Blick auf meine Uhr – ja, ich bin überpünktlich. Erst in zehn Minuten erwartet Sir Allen mich hier, was meine Nervosität leider nur noch verstärkt.

Außer dem Frühstück konnte ich nichts mehr essen, viel zu aufgeregt, zu neugierig und gespannt bin ich auf das, was mich am heutigen Abend noch erwarten wird.

Seit dem Anruf hat mich eine latente Geilheit erfasst, die sich unterschwellig kribbelnd durch meinen gesamten Körper zieht.

Hoffentlich lässt Sir Allen mich hier nicht ewig warten!

Die Lindengasse ist eine Straße, die sich am Rand des Stadtkerns befindet, und ins Nichts führt. Der große Wendehammer an ihrem südlichen Ende liegt an einer kleinen Parkanlage, in der ich mich aufhalte.

Ich gehe auf und ab, setze mich auf die einzige Bank, springe wieder auf und wandere zwischen den Sträuchern und Schatten umher, bis ich erschrocken herumfahre, weil mich jemand anspricht.

„Setz dich“, verlangt der Hüne, der sich in einem von mir unbemerkten Augenblick auf der Bank niedergelassen haben muss.

Ich bleibe, wo ich bin, sehe ihn neugierig an.

Gar nicht so leicht im schummerigen Licht der Straßenlaternen – durch die Baumkronen und Sträucher kommt es nur gefiltert an.

Er ist groß, und das soll aus meiner Sichtweise schon etwas heißen, messe ich selbst doch 1,86 m. Seine Kleidung ist dunkel, die Hose, die sich um seine muskulösen Beine schmiegt, schimmert leicht, vermutlich ist sie aus Leder.

Er lehnt sehr lässig dort, hat den angewinkelten Arm seitlich auf die Rückenlehne der Bank gelegt, mustert mich ebenso intensiv wie ich ihn.

Ist das hier so etwas wie der erste, stumme Schlagabtausch?

Seine Haarfarbe ist dunkel, seine Augen kann ich nicht erkennen.

„Ich bin Ryan“, unterbreche ich schließlich die eigentlich angenehme Stille.

Jede Sekunde des Schweigens verstärkt meine Anspannung auf eine erregende, wohltuende Art.

„Setz dich, Ryan.“

Diesmal nicke ich und setze mich rechts von ihm auf die Bank, wende mich ihm ebenso zu wie er sich mir.

„Was erwartest du von diesem Treffen?“

Ich hebe kurz die Schultern, straffe mich dann und sehe ihn fest an. „Ich fürchte, das kann ich nicht in Worte fassen, weil ich schlicht nicht weiß, was genau auf mich zukommen wird.“

„Das war nicht meine Frage“, stellt er klar, und ich grinse schief.

„Stimmt. Also, was ich erwarte …? Ich erhoffe mir, dass ich herausfinde, ob mich nur blanke Neugier oder der echte Wunsch nach Dominanz zu meiner Annonce bewegt hat. Ich möchte herausfinden, ob ich mit dem Kontrollverlust leben, ihn als positiv und vielleicht sogar befriedigend erleben kann.“

Seine Augenbraue hebt sich skeptisch. „Du bist dir dessen nicht sicher?“

Mein Kopf schüttelt sich, bevor ich es verhindern kann. „Ist das schlimm?“

„Nein, nur ungewöhnlich. Obwohl ich zugeben muss, dass deine Anzeige nicht nach großartiger Erfahrung klang.“

Meine ich das nur, oder klingt er ein wenig abschätzig? Gefällt es ihm nicht, dass ich keine Erfahrung mitbringe?

„Ja, das ist wahr. Ich habe … Fantasien, aber nichts Konkretes“, bekenne ich und staune über meine Offenheit.

Ihm scheint sie zu gefallen, denn er lächelt angedeutet. „Bevor ich dich jetzt frage, ob du es konkreter willst, sollte ich dir erklären, wieso ich hier bin.“

„Das wäre nett. Ich meine, … Danke!“ Meine Worte brechen ab, es gibt einfach nichts, was ich dazu sagen sollte.

„Mein Name ist Allen. Meine Subs nennen mich ‚Sir Allen‘. Nicht ‚Herr‘, nicht ‚Master‘, sondern immer und ausschließlich ‚Sir Allen‘“, beginnt er und ich höre einfach zu. „Ich betreibe einen privaten Club nicht weit von hier, in dem Menschen, egal welchen Geschlechts, ihre Neigungen in den Bereichen Bondage und Disziplin, Dominanz/Submission und Sado-Masochismus aus- und erleben können.“

Ich nicke bedächtig, diese Information finde ich ausgesprochen spannend. Er ist also vom Fach und weiß offenbar, was er tut. Zumindest, wenn ich davon ausgehe, dass er keinen illegalen SM-Club betreibt …

Noch immer schweige ich.

„Deine Anwesenheit hier verrät mir, dass es dir mit deiner Annonce ernst ist, Ryan, deshalb werde ich diese Frage nicht stellen. Trotzdem sind einige andere Dinge zu klären, bevor ich von dir die Entscheidung verlange, mich zu begleiten oder nach Hause zu gehen.“

Seine ruhige, kühle Art gefällt mir, zieht mich irgendwie magisch an.

Vermutlich ist das meiner Neugierde geschuldet, aber das macht effektiv keinen Unterschied.

„Welche Dinge?“, will ich wissen, und lasse meinen Blick erneut über seine Gestalt wandern.

Allens Körperhaltung ist offen, seine ausgestreckten Beine, sein mir zugewandter Oberkörper, die lockere Haltung seiner Arme – nichts an ihm wirkt abweisend oder verschlossen.

Das schafft, so unwirklich diese Situation auch sein mag – eine Menge grundsätzlichen Vertrauens.

Obwohl er größer und entsprechend auch kräftiger als ich sein dürfte, erscheint er mir harmlos, nicht bedrohlich.

Und das, wo ich auf dem besten Wege bin, mich von ihm auf möglicherweise schmerzhafte Art unterwerfen zu lassen.

„Ich muss wissen, wie weit das gehen soll, was dir vorschwebt. Wieso suchst du einen Mann für diese Spielart?“

„Ganz einfach, ich bin schwul. Die Vorstellung, mich einer Frau auszuliefern, hinterlässt … Na ja, es … lässt mich total kalt, wenn du verstehst …“ Ich grinse schief.

Allen schürzt die Lippen und nickt bedächtig. Nur ganz kurz blitzte etwas Hungriges, Ungezähmtes in seinen noch immer undefinierbar gefärbten Augen auf. Er hat sich verdammt gut im Griff.

„Verstehe. Verbindest du Sex im Sinne von Verkehr mit deiner Fantasie?“

Sofort nicke ich heftig, wofür ich ein deutlicheres Lächeln ernte.

„Ist das nicht immer so?“, hake ich nach.

„Nein. Es gibt verschiedene Formen von Beziehungen zwischen Menschen in der BDSM-Szene. Neben den Paaren, die ihre Spielarten gemeinsam ausleben, gibt es viele, viele Paarungen, die nichts Romantisches verbindet.“

„Echt?! Irgendwie dachte ich bisher …“ Ich breche ab und schüttle den Kopf über meine eigenen Gedanken. „Schwachsinn, natürlich wusste ich, dass manche reine Zweckgemeinschaften sind. Aber irgendwie ging ich bislang davon aus, dass die sexuelle Komponente immer eine Rolle spielt.“

Allen mustert mich erneut lange, bevor er spricht. „Das ist auch so, aber Sex oder das Spiel mit der Lust eines anderen muss nicht zwangsläufig in einem Fick enden. Oftmals verschafft der Master seinem Sklaven auf gänzlich andere Art das, was er braucht.“ Er legt den Kopf leicht schräg, was auf mich sehr apart wirkt. „Hast du gedacht, du findest durch deine Annonce einen Mann, der dich ein bisschen quält und dich dann mehr oder minder rücksichtslos durchfickt?“

Ich hebe vorsichtig die Schultern. „Irgendwie schon, ja.“

Mein Bekenntnis lässt ihn abermals lächeln. Es ist tatsächlich ein Lächeln, kein fieses, geringschätziges Grinsen.

„Sorry, ich komme mir grad voll blöd vor“, murmele ich und senke den Blick.

„Das musst du nicht. Wer weiß, dass du heute hier bist und dich mit einem dir völlig Fremden triffst?“

Seine Frage irritiert mich, versetzt mich aber auch ungewollt in Alarmbereitschaft. „Niemand!“, versichere ich.

Allens Reaktion ist irgendwie nicht ganz das, was ich erwartet hätte.

Seine Miene verdunkelt sich schlagartig und die Muskeln in seinen Wangen bewegen sich, weil er seine Zahnreihen fest zusammenpresst.

„Verdammt, Ryan! Ist dir klar, dass es Typen gibt, die allein diese Tatsache eiskalt ausnutzen würden?“

„Öhm … Es war mir einfach nicht recht, irgendwem davon zu erzählen.“

„Weil?“

Ich hebe die Schultern unwillig. „Weil es mir peinlich ist, darüber zu sprechen. Immerhin weiß ich noch nicht, ob mir das wirklich gefällt.“

„Peinlich also“, resümiert er.

„Keine Ahnung, ja!“, meckere ich. „Mein bester Freund ist ziemlich … voreingenommen, was das Thema angeht.“

Das ist leider wahr. Mit Manni darüber zu sprechen, hätte bedeutet, mir endlose Diskussionen anzutun.

„Verstehe. Dennoch muss ich dir sagen, dass es wirklich abgrundtief dämlich und ziemlich blauäugig ist, ohne jedes Cover hier aufzutauchen, Ryan.“

„Cover?“

Nun lächelt er, vermutlich, weil ich mir wirklich saublöd vorkomme und wohl echt zerknirscht aussehe.

„Ein Cover kennt doch heute jede Mittelschülerin, dachte ich. Wenn man sich mit einem Fremden trifft, tut man das erstens an einem belebten Ort, niemals in einem Park oder gar bei ihm oder dir zu Hause. Zweitens sorgt man immer dafür, dass jemand weiß, was man vorhat, damit im Zweifelsfall wenigstens eine Person Bescheid weiß, wenn man … nun ja … verlorengeht.“

„Verlorengeht?!“

„Du dürftest wissen, wie oft Internetbekanntschaften oder Annoncendates schiefgehen.“

„Ja, stimmt“, bekenne ich und begreife zeitgleich, in was für eine heikle Lage ich mich in meiner Naivität gebracht habe.

„Dann hast du jetzt also begriffen, was du im Falle einer Wiederholung zu tun hast?“, hakt er nach und beruhigt sich endlich wieder.

„Ja.“

„Gut!“ Er seufzt und mustert mich. „Der Grund, weshalb wir dieses Gespräch führen, ist, dass ich momentan tatsächlich auf der Suche nach einem neuen Sub bin. Deshalb will ich dich natürlich kennenlernen und herausfinden, was dich letztendlich auf die Idee gebracht hat, dein Experiment zu wagen.“

„Neugierde. Wenn ich es recht bedenke, ist es wirklich Neugierde, die mich auch heute hergebracht hat. Ich will wissen, woher diese innere Sehnsucht kommt, das unbestimmte Gefühl, dass mir etwas fehlt, wenn ich Sex habe, wie ihn die meisten Menschen haben.“ Ich sehe wieder auf. „Und ich war sehr neugierig auf den Mann hinter der kompromisslosen Ansage am Telefon.“

Nun bin ich es, der lächelt. Vielleicht ein wenig verlegen, weil ich nicht daran gewöhnt bin, so offen zu sprechen.

Meine Gedanken zu kommunizieren ist neu für mich, bislang habe ich solche Ideen eben nur vor mir selbst rechtfertigen und erklären müssen.

„Neugierde kann fatale Folgen haben, Ryan. Haben sich noch andere auf deine Anzeige gemeldet?“

Ich schüttle bloß den Kopf.

„Hm, das wundert mich. Eigentlich ist so eine Annonce ein Freibrief für all die Irren da draußen …“ Wieder seufzt er tief, beinahe so, als wäre er es müde, dass naive Kerle wie ich überhaupt existieren. „Ein Freund gab mir die Seite der Zeitung gestern Abend nach einer Session und er hatte deine Kontaktanfrage eingekreist. Er weiß, dass ich seit Monaten auf der Suche bin, und dass ich Schwierigkeiten habe, den richtigen Spielgefährten zu finden.“

„Hast du?!“, entfährt es mir und mein Blick gleitet – diesmal eindeutig anerkennend – über seine auf der Bank hingegossene Gestalt. „Ich meine, du bist weder 100 noch unförmig oder unansehnlich! Müsste es für dich nicht ziemlich einfach sein, deine Attraktivität bei den potentiellen Subs auszuspielen?“

„So einfach ist das nicht. Weil es erstens nicht viele freie Subs gibt, die eine feste Partnerschaft im Sinne der Lust eingehen wollen, und weil ich gewisse Standards habe, was deren Äußeres angeht. Von ihrer Bereitschaft, wirklich genau das zu sein und zu tun, was ich verlange, einmal ganz abgesehen.“

„Klingt nach einer sehr schwer zu findenden Kombination“, denke ich halblaut vor mich hin.

„Allerdings.“

„Wie sehen deine Präferenzen aus? Ich meine, welche äußerlichen und inneren Attribute muss der für dich passende Sub mit sich bringen?“

Er lacht leise, es klingt ein wenig heiser und diese Tonlage fährt ohne Umwege direkt in meine Lenden. Ich schnaube auf, erschrocken von meiner körperlichen Reaktion auf ein simples Lachen und setze mich sofort anders hin.

„Nun, ich sage es mal so: Du entsprichst äußerlich – Körpergröße, Gewicht, Alter – durchaus dem, was mir vorschwebt.“

Klar, er hat meine Frage durchschaut und begriffen, dass ich im Grunde nicht die Beschreibung seines Traum-Sklaven haben wollte, sondern seine Einschätzung meiner Kompatibilität.

„Über den Rest zu urteilen, wäre fahrlässig und würde allem widersprechen, an das ich als Dom glaube.“ Er sieht auf ein paar Büsche vor uns.

„Dann … sollten wir den Rest vielleicht … äh … ausprobieren?“, schlage ich vor und staune über meine eigene Courage.

Wieder dieses Lachen, aber auch ein deutliches Nicken.

„Wenn du willst, nehme ich dich jetzt mit in den Club. Dort werden wir allerdings hauptsächlich reden und ich werde dir einige Dinge zeigen und erklären. Du entscheidest anschließend, ob du nach dem heutigen Abend jemals wiederkommen willst oder nicht.“

Sein Vorschlag klingt vernünftig, beinahe schon zu vernünftig, wenn ich meine stetig wachsende Erregung mit einberechne. Trotzdem spüre ich, wie eine Gänsehaut großer Aufgeregtheit meinen Schwanz schrumpfen und mein Unbehagen wachsen lässt.

„Ja, das will ich“, erkläre ich nichtsdestotrotz.

Ich blinzle, weil Allen sich im Bruchteil einer Sekunde aus dieser entspannten Haltung erhoben hat.

Er streckt mir eine Hand hin, und ich ergreife sie absurderweise.

Nun stehe ich ihm zum ersten Mal gegenüber und werde mir darüber klar, dass er locker zwei Handbreit größer sein muss als ich. Mein Kopf fällt in den Nacken, damit ich ihn ansehen kann.

Scheiße, das gefällt mir so gut! Ich meine, ich bin selbst groß und nicht gerade schmal, gehe ganz regelmäßig trainieren, was für mich als Motorradrennfahrer sehr wichtig ist.

Immerhin lebe ich davon, fit zu sein!

Als meine Augen wieder seine erreichen, fällt mir ein, dass er mir nichts über seine sexuellen Präferenzen verraten hat.

„Darf ich dich noch was fragen?“

Er nickt. „Sicher.“

„Wie ist es bei dir? Ich meine, bist du auch schwul?“

Sein leises, heiseres Lachen ist eigentlich schon Antwort genug, trotzdem fügt er hinzu: „Ja, bin ich. Hattest du diesbezüglich Sorge?“

„Keine Ahnung, es wäre jedenfalls irgendwie unpassend, wenn nicht.“

„Das ist wahr. Na gut, dann komm.“

Er lässt meine Hand nicht los, während wir durch ein paar schmale Fußwege gehen, die uns zu einem gepflegten, gut beleuchteten Hinterhof führen.

Nichts deutet darauf hin, dass sich hinter einer der umliegenden Fassaden etwas anderes als ein biederes Wohnhaus befindet.

Auch dann nicht, als wir vor der Tür zum Club stehenbleiben.

Wieder wendet Allen sich mir zu. „Bereit?“

Zur Antwort hebe ich die Schultern und ich schätze, er spürt meine zittrige Unsicherheit sehr deutlich an meiner Hand. „Ich … denke schon.“

„Gut. Dann willkommen im Club Right.“ Er schiebt die Tür nach innen und deutet hinein, sobald das Licht eines harmlos und geradezu nichtssagend wirkenden Flures aufflammt.

Ich trete ein, er folgt mir, diesmal hält er nicht länger meine Hand, wobei mir nun klarwird, wie gut mir dieser Kontakt getan hat.

Erst sein Fehlen erinnert mich an das Kribbeln, das die ganze Zeit über meine Haut gestrichen ist.

„Wo entlang?“

„Am Ende des Ganges nach links“, antwortet er und ich gehe weiter.

Dabei sehe ich, dass es hier durchaus noch andere Türen gibt. Fragend mustere ich ihn, als wir vor der richtigen Tür stehen. „Wohnen im Haus noch andere Leute? Wissen die, was hinter dieser Tür passiert?“

Er grinst mich an. „Das Haus gehört mir. Und nein, hier wohne nur ich, im Obergeschoss. Alle Räumlichkeiten im Erdgeschoss und Keller sind Teil des Clubs.“ Sein Deuten geht zu der Treppe, die neben der Tür zum Club nach oben führt.

„Verstehe.“

Wir gehen hinein und einmal mehr staune ich, weil hier nichts düster und bedrohlich wirkt.

Hätte ich irgendwie erwartet. Zumindest schummerige Ecken oder vielleicht ein gewisses Kerker-Ambiente.

Nichts davon gibt es hier.

Das Foyer des Clubs, das sich mir offenbart, ist größtenteils weiß gestrichen, eine schmale, hohe Empfangstheke, hinter der ein älterer Mann steht, ist ebenfalls weiß, jedoch in diesem modernen Vintage-Look. Das gebeizte Holz ist absichtlich auf Alt getrimmt. Geschmackvolle, aber durchaus eindeutige Fotodrucke an den Wänden bilden mit ihren Graustufen keinen farblichen Kontrast. Dafür sorgen allein die beiden gigantischen Gummibäume, die jenseits der Theke in den Ecken stehen und bereits unter der Decke entlangwuchern.

„Guten Abend, Sir Allen.“ Der Mann Mitte vierzig hinter dem Pult sieht mich neugierig an.

„Guten Abend, Sammy“, erwidert Allen, macht aber keine Anstalten, mich vorzustellen. Stattdessen tritt er an das Pult und sieht auf dessen Oberfläche. „Irgendwelche Änderungen seit vorhin?“

„Nein, alles beim Alten“, antwortet Sammy sofort.

Ich erlaube mir, ihn genauer zu mustern. Der Mann trägt, wie ich verblüfft bemerke, einen Anzug und wirkt eher wie der Empfangschef eines Edelrestaurants.

Allen nickt mir zu. „Komm!“

Sein Ton ist noch immer so freundlich wie draußen im Park.

Ich frage mich – begleitet von diesem erregten Kribbeln in meinem Magen – wie er wohl wirken und klingen mag, wenn er ernsthafte Befehle erteilt.

An das Foyer schließt ein Raum an, der an eine gemütliche, edle Kneipe erinnert.

Ich sehe mich neugierig um.

Die langgestreckte Theke, hinter der eine junge Frau in Latexkleidung steht, ist ebenso gebeizt wie Sammys Empfangspult, die runden, in lockerer Formation aufgestellten Tische, mit jeweils zwei bis vier bequem aussehenden Clubsesseln, sind daran angepasst.

Der Boden des Raumes ist mit einem diagonal verlegten Schachbrettmuster gefliest, an den Wänden gibt es weitere Sitzecken, die jedoch aus gepolsterten Rundsofas bestehen. Raumteiler oder Dekorationen, die mehr als Brusthöhe erreichen, sucht man vergebens, der Raum ist erstaunlich offen gehalten.

Allen steuert die Theke an, bestellt nach einem fragenden Blick auf mich zwei Colas und wendet sich anschließend zu einer der Sitznischen an der Wand um.

Ich folge ihm zwischen besetzten Tischen hindurch und bemerke ohne große Überraschung, dass der Clubbesitzer immer wieder gegrüßt und angesprochen wird.

Er wimmelt jedoch jeden ab, lässt sich nach einem Deuten auf die Nische nieder, und ich tue es ihm gleich.

Nun sitzen wir uns gegenüber und werden wohl das tun, was er vorhin ‚angedroht‘ hat – reden.

„In Ordnung, dies ist, wie du längst erkannt hast, die Bar des Clubs. Hier treffen sich die Mitglieder, um zu reden, sich zu Sessions zu verabreden und manchmal auch, um ihre Sklaven vorzuführen.“

Ich nicke verständig. „Ist ziemlich schön eingerichtet. Gefällt mir.“

Mein Lob nimmt er mit einem Lächeln hin.

Die Bedienung bringt unsere Getränke, dann sind wir mehr oder weniger allein.

Zuhören kann uns jedenfalls keiner, dazu ist die Musik, die aus versteckten Boxen durch den Raum wabert, zu laut. Auch wenn ich zugeben muss, dass sie in Wahrheit nicht sonderlich laut ist. Lediglich einen Tick lauter als Kaufhausmusik und auch vergleichbar ruhig von den Klängen her.

„Erzähl mir von dir. Was machst du beruflich, wie verbringst du deine Freizeit am liebsten und wer sind deine besten Freunde?“

Ich lasse mich ob dieser Fragenflut erst mal gegen die Rückenlehne sinken und grinse ihn an.

„Wow, das sind … viele Fragen!“

„Es ist keine Schikane, dass ich nach solchen Dingen frage, Ryan“, beruhigt er mich. „Wenn ich das tun soll, was dir vorschwebt, ist es ratsam, möglichst viel über deinen Alltag, über dich, zu wissen.“

„Schon okay, Allen.“ Ich mustere ihn und trinke einen Schluck, bevor ich zu reden beginne.

„Ich bin hauptberuflich Motorradfahrer. Rennfahrer. Vor drei Wochen aus Spanien zurückgekehrt mit einem neuen Vertrag bei meinem Stammteam. Der Beruf macht mir unendlich viel Spaß, weil ich das Zusammenspiel von Bodenverhältnissen, meiner Maschine und mir liebe. Geschwindigkeit, Geschick und gute Nerven brauche ich dafür. Als Ausgleich dazu verbringe ich die trainingsfreie Zeit mit meinen Bandkollegen von ‚Bad to the Bone‘. Wir sind eine fünfköpfige Rockband und spielen hier in der Gegend in kleinen Clubs und auf regionalen Festivals.“

„Interessant“, befindet er.

Ich schürze die Lippen. „Was davon?“

„Alles!“ Er lacht.

„Die anderen Jungs sind zugleich meine Freunde, wobei der Schlagzeuger Manni mein bester Freund ist.“ Ich pausiere und sehe ihn an. „Wolltest du noch etwas wissen?“

„Das war ein ziemlich guter Überblick, denke ich. Ist es okay, wenn ich dazu noch weitere Fragen habe?“

„Sicher!“

„Okay, dann wüsste ich gern, wie du dazu gekommen bist, Rennfahrer zu werden, und wie sehr das deine Zeit beansprucht.“

„Hm, das ist ganz unterschiedlich. Wenn ich nur die IDM mitfahre, bin ich von Mai bis Ende Oktober immer wieder unterwegs, im Winter trainieren wir meistens in Spanien, weil dort die Wetterverhältnisse beständiger sind. Dann bin ich mindestens zwei Monate weg.“

„Klingt anstrengend.“

Ich nicke. „Ist es, aber das Adrenalin entschädigt für alles. Du wolltest wissen, wie ich dazu gekommen bin … Na ja, ich wurde sozusagen entdeckt. Früher bin ich Motocross-Rennen gefahren, dann klassenweise immer höher aufgestiegen und nun fahre ich in der Superbike 1000er mit. Fährst du Motorrad?“

Immerhin, endlich eine Möglichkeit, auch mal eine Frage loszuwerden.

Er lächelt mich an und schüttelt den Kopf. „Ich habe zwar den Schein gemacht, aber ich besitze keine Maschine.“

„Wenn du mal fahren willst, sag Bescheid“, biete ich spontan an, weil ich es mir irgendwie cool vorstelle, mit ihm eine Tour zu machen.

„Hast du in letzter Zeit eine feste Beziehung gehabt?“

Diese Frage überrumpelt mich ein wenig, denn das sollte doch für unser mögliches Arrangement keine Rolle spielen, oder?

„Nein, seit Jahren nicht. Und du?“

„Die letzte ist ein halbes Jahr her.“

Ich nicke verstehend. „Weil du keinen passenden Sub mehr hast?“

Er schüttelt nicht den Kopf, nickt aber auch nicht. Stattdessen atmet er durch und lehnt die Arme auf den Tisch. „Es ist komplizierter.“

„Hm, das würde ich gern genauer wissen, wobei ich eigentlich generell gern mehr über dich wüsste. Ich meine, immerhin muss ich dir ja vertrauen können, für das, was mir so vorschwebt, richtig?“

„Damit sprichst du etwas an, was ich sowieso noch mit dir klären wollte.“ Sein Ton wird härter, was mir sofort den unmissverständlichen Ernst seiner Rede vermittelt. „Du warst ziemlich leichtsinnig, was deine Annonce betrifft, und noch viel mehr, was das Treffen im Park angeht.“

Meine Augen werden groß. „Wieso?“

„Was hättest du gemacht, wenn irgendein schwarzes Schaf dich dort aufgegabelt hätte?“

Ich hebe die Schultern. „Vermutlich wäre ich gerannt.“

Sein skeptisches Schnauben zeigt, wie wenig er von dieser Antwort hält. „Ryan, du kannst nicht wirklich derart naiv sein! Da draußen laufen eine Menge Typen herum, die auf solche Anzeigen hin denken, sie hätten Freibriefe für alles Mögliche! Und ich meine damit, dass die Szene, in der ich mich seit Jahren bewege, und der du so gern angehören möchtest, eine sehr, sehr illegale Seite hat!“

Oh! Ich sinke wieder gegen die Rückenlehne und bin einigermaßen ernüchtert. „Ich habe in irgendeinem Forum gelesen, dass es diese illegalen Spinner gibt, aber ich dachte, das sind eher Ausnahmen.“

„Leider nein. Es gibt viele Fälle von Freiheitsberaubung, Körperverletzung mit bleibenden Schäden und sogar Todesfälle durch unsachgemäß ausgeführtes BDSM. Da ist die Untersparte vollkommen egal. Diese Typen schrecken vor nichts zurück.“

„Todesfälle?!“ Verdammt, das kann er doch nicht ernst meinen! „Du willst mir Angst machen, oder?“

„Nein, das will ich nicht. Was ich will ist, dass du aufmerksamer und vor allem vorsichtiger bist. Deine Annonce war eine Art russisches Roulette.“

Ich schweige, muss das erst mal verdauen.

Sein Ton wird milder, dafür aber nicht weniger eindringlich. „Ryan, bitte! Ich meine das wirklich ernst. Ich bin gern bereit, dich in diese Szene einzuführen, sollte das schlussendlich dein Wunsch sein, aber wenn es um diese Dinge geht, musst du mir einfach vertrauen!“

Zögernd nicke ich. „Okay.“

„Gut.“ Er klingt erleichtert und seine Gestalt sinkt entsprechend ein wenig in sich zusammen. Er wirkt noch immer groß und erhaben, aber nicht mehr so erdrückend präsent wie eben noch.

„Ich … Tut mir leid“, sage ich kleinlaut und drehe das Colaglas auf dem Tisch um seine eigene Achse.

„Das muss es nicht. Es ist nur wichtig, dass du einem Fremden nicht blind vertraust. Du könntest de facto schon im Heck eines dreckigen Lieferwagens liegen, auf dem Weg zu einem illegalen Sklavenmarkt.“

Seine Worte lassen mich schaudern. „Ist okay, ich hab’s verstanden!“

Mein Ton ist schärfer als geplant, deshalb zucke ich schuldbewusst zusammen.

Allens Argusaugen bemerken jede meiner Regungen, das erkenne ich an dem Aufblitzen in seinen Iriden.

„Ich habe nie behauptet, dass du dumm seist.“

„Ich weiß, schon gut. Ich … bin offensichtlich kein guter Sub, wenn ich wegen einer freundlich gemeinten Warnung schon so hochgehe, was?“

Er lächelt. Allen lächelt!

Erstaunt beobachte ich ihn.

„Vielleicht gefällt mir genau das sehr gut.“

„Kannst du mir das erklären?“

„Sicher. Dass ich ein Dom bin, bedeutet nicht, dass ich von morgens bis abends an 365 Tagen im Jahr den Ton angeben will oder gar muss. Es bedeutet lediglich, dass es Zeiten und Situationen gibt, in denen ich ganz klar der Boss sein muss. Diese Zeiten beschränken sich jedoch auf Sessions – Spielzeiten – die klar als solche definiert sind und nicht in meinen sonstigen Alltag hineinspielen.“

Moment mal, was heißt denn das?

„Das bedeutet, du willst im Bett das Sagen haben, ansonsten ist dein potentieller Partner dir gleichgestellt?“

„So ähnlich.“

„Darf ich dich noch was fragen?“

„Nur zu.“

„Wie alt bist du?“

„Drei Jahre älter als du – 31.“

Das lässt mich lächeln, weil es mir gefällt.

„Hast du in den vergangenen Monaten viele Kandidaten für einen neuen Spielgefährten gehabt?“

„Mehrere“, sagt er undefiniert.

„Und warum waren sie letztlich unpassend? Ich meine, du sagst, es geht um die Sessions. Die müssten doch immer machbar sein, sofern du nichts schrecklich Exotisches verlangst, oder?“

Meine Gedanken überschlagen sich.

Diesmal zögert er deutlich länger mit seiner Antwort und sie kommt wohlformuliert über seine schönen Lippen. „Grundsätzlich hast du recht. Wenn es nur die Sessions betrifft, ist die Wahl einfacher. Und nein, ich verlange nichts Exotisches. Lediglich Hingabe und Gehorsam. Privat, also für mein persönliches Wohlergehen praktiziere ich hauptsächlich BD und D/s.“

Ich muss kurz über diese Abkürzungen nachdenken. Bondage und Disziplin und Dominanz/Submission …

Okay, das bedeutet dann wohl, dass er nicht gerade zur Daumenschraubenfraktion gehört.

„Das klingt wirklich recht human, würde ich so grundsätzlich behaupten … Also, nicht dass ich genau über die Einzelheiten Bescheid wüsste, aber dass du Sado-Masochismus ausklammerst, dürfte die Auswahlmöglichkeiten für dich doch erhöhen.“

„Das stimmt. Allerdings geht es mir nicht nur um Sessions.“

„Sondern?“

Er lacht kehlig. „Ein wenig naiv bist du wohl doch, Kleiner.“ Er seufzt. „Ich suche nicht nur jemanden, den ich disziplinieren oder unterwerfen kann. Aber das soll es zu diesem Thema nun auch gewesen sein.“

Oha, kapiert. Dieses Thema lasse ich dann wohl lieber auf sich beruhen.

„Kein Problem“, erwidere ich. „Tut mir leid, wenn ich zu neugierig bin. Das alles ist so spannend und ich will wirklich gern wissen, woran genau das liegt.“

„Dann werden wir jetzt austrinken und treffen danach Michael und seinen Sklaven im blauen Salon.“

Wow, das klingt super!

Meine Augen müssen leuchten, denn Allens Gesichtsausdruck wird wieder weicher. Möglicherweise gefalle ich ihm ja doch gut genug, damit er mich in diese fremde Welt einführt.

© Nathan Jaeger

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Published on November 05, 2021 16:49