Nathan Jaeger's Blog, page 5

November 18, 2021

[Making of] Trips Dragon

 [TD] Trips Dragon



Schreibzeit: ca. 6 Wochen

 Wörter: ca. 104.000

 Erscheinungsdatum: 8.9.2017


 Die Grundidee entstand am Ende von #Gefühlsbaustelle.

 Der nette Tätowierer Trip, der Joél wieder zu Flügeln verhilft, hatte sein eigenes Happyend verdient, fand ich. :)

Deshalb hat er es bekommen, und seine hohen Ansprüche haben es mir nicht leicht gemacht!

Sein Aussehen, sein Wesen, seine bevorzugten Männer und sein Alter waren festgelegt, bevor ich ahnte, dass ich über Elias Mellenbruch alias Trip jemals schreiben würde.

Trips ‘hohe’ Ansprüche und sein klares Beuteschema sind zugleich auch das Hauptthema dieser Geschichte, obwohl es durch das gleich doppelt auftauchende Thema der Traumabewältigung ergänzt wird.

 So hat hier nicht nur Trip seine eigene Stimme bekommen, sondern auch sein ‘Traummann’ Leopold von Siebenburg alias Poldi.

Außerdem gibt es da noch Merlo, der als Dritter im Bunde seine Stimme bekommen hat.

Ja, Ihr lest richtig.

In der ersten Fassung, die mir von Trips Dragon vorschwebte, war es eine Menage a trois.

Doch als ich die letzten Kapitel inhaltlich festlegen wollte (da hatte ich etwa ein Drittel fertig), bekam ich Magenschmerzen bei der Vorstellung, dass am Ende alle drei zusammen im Bett liegen.

 Es fühlte sich nicht gut an, nicht gerecht und nicht ... nun ja, Magenschmerzen halt.

Deshalb hat Merlos Vater Michael das ähnliche Aussehen wie Trip bekommen und Merlo durfte einen anderen Weg eingeschlagen.

 Seine Stimme hat er behalten, weil ich seine Geschichte an sich zu wichtig fand, um sie ersatzlos zu streichen und ihn zu einer Randfigur zu degradieren.

 Dazu hatte ich “den Kleinen” auch zu lieb gewonnen.

An dieser Stelle sei gesagt, dass ich damals, als Tyler auftauchte, vorhatte, ihm und Merlo ihre eigene Geschichte zu geben, aber das ist gar nicht zwingend nötig. Falls es jemals passieren sollte, wird es ganz sicher nicht an Euch vorbeigehen und als “dritte Gefühlsbaustelle” herausgebracht werden.

Letztlich drehte sich nun doch alles mehr um Trip und Leopold, die es wirklich nicht leicht haben, dauerhaft zueinander zu finden.

 Aber sie haben es geschafft, vielleicht, weil Leopold seine Vergangenheit doch noch loslassen konnte?

Lieder, die ich passend finde, sind in diesem Fall schwierig, weil ich gerade einfach keine dazu im Kopf habe.


Cover:

 Die Zeichnung des Drachen habe ich selbst gemacht, beim zeichnen hat Gerry mich geknipst, das Bild auf der Rückseite des Prints zeigt das fertige Bild, das in einer Verlosung Ende 2017 verschenkt wurde.

 Der Drache war irgendwie das logischste Bild, das ich finden konnte, zudem macht es mir Spaß, wenn ich hin und wieder wirklich die Ruhe und Muße finde, mich auf eine Zeichnung zu konzentrieren.


So, viel mehr fällt mir zu Trip und seinem Drachen gerade nicht ein. Falls Ihr aber Fragen habt, nur her damit! (Dazu sind die Kommentare ja da.)


Grüße aus dem Nähkästchen Euer Nat


#NatsNähkästchen

 #ausGründengeschrieben

 #TripsDragon

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Published on November 18, 2021 03:00

November 11, 2021

[Making of] Gefühlsbaustelle

 [GB] Gefühlsbaustelle



Wörter: ca. 125.000

 Erscheinungsdatum: 29.12.2016

 Schreibzeit: ca. 4 Wochen,

 allerdings gab es eine Vorversion, die da startete, wo die drei Jahre nach dem Unfall bereits rum waren, und in der ausschließlich Konstantin erzählt hat.

 Zwischen der Urfassung und dem Wort “Ende” unter der veröffentlichten Geschichte lag mehr als ein Jahr, in dem ich das Manuskript habe ruhen lassen.

 Die einzelne Sichtweise von Konstantin habe ich zugunsten einer längeren, ausführlicheren und hoffentlich besseren Story geändert.

Joél brauchte seine eigene Stimme, und ich habe sie ihm gern gegeben.

Die Grundidee war, eine Geschichte zu schreiben, die mehrere Themen kombiniert.

Trauer, Verlust, Kompromisse bis zur Selbstaufgabe, Familie, Zusammenhalt und der positive Abschluss mit Lebensabschnitten, um das Wieder-fliegen-Können.

Klingt danach, als wären das ein paar Themen zu viel, aber sie ließen sich wunderbar kombinieren - zumindest erscheint es mir nach wie vor so.

  Ich überlege gerade, welcher Song am besten zu der Geschichte passt. Ich denke, Evanescence ~ Bring me to life  (https://www.youtube.com/watch?v=96MiY...) ist schon sehr passend - aus Joéls Sicht.


Für Konstantin ist wohl Bon Jovi ~ I’ll be there for you (https://www.youtube.com/watch?v=mh8MI...) sehr passend. ♥ 

Natürlich gibt es viele, viele andere Songs, die man mit den zweien verbinden kann, aber dies waren die, an die ich denken musste. :)

Auch hier habe ich - für beide Charaktere - eigene Erfahrungen einfließen lassen. Das mache ich gern, weil ich damit natürlich auch immer irgendetwas für mich selbst verarbeite.

Der eine oder die andere hat mit Sicherheit auch längst gemerkt, dass meine Geschichten IMMER einen Unterton haben. Eine Moral oder eine globale Erkenntnis, manchmal auch in Form einer Kritik an der Gesellschaft.

Hier standen das Wiedererwachen nach der Trauer, eine neue Liebe, das Aufgeben sinnloser Beziehungskompromisse und der Mut, etwas Neues zu wagen, sich auf neue Gefühle einzulassen, im Vordergrund. 

Eine Beziehung zerbricht selten, weil nur einer die Schuld hat, meistens ist es eine gegenseitige Sache, die Frust, gebrochene Herzen und einen mehr oder minder wilden Schlussstrich zur Folge haben.

Manchmal nimmt einem das Leben aber auch durch einen unerwarteten, schrecklichen Unfall alles, an das man geglaubt hat.

In beiden Fällen erfordert ein Neuanfang unendlich viel Mut (oder Blauäugigkeit) und es ist dennoch wichtig, das Risiko einzugehen, um sich selbst keine Chancen zu nehmen.

Hier habe ich für die beiden Erzähler das Bild des einflügeligen Engels gewählt, was sich durch die Geschichte auch hoffentlich erklärt. ♥ 


 “Menschen sind Engel mit einem Flügel - um fliegen zu können, müssen sie sich umarmen”


In diesem Sinne - umarmt Euch!


Liebe Grüße aus dem Nähkästchen Euer Nat


#NatsNähkästchen

 #ausGründengeschrieben

 #Gefühlsbaustelle

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Published on November 11, 2021 03:00

November 6, 2021

[Leseprobe] Hardcore meets Blümchen

 Leseprobe

Le coeur d‘été

 

von

Nathan Jaeger


 

Der Urlaub

„Das ist echt mal wieder typisch! Alle gehen an den Strand und du sitzt lieber mit deinem Laptop im Hotel“, maulte sie mich an und stapfte hinaus, ohne auch nur auf meine Erwiderung zu warten.

Das tat sie zu Recht, denn ich hatte nicht vor, ihrem Ausbruch auch noch Bedeutung beizumessen. So war sie einfach, meine Schwester. Wieso sollte ich daran etwas ändern wollen?

Ich hatte den Blick nicht einmal vom Display meines Laptops erhoben, während sie losmeckerte, und widmete mich wieder meiner Konversation mit ‚JackintheBox‘ im Skype. Jack war cool, ich mochte ihn. Wir hatten uns vor Monaten über ein Technikforum kennengelernt, in dem ich eine absolut dämliche Frage zu meinem Desktop-PC gestellt hatte. Er war Admin dort und half mir, ohne sich erst einmal über meine Hardware-Unkenntnis totzulachen.

Zumindest glaubte ich das, denn er hatte ganz gelassen und ohne Hohn geantwortet und meinen PC vor einem Dauerschaden bewahrt. Ja, ich war schon immer ein DAU (Dümmster anzunehmender User), aber das machte mir nichts. Wenn ich Hilfe brauchte, wusste ich ja, wo ich sie finden konnte.

Jack und ich kamen in näheren Kontakt, tauschten Messengerdaten und unterhielten uns oft via Headset und Internettelefonie.

„Mann, deine Schwester nervt echt“, drang seine Stimme nun über die Kopfhörer zu mir. Ich grinste.

„Ja, tut sie, aber immerhin belässt sie es beim Meckern.“

„Besser so.“

„Wenn meine Eltern wüssten, dass ich den von ihnen spendierten Urlaub im Hotelzimmer verbringe, würden sie durchdrehen. Zumindest, wenn ich ihn mit meinem Lappi verbringe …“

Jack lachte. „Du meinst, mit einer Urlaubsbekanntschaft und ohne Lap wäre es ihnen recht?“

„Absolut.“

„Dann wäre es wohl besser, du suchst dir jemanden.“

Ich lachte nervös auf. „Klar doch, wo ich ja so ein kontaktfreudiger Mensch bin. Never!“

„Ich mein’s ernst, übrigens … das W-Lan funktioniert auch auf der Sonnenterrasse.“

Ich stutzte. Was hatte er da grade gesagt? Eine seltsame Mischung aus Angst und Vorfreude kroch in meinen Magen und brachte einen Schweißausbruch mit sich.

„Was meinst …?“, fragte ich endlich.

„W-Lan? Das solltest du aber mittlerweile kennen. Wie würdest du ohne den Hotspot des Hotels denn sonst mit mir reden können?“

Ein weiteres nervöses Lachen. „Ja, schon klar, ich meinte das andere …“, murmelte ich und war mir plötzlich nicht mehr sicher, ob er wirklich von der Sonnenterrasse dieses Hotels gesprochen hatte.

„Nuscheln ist uncool! Falls du es beim Einchecken nicht bemerkt hast: Das Hotel hat eine Sonnenterrasse und da wirst du mit Sicherheit auch Internet haben.“

Ich schluckte noch einmal, dann klappte ich den Laptop zusammen, der dank Jacks Hilfe nicht mehr in Stand-by ging, wenn ich das tat, und marschierte zur Zimmertür.

„Na gut, wenn du meinst“, sagte ich und verließ in Shorts, T-Shirt und Flip-Flops mein Bollwerk der schattigen Ruhe. „Solange ich dich in der Leitung habe, brauche ich ja mit niemandem zu reden …“

Er lachte fröhlich auf und hatte ein paar beruhigende Worte für mich, während ich mir den Weg durch das Hotel zur Terrasse am Pool bahnte.

Als ich dort ankam, wurde es schwer, ihn noch zu verstehen. Die Geräuschkulisse in der Nähe des riesigen azurblauen Schwimmbeckens war enorm. Ich suchte mir einen möglichst weit vom Kindergeschrei entfernten Tisch. Er war weiß und hatte einen Sonnenschirm in der Mitte. Trotzdem würde ich auf dem Display des Laptops nichts erkennen können, also ließ ich ihn zugeklappt und seufzte auf, nachdem ich mich auf einen der Stühle gesetzt hatte.

„Mann, ich verstehe dich immer noch voll schlecht, Jack!“, jammerte ich und drehte den Lautstärkeregler am Headsetkabel weiter auf. „Hier sind so viele Menschen, ich mag Menschen nicht!“

„Du wirst es schon überleben. Ich muss kurz AFK, hältst du es drei Minuten aus?“

Sein beinahe besorgter Ton war zugleich irritierend und angenehm. Ich musste echt jämmerlich geklungen haben. „Ja, kein Problem, lass dir Zeit“, sagte ich, um das letzte Fünkchen meiner Selbstachtung zu behalten.

Jack war der Einzige, der von meiner Abneigung gegen Menschen im Allgemeinen und meiner Angst vor Menschenmengen im Besonderen wusste. Niemals hatte ich jemand anderem davon erzählt. Gesegnetes Internet, es hatte mir mit seiner anonymen Kommunikation neue Welten eröffnet.

Ich lehnte mich zurück, gab mir Mühe, mich zu entspannen und sah dem lauten, chaotischen Treiben am Pool zu. Die drei Minuten waren längst rum, oder nicht?

Ich klappte hektisch den Laptop auf und versuchte zu erkennen, ob die Verbindung über Skype noch bestand. Ich atmete erleichtert auf, die Leitung war nicht tot, Jack war nur noch nicht zurückgekommen. Ich drückte das Display wieder herab und lehnte mich mit vor der Brust verschränkten Armen zurück in den Stuhl. Ein Lächeln glitt über mein Gesicht, ich dachte an Jack – naja, an wen auch sonst?

Wir unterhielten uns seit Monaten, manchmal, eigentlich an jedem Wochenende, lief die Skype-Verbindung vom Aufwachen bis zum Einschlafen, nur unterbrochen von den Mahlzeiten und Badezimmerbesuchen.

Jack war zu einem festen Bestandteil meines Lebens geworden, ohne dass ich ihn jemals persönlich getroffen hätte. Ich kannte genau ein Foto von ihm, auf dem er eine alberne, viel zu große Sonnenbrille in Pink und einen Strohhut mit einem kompletten Obstkorb darauf getragen hatte, und seine Stimme. Mehr nicht. Und trotzdem war er mir näher als irgendein anderer Mensch auf diesem Planeten.

Ich seufzte und dachte daran, wie schwer mir die letzten Wochen des Schuljahres gefallen waren. Lästig, nervtötend. Während des Unterrichts konnte ich schließlich nicht telefonieren. Aber das ging ihm wohl genauso, denn wann immer ich aus der Schule nach Hause kam und den PC hochfuhr, wartete er schon im Skype auf mich.

Ich schluckte. Eine warme Welle durchlief mich, dann berührte mich jemand an der Schulter und ich schrie erschrocken auf, während ich herumfuhr.

Für Gemecker oder eine scharfe Zurechtweisung fehlten mir die Worte. Ich hasste es, angefasst zu werden, noch dazu von Fremden.

„Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken“, sagte mein Gegenüber, nachdem es um meinen Stuhl herumgekommen war. Ich sah zu ihm auf.

Er war groß, trug Badelatschen, Schwimmshorts und eine Sonnenbrille. Sein dunkles Haar stand wirr in alle Richtungen und, das musste ich zugeben, er gefiel mir.

„Schon okay, solange es nicht noch einmal vorkommt“, brummelte ich und dachte, das Gespräch sei damit beendet. Deshalb lauschte ich weiterhin auf die statische Stille in den Kopfhörern und wandte mich ab. Wann kam Jack denn endlich zurück?

„Störe ich?“, fragte der Typ und setzte sich ungefragt auf einen der freien Stühle.

„Um ehrlich zu sein: ja. Ich bin beschäftigt“, gab ich zurück und sah wieder in eine andere Richtung.

„Weißt du, bisher dachte ich, dein Menschenhass sei, zumindest zum Teil, eine Masche …“

„Wie bitte?“, fragte ich verdattert und zog langsam das Headset herab, bis der Metallbügel in meinem Nacken lag.

„Naja, ich dachte, so schlimm wird’s schon nicht sein, aber offensichtlich fühlst du dich hier wirklich unwohl.“

„J-j-j-jack?“, stotterte ich und blinzelte.

„Richtig.“ Er nickte übertrieben und sein Lächeln wurde breiter.

„Wie …? Ich meine, …!“, begann ich und merkte selbst, dass ich gerade das idiotischste Gestammel meines Lebens von mir gab.

„Nachdem du mir erzählt hattest, wie euer Hotel heißt, habe ich meinen Vater überredet, mir zur Feier meiner Noten einen Urlaub zu spendieren.“

„Aha“, machte ich und fluchte innerlich.

Er lachte. „Hey, komm mal wieder auf den Teppich, wir kennen uns jetzt seit fast einem halben Jahr und ich bin nicht ganz so fremd wie der Rest hier.“

Ich nickte zögerlich. Er hatte ja recht! „Dann … bist du meinetwegen hierher gekommen? Einfach so?“

„Wegen dir, ja, einfach so, nein. Ich wollte dich kennenlernen. Ich meine, so richtig.“

Klang toll, fand ich, aber gleichzeitig tobte in mir ein Orkan an Widersprüchlichkeiten. Allen voran Angst und Zweifel, dicht gefolgt von Freude und dem schleichenden Gefühl, den Verstand verloren zu haben.

Ich ertappte mich dabei, verblödet in seine Richtung zu grinsen und nahm die Sonnenbrille ab. Wenn er mir schon gegenübersaß und nicht wie sonst hunderte Kilometer entfernt vor einem anderen Computer, wollte ich ihn auch richtig ansehen können.

Er tat es mir gleich und legte seine Sonnenbrille vor sich auf den Tisch. Das strahlende Grün seiner Augen ließ mich tatsächlich kurzfristig vergessen, dass ich mich in der Öffentlichkeit befand. Jacks Blick bohrte sich tief in meinen und ich starrte mit offenem Mund zurück.

„Kennenlernen …“, brachte ich hervor. „Dann aber ganz von vorn.“

Er runzelte die Stirn, bis sie in Dackelfalten lag. Sexy, dachte ich. Jack, alias JackintheBox, war gnadenlos sexy.

Als er abwartend schwieg, streckte ich meine leider fürchterlich zittrige Hand über den Tisch und sagte: „Salut, ich bin Julien Ledoux.“

Die Falten auf seiner Stirn verschwanden, während er meine Hand nahm und sie leicht schüttelte. „Salut, ich bin Jacques Beauchamps. Da wir das nun geklärt hätten, was hast du heute noch vor?“

„Ach nein, mein Brüderchen hat es endlich geschafft, aus dem Zimmer zu kommen und auch gleich noch jemanden kennengelernt?“

Hastig zog ich meine Hand aus Jacks zurück und versuchte, meine Schwester im Wirrwarr rund um den Pool zu erkennen.

„Yvette“, zischte ich und hoffte, dass sie schnell wieder abhauen würde. Immerhin hatte sie in weiser Voraussicht ihre beste Freundin Chantal mitgenommen, weil ihr langweiliger Bruder kein geeigneter Urlaubspartner war.

„Bleib ruhig“, sagte Jack und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

„Salut, ich bin Yvette. Willst du deinen Urlaub wirklich mit diesem Langweiler verbringen?“, fragte sie Jack und ich spürte, wie ich zuerst rot anlief und dann zusammensank. Yvette hatte ja recht. Ich war ein Langweiler, noch dazu ein Menschenfeind und ganz sicher das absolute Gegenteil von einem Partylöwen. Trotzdem, dieses miese Verhalten von ihr …

„Das“, begann Jack und lächelte meine Schwester nonchalant an. „… ist allein meine Sache.“

Wow, niemand fertigte meine Schwester so ab, immerhin arbeitete sie nach der Schule als Model! Doch Jack tat es und ich blinzelte, bevor ich ihre Reaktion beobachtete.

„Wie du meinst“, erwiderte sie schnippisch und sah sich höchst betont nach Chantal um, die soeben auf unseren Tisch zukam.

„Salut Julien, salut Fremder“, grüßte sie und reichte Yvette ein Glas mit eisgekühlter Cola.

„Salut“, sagten Jack und ich stereo, dann nahm ich meinen Laptop, zog das Headset vom Hals und verstaute beides unter dem Arm.


 

© Gerry Stratmann / Nathan Jaeger / Gay-fusioN GbR Zurück zur Hauptseite 'Gay-fusioN'

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Published on November 06, 2021 10:25

[Leseprobe] Valentine Spiel 2 - Ungewolltes Leid

 Leseprobe



~ Wurstaufholen ~

Mann, wie lange ist es her, dass ich zuletzt durch meinen Hunger geweckt wurde?

Ich richte mich hastig auf, werfe einen Blick zum Wecker und verharre perplex, weil mir klar wird, dass es bereits acht Uhr morgens sein muss.

Ich habe Kilian mit meinen schnellen Bewegungen geweckt.

„Hey, was ist los?“, fragt er und ich wende den Kopf zu ihm.

„Entschuldige, Löwenherz, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich bin voll hungrig und grad ziemlich abrupt aufgewacht. Guten Morgen.“ Ich lächle ihn an und schiebe danach die Beine vom Bett.

„Guten Morgen, Wölfchen. Hunger nennst du das? Bei mir heißt so was Kohldampf. Ich weiß gar nicht warum, aber aus irgendeinem Grund ist das Abendessen ausgefallen.“ Sein breites Grinsen verleitet mich beinahe dazu, wieder aufs Bett zu krabbeln und ihn ohnmächtig zu knutschen, aber die Natur ruft mich vehement in Richtung Badezimmer.

Ich schaffe es nicht einmal, nach der Erledigung gewisser Geschäfte wieder zu ihm zu gehen, da er mir in der offenen Badezimmertür gegenübersteht.

„Oh! Ich wollte dich grade vernaschen kommen“, albere ich.

Er lacht fröhlich. „Mir war, als hättest du das gestern sehr gründlich getan“, erwidert er und schiebt mich sacht beiseite, um ins Bad zu gehen.

„Ich zieh mir was über, dann mache ich Frühstück!“, erkläre ich noch, bevor er die Tür schließt und ich mich trolle.

Minuten später habe ich den Tisch bereits gedeckt, Aufstriche und Beläge dazugestellt, und die Brötchen in den Ofen geschoben.

Nun belohne ich mich mit einem Becher Kaffee und meiner Morgenzigarette auf der Terrasse.

Kilian kommt dazu und zieht mich erst mal zu einem anständigen Guten-Morgen-Kuss an sich, bevor er seinen Kaffeebecher nimmt und einen großen Schluck trinkt.

„Heute ist Wurstaufholen“, erinnert er mich.

„Oh, stimmt ja!“ Ich grinse. „Ich glaube, seitdem wir aus Weidenhaus weggezogen waren, habe ich das Lied nie wieder gesungen. Eigentlich schade.“

Er nickt. „Ich spreche ja nun auch sehr wenig Weidenhäuser Platt, aber dieses Lied muss einfach sein, vor allem, wenn man sich beim Wurstaufholen nicht blamieren will.“

„Du machst mir Mut …“, befinde ich halbernst.

„Ach, nach spätestens zwei Stationen hast du es wieder im Kopf“, versucht er mich zu beruhigen.

Der Kurzzeitwecker für die Brötchen piept.

„Los, ich hab mordsmäßigen Hunger, wenn ich nicht gleich was zu beißen bekomme, falle ich tot um!“, verkünde ich und stehe auf, sobald ich mich aus Kilians Arm und der Flauschdecke gewunden habe.

Beim Frühstück entscheiden wir, dass wir unter den Häkelwesten unseres Karnevalkostüms dicke Fleece-Pullover anziehen, damit wir nicht erfrieren.

Es sind zwar keine Minusgrade mehr, aber wirklich warm geht anders.

Entsprechend verkleidet fahren wir gegen zehn Uhr mit den Fahrrädern zum Treffpunkt. Unsere erste Station ist das Haus von Konstantin und Joél in der Weberstraße.

Laut Kilian dauert das Sammeln aller Cliquenmitglieder immer bis elf Uhr, so dass wir bei unseren Freunden erst mal unsere Räder parken und in der Wohnküche der zwei auf ein paar andere Gestalten treffen.

Alle sind verkleidet und wir werden mit lautem Hallo begrüßt – na gut, am heutigen Tag begrüßt man jeden mit ‚Helau!‘.

Die ersten Schnäpse und Bierflaschen werden verteilt.

Da Joél frei hat, haben Konstantin und er beschlossen, die erste Station zu bilden, damit sie anschließend mitgehen können.

Der große Bollerwagen, an dem Luftballons, Luftschlangengirlanden und an einem dicken, festgebundenen Pfosten auch ein Schild mit der Aufschrift ‚Wurstaufholen 2020‘ befestigt sind, ist bereits mit mehreren Kisten Bier und einer Kühlbox voller Likörflaschen bestückt. Becher und Pinnchen sehe ich auch in dem Vehikel.

„Wer soll dieses Monster eigentlich nachher ziehen?“, erkundige ich mich ahnungslos und ernte Lachen aus mehreren Richtungen.

„Wir wechseln uns ab, aber meistens ziehen zwei zusammen. Der Griff ist breit genug und jeder hat eine Hand frei für sein Bier“, erklärt Konstantin fröhlich, während er seine quietschgrüne Perücke noch einmal geraderückt.

Er und Joél sind als Joker aus Batman verkleidet, beide in der verwaschen geschminkten Version von Heath Ledger.

Sie sehen ziemlich cool aus!

Gegen halb zwölf sind wir endlich unterwegs. Ich bin schon jetzt sehr dankbar für das ausgiebige Frühstück, das Kilian und ich noch in Ruhe genießen konnten.

Sonst wäre ich vermutlich bereits hackestramm, um es vornehm auszudrücken.

Die Schlagzahl in Sachen Bierflaschen lässt auf den Fußwegen zwischen den Stationen etwas nach, aber da wir an jedem Haus, das zu unserer diesjährigen Tour gehört, einen neuen Bierkasten bekommen – zusätzlich natürlich das, weshalb man diese Tradition ‚Wurstaufholen‘ nennt – ist die Gefahr eines Vollrausches durchaus gegeben.

Wir sind gerade bei den Eltern von Miriam angekommen, und trällern erneut das traditionelle Lied auf Weidenhäuser Platt.

Aus allen Kehlen erklingt:

„Frao, goa noan Schostien, dor hang de lange Woste,

geev mei de lange, un lott de korte moar hange!

Frao geev mei dit, Frao, geev mei dat,

Frao, geev mei ’n Stück van denn Puggenstatt!“

Irgendwie brechen wir danach ab, obwohl es eigentlich noch zwei weitere Strophen gibt.

Miris Mutter Geli lässt sich darauf aber nicht ein.

„Was denn? Seid ihr schon fertig?“, fragt sie auffordernd und wir lachen, bevor wir weitersingen.

„Frao, goa noat Eiernüst, dor legg de Eier sesse,

geev mei de fieve un lott dat eene moar blieve!

Frao, geev mei dit, Frao, geev mei dat,

Frao, geev mei ’n Stück van denn Puggenstatt!

Lot mei nee so lange stoon,

ik mut no ’n Hüsken wieder goon.

Frao, geev mei dit, Frao, geev mei dat,

Frao geev mei ’n Stück van denn Puggenstatt!“

Nun ist sie zufrieden, und ich könnte mich noch immer über diesen herrlich seltsamen Text kaputtlachen.

Frau, geh zum Schornstein, da hängen die langen Würste,

Gib mir die lange und lass die kurze mal hängen.

Frau, gib mir dies, Frau, gib mir das,

Frau, gib mir ’n Stück vom Schweineschwanz

Frau, geh zum Hühnernest, da liegen der Eier sechse,

gib mir die fünfe und lass das eine mal bleiben.

Frau, gib mir dies, Frau, gib mir das,

Frau gib mir ’n Stück, von dem Schweineschwanz.

Lass mich nicht so lange stehn,

ich muss noch ein Häuschen weiter gehn,

Frau, gib mir dies, Frau, gib mir das,

Frau, gib mir ’n Stück, von dem Schweineschwanz.

Wer pinkeln muss, nutzt die Gelegenheit jeweils an der aktuellen Station, und wir bekommen, wie es sich gehört, immer mehrere luftgetrocknete Mettwürstchen und meistens einen Zehnerkarton mit hartgekochten Eiern.

Es macht mir einen Heidenspaß, so durch halb Weidenhaus zu streifen. Vor allem, weil wir in ständig wechselnden Grüppchen ganz in Ruhe beim Gehen quasseln, uns erzählen, wie die gestrigen unterschiedlichen Partys waren, von den verrückten Kostümen berichten, die wir so gesehen haben, und natürlich reden wir auch über unseren morgigen Cliquenausflug zum Rosenmontagszug.

Gegen 18 Uhr trudeln wir vollkommen erledigt wieder bei Konstantin und Joél an der Weberstraße ein, wo zu meinem Erstaunen kein dunkel daliegendes Haus, sondern ein hell erleuchteter Garten auf uns wartet.

Verblüfft sehe ich Kilian an, der, seit unserem Rückweg von Birtes Eltern hierher, konstant meine Hand gehalten hat.

„Wer hat denn hier alles vorbereitet?“, frage ich, kaum dass wir durch das Tor im Zaun zum jenseitigen Teil des Hauses gegangen sind.

Konstantin, der meinen Ausruf offensichtlich gehört hat, kichert. „Joéls und meine Familie. Sie haben hoffentlich auch schon den Grill angeworfen.“

Das haben sie tatsächlich, denn nur wenig später zieht der Duft von Fleisch und gegrilltem Gemüse durch den Garten.

Ein Zelt, das hinter einem großen, ausladenden Kirschbaum steht, nimmt uns alle auf. Es ist wärmer darin, als ich vermutet hätte.

„Die zwei haben einen ultraschönen Garten“, verrät Kilian mir und nickt zur hinteren Zeltwand. „Da gibt es einen riesigen Schwimmteich, an dem sich im Sommer gern mal die halbe Clique tummelt.“

„Echt? Das ist ja cool! Dann müsst ihr nicht ins Freibad?“, hake ich nach. Mir ist durchaus bewusst, dass so ein privater Pool deutlich angenehmer für all diejenigen sein dürfte, die gleichgeschlechtlich orientiert sind. Immerhin ist hier nicht mit Anfeindungen zu rechnen.

„Nope, müssen wir nicht. Du auch nicht!“, versichert Joél mir grinsend, als er sich zu uns setzt und einen Teller mit aufgeschnittener Mettwurst vor uns abstellt.

„Darf ich mir den Garten mal ansehen?“, frage ich und er nickt sofort.

„Klar darfst du! Die ersten Sachen vom Grill sind gleich fertig, so langsam brauche ich ein wenig mehr Grundlage, auch wenn ich keinen Tropfen Alkohol hatte.“

Verwundert sehe ich Joél an, dann die Flasche Radler in seiner Hand. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ‚Alkoholfrei‘ darauf steht, und er den gesamten Tag über weder Schnaps noch anderes Bier getrunken hat.

„Du trinkst nicht?“, hake ich nach.

Er lächelt auf eine irgendwie traurige Art und ich bemerke, dass Kilian sich neben mir verspannt.

Was habe ich verpasst?!

„Mein Freund und mein bester Freund sind vor einigen Jahren bei einem Verkehrsunfall unter Alkoholeinfluss gestorben“, sagt Joél ruhig und ich spüre augenblicklich, wie kalt meine Wangen werden.

„Oh, shit! Tut mir leid!“, bringe ich hervor und schlucke trocken.

„Alles gut, Wolf. Dank Konstantin hab ich es überwunden, aber Alkohol bleibt für mich ein No-Go. Vielleicht auch, weil ich ständig Leute zusammenflicke, die wegen der Sauferei in Schwierigkeiten geraten sind.“ Er legt mir eine Hand auf die Schulter und drückt beruhigend zu.

„Dann muss es ja furchtbar für dich sein, uns alle trinken zu sehen“, murmele ich noch immer betroffen.

„Er trägt es mit Fassung“, erklärt Konstantin, der sich neben Joél auf die Bank sinken lässt.

Beruhigt mich das? Ich sehe auf meine Bierflasche und es fühlt sich seltsam an, in Gegenwart von Joél davon zu trinken.

Er scheint das zu bemerken, denn er sagt: „Wehe du hörst deshalb jetzt auf!“

Da er und Konstantin ebenso grinsen wie Kilian, entspanne ich mich ein wenig.

„Aber lass dich nicht erwischen, dass du wegen einer Alkoholvergiftung gerettet werden musst“, setzt Joél schalkhaft hinterher und sein Lachen steckt mich an.

„Okay, dann … würde ich jetzt gern den Rest vom Garten sehen und den Grill überfallen.“

Kilian erhebt sich, ich folge ihm und stehe Augenblicke später mit riesigen Augen vor der geilen Poollandschaft von Konstantin und Joél.

„Das ist ja der Wahnsinn!“, sage ich und deute zu dem Wasserfall, der aktuell für die einzigen Wasserbewegungen sorgt.

„Ich hätte gedacht, dass im Winter kein Wasser darin ist“, überlege ich laut.

„Der Whirlpool ist leer, aber das Becken selbst muss weiterlaufen, weil der Filterteich oben neben dem Haus sonst nicht arbeiten kann“, erklärt mein Freund und ich mustere ihn erstaunt.

„Woher weißt du so was?“

Er grinst ertappt. „Ich habe vor etwa zwei Jahren die gleiche Frage gestellt, und mich aufklären lassen.“

„So, so!“, erwidere ich und lehne mich in seinen Arm. „Dann danke ich dir für die erhellenden Worte.“

Ich strecke mich, um ihn zu küssen.

Nach dem folgenden, sehr ausgiebigen Kuss gehen wir Hand in Hand zum Grill und dem dort stehenden Hünen.

„Na, Jungs? Knutschen macht hungrig, was?“

Kilian lacht laut auf. „Klar, dass du das wieder spitzgekriegt hast, Henning!“

Ah, nun weiß ich immerhin schon mal, wie der Schrank heißt und grinse frech zurück.

„Na, was? Knutschen ist auch eines von Petras und meinen Hobbys, sei dir sicher!“, erläutert er und lacht ebenfalls.

„Wolf, das ist Henning, der beinahe unangefochtene Grillmeister von Joéls Familie.“

„Nur beinahe?“, frage ich und strecke ihm die Hand hin. „Hallo, freut mich!“

Henning nickt, ergreift meine Hand und blickt mich leidend an. Der Schalk blitzt aus seinen Augen. „Wenn Joéls Vater oder mein Bruder Robin es darauf anlegen, müssen wir um den Platz hier kämpfen, aber die zwei haben es heute vorgezogen, mir das Feld zu überlassen.“

„Na, dann lass mal sehen, was du für unsere leeren Mägen zu bieten hast“, sagt Kilian und wenig später kehren wir mit Würstchen, Steak und Salaten auf unseren Tellern zurück ins Zelt.

Die Salate haben wir uns aus der Küche geholt, in der ein nettes Büffet errichtet worden ist.

Dort habe ich auch andere Verwandtschaft von Joél und Konstantin getroffen, und fühle mich seit langem zum ersten Mal richtig sauwohl und vor allem sicher, obwohl ich nicht in Kilians Armen liege.

Klar, auch bei Holtkamps ist es toll, aber das Haus von Kilians Freunden scheint mit der großen, total lieben Familie eine Art Refugium für Schwule zu sein.

Vor allem, wenn ich bedenke, dass wir aktuell immer wieder von beschissenen, feigen Übergriffen auf Schwule in Weidenhaus hören.

Im Laufe des Abends essen, trinken, lachen und albern wir mit unserer sagenhaft tollen Clique und haben endlos viel Spaß.

Erst nach Mitternacht machen Kilian und ich uns auf unseren Fahrrädern auf den Heimweg.

~*~

Ich sitze an meinem Laptop im Esszimmer – das hat sich seit Kilians Malexzessen so eingebürgert – und arbeite an meiner Datei.

Nachdem ich es mühsam geschafft habe, auch den unschönen Rest zu lesen, ist mir aufgefallen, dass ich trotz der Beschreibung des Umzugs hierher, noch nicht ganz mit der Geschichte abschließen konnte.

Erst als ich irgendwann abends auf dem Sofa an Kilian gekuschelt dalag, ist mir aufgegangen: Kilian fehlte.

Alles, was ich seit meinem Umzug erlebt habe, fehlte.

Das Glück, das ich seitdem erfahren habe, fehlte.

Deshalb habe ich die vergangenen Tage genutzt, und alles nachgetragen, was bis heute passiert ist.

Natürlich nicht minutiös jede Begebenheit – der letzte Eintrag ist der Rosenmontag mit unserer Clique.

Das liegt nun eine Woche zurück und momentan sitze ich hier, um noch einmal alles von vorn zu lesen.

Irgendwie hat mich beim Versuch der Wunsch gepackt, noch ein wenig mehr Struktur in die Sache zu bringen, deshalb gibt es nun Titel für die einzelnen Abschnitte, die bisher nur ‚Kapitel‘ hießen.

Verrückt, mehr und mehr wird mein Bericht zur Vergangenheitsbewältigung zu einer Art Buch …

Aber ich denke, so langsam kann ich es auch gut sein lassen. Was ich noch erzählen müsste, weiß ich beim besten Willen nicht. Deshalb erkläre ich die Datei für geschlossen, sobald ich die Struktur ein letztes Mal überarbeitet habe.

Okay, nun also noch mal auf den Kindle damit, und dann werde ich den heutigen Abend damit verbringen, alles am Stück nachzulesen.

Hoffentlich hilft es und hoffentlich ist das ganze leidige Thema dann vom Tisch!

Es widerstrebt mir nämlich von Tag zu Tag mehr, mit irgendjemandem darüber zu reden.

Schon gar nicht mit Kilian, der, durch die voranschreitenden Ermittlungen und unsere ziemlich glückliche Beziehung, endlich etwas Aufwind zu erleben scheint.

Ich grinse verzückt vor mich hin, nachdem ich den Laptop heruntergefahren habe.

Ein Blick zur Uhr, in ein paar Minuten wird er hier sein, der Mann, der mein Leben so grundlegend verändert hat.

Verrückt ist es nach wie vor, teilweise sogar unglaublich, aber offensichtlich ist es dennoch wahr.

Während ich mir einen Hoodie schnappe, um draußen eine rauchen zu gehen, denke ich über die neue Dimension dessen nach, was Kilian und ich in der Horizontalen so treiben.

Das schiefe Grinsen, das sich sofort um meinen Mund legt, sagt im Grunde schon alles.

Es ist endlos geil, mit ihm zu schlafen!

Nie hätte ich erwartet, dass eine so oft, zu so unterschiedlichen Gelegenheiten ausgeführte Tätigkeit, wie das Ficken eines Mannes, etwas so Außergewöhnliches sein könnte.

Ja, klingt vollkommen verkitscht, aber so meine ich es nicht.

Was Kilian mir an Hingabe, Vertrauen und Liebe entgegenbringt, wenn ich meinen Schwanz in ihn schiebe, mich in ihm bewege, ihn um mich spüre und mich mit ihm gemeinsam immer höher treibe, ist schlicht von einer nie dagewesenen Intensität.

Ich würde behaupten wollen, dass die reine Handlung nicht mehr das Entscheidende ist, auch wenn sie als Mittel zum Zweck dient.

Entscheidend ist einzig und allein das Gefühl, das mich beherrscht, das Gefühl, das Kilian mir von sich zeigt und gibt.

Es macht nicht einfach Spaß, ihn zu nehmen, es ist pure, reine Erfüllung, es zu tun!

„In welchen Sphären schwebst du, Wölfchen?“, dringt Kilians Stimme in meine Gedanken, und ich fahre wieder mal heftig zusammen, bevor ich ihn ansehen und vor allem anlächeln kann.

„Löwenherz!“, rufe ich aus, während er eilig zu mir kommt und einmal mehr so betroffen aussieht, dass ich ein schlechtes Gewissen habe.

Hm, meine noch immer vorhandene Schreckhaftigkeit macht mir ernste Sorgen.

Wenn ich das nicht endlich in den Griff bekomme, habe ich ein Problem.

„Tut mir leid, ich wollte dich wirklich nicht erschrecken“, murmelt er, bevor er mich küsst.

„Du kannst ja nichts dafür“, versuche ich ihn zu beruhigen, als er sich zu mir setzt und sich ebenfalls eine Zigarette anmacht.

„Wer hat dich denn erschreckt, wenn nicht ich?“, fragt er mit ironischem Unterton.

„Ich habe über uns nachgedacht und schwelgte tatsächlich in ziemlich erotischen Sphären. Da hätte sich jeder erschreckt, sei dir sicher.“

„Oh? Kriegst du etwa rote Ohren?“, neckt er mich und zieht mich lachend an sich.

„Hmmm“, brumme ich. „Ich könnte in dich reinkriechen, ständig!“

Leider hat er mit seiner Beobachtung wohl wirklich recht. Ich überlege, streng darauf bedacht, nicht wieder abzudriften, was genau ich noch tun soll oder kann, um endlich wieder vollkommen rückhaltlos vertrauen zu können.

Um mich sicher und aufgehoben zu fühlen, selbst wenn ich allein zu Hause bin.

~*~

Eine Woche ist es nun her, dass ich die Datei vollständig beendet habe. Auch mit dem zweiten Lesen bin ich durch, doch hat sich an meiner Schreckhaftigkeit ebenso wenig geändert wie an meiner hilflosen Panik, als ich jenes bestimmte Kapitel zum dritten Mal gelesen habe.

Glücklicherweise war Kilian im Fitnessstudio, als ich an der Stelle angekommen bin. Sonst hätte er sich wieder endlose Sorgen zusätzlich gemacht.

Heute ist Dienstag, und da Kilian wieder in der Muckibude sein wird, kann ich etwas tun, von dem ich ernsthaft hoffe, dass es mir helfen wird.

Ich habe vorhin, von der Arbeit aus, noch bei Allen angerufen und ihn um ein Treffen gebeten.

Deshalb parke ich um kurz vor 20 Uhr am Club und gehe hinein.

Am Empfang steht diesmal nicht Sammy, sondern eine Dragqueen, die ich bisher nicht kenne.

Wie es sich gehört, stelle ich mich vor.

„Guten Abend. Ich bin Valentine. Allen erwartet mich.“

„Ich bin Lydia, guten Abend, Valentine. Der Boss sitzt in der Bar.“

„Vielen Dank“, erwidere ich und gehe zunächst zur Garderobe, um meinen Mantel und den Schal loszuwerden.

Es ist zwar nicht mehr arschkalt, aber ‚frühlingshaft‘ würde ich das aktuelle Wetter trotzdem nicht nennen.

Allen zu finden, ist auch bei einer gut gefüllten Bar nicht schwer, heute jedoch ist kaum etwas los. Unter der Woche und so früh am Abend haben die wenigsten Berufstätigen Zeit, hierher zu kommen.

„Hallo Wolf“, begrüßt Allen mich, kaum dass ich an der Sitzecke angekommen bin, in der sich der Clubbesitzer gerade allein aufhält.

„Nabend Allen. Danke, dass du Zeit hast.“

Er schürzt nickend die Lippen. „Gern, ich bin gespannt, worum es geht.“

Tja, nun wären wir beim Eingemachten angekommen …

„Es geht darum, dass ich den Eindruck habe, mit niemand anderem darüber sprechen zu können.“

„Hm“, macht er. „Worüber genau?“

Eine Bedienung steht urplötzlich und lautlos am Tisch, ich bestelle eine Cola, Allen nickt nur, dann verschwindet sie wieder und wir sind erneut allein.

„Du weißt von Stefan, wie ich ticke, und bestimmt auch, dass ich Pay-Dom war.“

Wieder nickt er.

„Okay, das ist sicherlich nicht das Entscheidende, aber wichtig ist, dass ich sehr erfolgreich war und ein echt gut laufendes Geschäft hatte, bis ich …“, ich atme durch und setze fort, „von mehreren Typen überfallen und missbraucht wurde.“

Meine Eröffnung lässt ihn harsch Luft holen und er sinkt verblüfft gegen die Rückenlehne der Sitzbank.

„Du hast also was ganz Ähnliches durch wie Kilian und ich“, murmelt er, bevor er sich wieder aufrichtet und die Unterarme auf dem Tisch ablegt. „Hast du dir Hilfe geholt? Therapeutische, meine ich?“

Ich schüttle den Kopf. „Nein, ich habe innerhalb von wenigen Wochen alle Zelte abgebrochen und bin nach Weidenhaus gezogen“, bekenne ich.

„Nicht gut“, erwidert er ernst.

„Ich weiß, aber es erschien mir im Herbst als die einzige Möglichkeit, um schnell und halbwegs sicher aus dem Gefahrenbereich zu kommen.“

Seine Brauen ziehen sich zusammen. „Du fürchtest, sie hätten das noch öfter getan?“

„Es war eine Art Warnung“, gebe ich zurück. „Aber seitdem habe ich durch die Flucht hierher wirklich Ruhe.“

Das muss ich dazusagen, sonst fange ich auch hier an, mich hastig umzusehen.

„So wirklich beruhigend scheint das für dich aber nicht zu sein.“ Allens Auffassungsgabe ist schlicht bemerkenswert, aber was erwarte ich von einem guten Dom auch anderes?

„Nein. Der Punkt ist, dass ich mit Kilian nicht darüber reden kann oder will. Such es dir aus. Er darf auch niemals erfahren, dass ich Callboy war und noch viel weniger, dass ich ein Pay-Dom war.“

„Aber wenn ich drüber nachdenke, wie ihr an Karneval und auch sonst bei unseren Treffen drauf wart, scheint die Frage, wer bei euch der Dominante ist, endgültig geklärt zu sein. Kilian wirkte sehr ausgeglichen.“ Ein Kompliment, das weiß ich genau.

„Wir sind noch meilenweit davon entfernt, dass er wieder er selbst ist, aber ja, er kann es mir nun erlauben, ihn zu toppen. Daran war vor ein paar Monaten nicht zu denken.“

So offen darüber zu reden, funktioniert nur, weil ich weiß, dass Allen niemals mit jemandem darüber sprechen würde. Nicht einmal Ryan wird er es sagen, zumindest nicht, wenn er sich an den unausgesprochenen Dom-Kodex hält.

Jedenfalls vertraue ich ihm.

„Das ist ein guter Anfang, Wolf. Du solltest ruhig ein bisschen stolz darauf sein.“

„Das würde mir aber nichts nutzen. Stolz ist nichts, wodurch sich irgendetwas verbessert. Aber darum geht es ja auch nicht. Ich will, dass Kilian sich wohl fühlt, nichts anderes zählt.“ Ich seufze. „Nur, dass mein Gemütszustand nicht gerade einwandfrei ist und ich ihm Sorgen bereite, die er sich schlicht nicht machen müssen sollte.“

Ich erzähle von meiner Schreckhaftigkeit und davon, dass ich auch ihm, Allen, nicht von Angesicht zu Angesicht sagen können werde, was wirklich geschehen ist.

Schließlich berichte ich ihm von meinem schriftlichen Versuch.

„… aufgeschrieben und es reicht nicht aus, leider. Ich meine, die Panik ist noch da, aber ich denke, wenn ich mein Wissen um alles mit jemandem teilen könnte, würde es mir vielleicht endlich einen Teil der Belastung nehmen.“

„Und dieser jemand soll ich sein?“, hakt er verständig nach.

„Ja, es wäre toll, wenn ich dir einen Ausdruck der Datei geben könnte und ich meine Erlebnisse loswerden kann, ohne noch mal drüber reden zu müssen.“

Allen nickt und mustert mich nachdenklich. „Wenn du das möchtest, werde ich sehr gern versuchen, dir auf diese Art zu helfen. Allerdings kann ich dir nur dazu raten, dir auch professionelle Hilfe zu suchen. Ich habe damals mit einem Therapeuten gemeinsam erarbeitet, was ich brauchte, verloren hatte und wiederfinden musste.“

„Klingt schrecklich, ganz ehrlich. Ich war ziemlich platt, als ich deine Andeutung in Richtung Kilian mitbekommen habe.“

„Das Schlimmste daran war, dass ich meine Beziehung zu Ryan damit beinahe zerstört hätte, weil ich ihn aus all meinen Problemen heraushalten wollte.“

Seine Eröffnung lässt mich hart schlucken. „Ernsthaft? Aber Ryan ist psychisch nicht angeschlagen gewesen, oder? Ich meine, er hat nicht erlebt, was wir durchhaben.“

Allen schüttelt den Kopf. „Nein, glücklicherweise ist ihm so etwas nie passiert. Aber die Tatsache, dass er ernsthaft überlegt hatte, sich zu trennen, damit ich wieder zu mir kommen kann, war mir auch im Nachhinein noch eine Lehre. Ich würde nie wieder auf die Idee kommen, ihn vor irgendetwas, das mich belastet, zu beschützen. Mach nicht den Fehler, den ich gemacht habe, Wolf.“

„Denkst du ernsthaft, dass Kilian mit all dem Scheiß den ich hinter mir habe, zurecht käme?“

„Auf jeden Fall besser als mit der Ungewissheit. Du sagst doch selbst, dass du ständig ein schlechtes Gewissen hast, wenn er dich wieder schreckhaft erlebt hat.“

„Hm“, mache ich nachdenklich. „Kilian weiß, dass ich überfallen wurde. Er weiß sogar von beiden Malen. Für ihn wäre es wohl sehr viel schlimmer, dass ich seit langen Jahren eben doch Dom bin, wenn auch nicht in einer festen Beziehung.“

„Da magst du recht haben.“

„Okay, ich verspreche, wenn es mir nicht hilft, dir alles zum Lesen gegeben zu haben, werde ich mich wegen einer Therapie schlaumachen.“

„Willst du mit mir darüber reden, wenn ich es gelesen habe?“

Die Frage lässt mich stocken, weil ich darüber bislang nicht nachgedacht habe.

„Wäre wohl besser, oder? Ich meine, wie soll es mir sonst helfen?“

Er grinst. „Du hattest ursprünglich nicht vor, jemals wieder ein Wort darüber zu verlieren, stimmt’s?“

Ich nicke beschämt. „Ja, wenn ich ehrlich bin, wollte ich es abhaken.“

„Das wirst du nicht schaffen, Wolf. Versuch es erst gar nicht.“

Ich seufze tief. „Ist in Ordnung. Ich will es ja auf eine Art loswerden, die mir meine alte Freiheit zurückgibt.“

„Dann bring mir den Ausdruck die Tage vorbei, und ich melde mich, wenn ich alles gelesen habe. Okay?“

„Ja, klingt gut. Danke!“ Erleichtert sehe ich ihn an.

Interessant! Selbst dieses Gespräch hat, obwohl ich noch gar nicht viel erzählen musste, schon für Erleichterung gesorgt …

Zufrieden und irgendwie beruhigt verlasse ich gegen 22 Uhr den Club und mache mich auf den Heimweg. Bald müsste Kilian zu Hause sein, und ich wäre gern vor ihm da.

Natürlich werde ich ihm von meinem Besuch bei Allen erzählen, es besteht schließlich kein Grund für zusätzliche Geheimnisse, denke ich.


 



~ Ermittlungsstand ~

Seit ich wieder regelmäßig zum Training gehe, habe ich währenddessen viel Muße, über mein neues Leben und die Beziehung zu Wolf nachzudenken.

Früher hat mich mein Kindle begleitet, damit sich zumindest die Stunde auf dem Laufband spannender gestaltete. Heute schicke ich lieber meine Gedanken auf Wanderschaft.

Um mich vor unerwünschten Unterhaltungen zu schützen, stecke ich gleich nach dem Umziehen die In-Ears rein und drehe die Mucke laut auf.

Die meisten Mitglieder kennen mich schon ein paar Jahre und quatschen mich nicht mehr an, aber es tauchen halt ständig neue auf, die meinen, mir erzählen zu müssen, wie toll sie sind.

Mit geschlossenen Augen renne ich vor mich hin, blende die Musik in meinem Kopf aus und denke über die vergangenen Wochen nach.

Inzwischen ist bei uns der Alltag eingekehrt. Wir haben beide unsere Hobbys und Lieblingsbeschäftigungen wieder aufgenommen, was bedeutet, dass wir auch mal getrennt unterwegs sind.

Wolf geht wieder zum Kampfsporttraining und ich mache weiter Ausdauer- und Kraftsport. Somit sehen wir uns an vier Abenden in der Woche erst gegen 22 Uhr, wenn wir von dem kurzen Treffen direkt nach Feierabend absehen.

Erst hatten wir überlegt, ob wir auch die sportlichen Betätigungen gemeinsam machen wollen, haben uns aber dagegen entschieden. Es ist für eine vertrauensvolle Beziehung einfach nicht nötig, permanent aufeinander zu hocken.

Im Gegenteil! Ich finde, jeder braucht ein gewisses Maß an Freiraum, muss sich auch mal allein mit Freunden treffen können.

Durch meinen Ex, der mir sehr viele Kontakte verboten hat, weiß ich, wie schrecklich es ist, niemanden zu haben, mit dem man sich über alles Mögliche austauschen kann.

So nutzen Wolf und ich unsere freien Abende hin und wieder dazu, uns mit einem oder mehreren aus unserer stark angewachsenen Clique zu treffen.

Meine Gedanken wandern weiter, bringen mich auf direktem Weg zu Wolf und unserem spannenden neuen Sexualleben.

Seit ich mich von ihm das erste Mal nehmen lassen konnte, ohne dass irgendwelche dämlichen Ängste mich zurückschrecken ließen, geht es mir blendend. Wolf ist wahnsinnig einfühlsam, so dass ich keine Probleme mehr habe, mich rückhaltlos hinzugeben.

Ich überlege, ob ich ihn beim nächsten Mal um eine härtere Gangart bitten soll. Mir läuft ein erregender Schauer über den Rücken, wenn ich daran denke, mich ihm völlig zu unterwerfen. Von Wolf durch lustvollen Schmerz an meine Grenzen getrieben zu werden, stelle ich mir unglaublich befriedigend vor.

Allerdings frage ich mich noch immer, ob es für ihn ebenso erfüllend ist. Schließlich habe ich nicht vergessen, wie sehr er auf mein dominantes Verhalten abgefahren ist. Auch er hat die Unterwerfung und den Schmerz genossen.

Ob wir wohl einen Mittelweg finden, bei dem wir beide zu unserem Recht kommen?

Von meiner Seite aus kann ich definitiv ‚Ja‘ sagen.

Ich werde niemals ein richtiger Dom wie Stefan, Michael oder Allen, dazu bin ich viel zu sehr Sub. Für Wolf, in unseren privaten vier Wänden, kann ich es jetzt aber wieder sein. Da bin ich mir ganz sicher.

Wenn er noch fit genug ist, wenn ich nach Hause komme, werde ich dieses Thema mal ansprechen und seine Meinung erfragen.

~*~

Am Freitag, in der verkürzten Mittagspause, erreicht mich eine Nachricht von Michael. Er bittet um Rückruf, da er dringend etwas mit mir besprechen muss.

Ich begebe mich außer Hörweite meiner Kollegen und wähle Michaels Handynummer an.

„Hey Micha, gibt es etwas Neues?“, frage ich neugierig.

„Hast du heute Zeit, kurz auf dem Revier vorbeizukommen? Am Telefon können wir nicht alles klären“, entgegnet er.

„Hm, ich muss bis fünfzehn Uhr arbeiten, danach könnte ich kommen.“

„Okay, dann warte ich auf dich. Bis nachher.“

„Bis dann“, entgegne ich und lege auf.

Sofort kehren meine obligatorischen Magenschmerzen zurück, die sich immer zu Wort melden, wenn es um Paul geht.

Ich tippe schnell eine Nachricht an Wolf, dann muss ich zurück an die Arbeit.

Mit ihm werde ich telefonieren, sobald ich im Auto sitze.

Die Zeit bis zum Feierabend zieht sich endlos in die Länge. Andauernd blicke ich zur Uhr, was das Ganze natürlich nicht besser macht.

Was Micha wohl herausgefunden hat, dass er es mir am Telefon nicht sagen konnte? Ich zerbreche mir den Kopf, aber ich finde beim besten Willen keine brauchbare Erklärung.

Meinen Magenbeschwerden sind diese Grübeleien nicht besonders zuträglich und wenn ich nicht gerade zur Toilette renne, laufe ich plan- und ziellos durch die Werkshalle.

Jemand zupft am Ärmel meines Longsleeves.

Erschreckt bleibe ich stehen und drehe mich um.

Günter steht vor mir und mustert mich besorgt.

„Junge, was ist mit dir los? Ich beobachte dich, seit du aus der Pause zurück bist. Bist du krank?“

„Nein, nein“, erwidere ich hastig. „Du weißt doch, manchmal spielt mein Magen verrückt.“

Er sollte sich wirklich erinnern können, dass ich diese Probleme nach der Trennung von Paul sehr häufig hatte.

Leider bringe ich ihn damit auf eine falsche Spur.

„Hast du Ärger mit Wolf?“, fragt er alarmiert.

„Bei uns ist alles okay“, beruhige ich ihn. „Ich habe nachher einen unangenehmen Termin, der mich aufregt.“

„Was denn für einen? Kann ich dir eventuell helfen?“

Ich denke einen Moment darüber nach, ob ich ihm die Wahrheit sagen soll, entscheide mich aber dagegen. Es würde viel zu lange dauern, bis ich ihm alles erklärt hätte und wie ich ihn kenne, würde er einen Tobsuchtsanfall bekommen, wenn er hören müsste, was Paul mir angetan hat.

„Du kannst mir nicht helfen, aber danke für das Angebot.“ Seine erste Frage überhöre ich geflissentlich.

„Warum denken meine Kinder eigentlich alle, dass sie mich für dumm verkaufen können? Sigrid und ich wissen schon lange, dass du etwas vor uns verheimlichst, Kilian. Vertraust du uns nicht mehr?“ Günters trauriger Blick geht mir durch und durch.

Ich lege den Arm um seine Schultern und ziehe ihn näher zu mir.

„Natürlich vertraue ich euch, Paps. Irgendwann erzähle ich euch alles, aber diese Sache heute muss ich allein durchziehen. Du kannst da leider gar nichts für mich tun.“

Dummerweise treibt es mich schon wieder zum Klo.

„Paps, ich muss …“ Hektisch zapple ich herum.

„Dann lauf und danach machst du Feierabend. Ohne jede Diskussion!“, ruft er mir hinterher, da ich bereits losgesprintet bin.

Erleichtert ziehe ich mich anschließend um und packe meine Arbeitsklamotten zusammen.

Auf dem Weg zum Auto suche ich meinen Bluetooth-Kopfhörer raus und pfriemle ihn ins Ohr. So kann ich während der Fahrt telefonieren.

Zunächst sage ich Micha Bescheid, dass ich bereits unterwegs bin. Anschließend rufe ich Wolf an.

Er ist zwar noch im Büro aber es hat niemand etwas dagegen, wenn wir mal miteinander sprechen. Ich melde mich ja auch nur höchst selten.

Wir reden, bis ich das Revier erreiche. Unser Gespräch hat mich gut abgelenkt und mein Magen hat sich zum Glück etwas beruhigt.

Wolf hat sofort angeboten, mich zu begleiten, das habe ich aber kategorisch abgelehnt. Inzwischen bin ich absolut in der Lage, so was allein durchzustehen.

Klar fällt es mir noch immer nicht leicht, mit Außenstehenden über Paul zu reden. Wie die letzten Stunden gezeigt haben, schlägt mir die ganze Sache immer noch auf den Magen. Trotzdem verfüge ich über die innere Kraft, mich dem allein zu stellen.

Nachdem ich alle Kontrollen hinter mich gebracht habe, klopfe ich an Michas Tür und trete nach seiner entsprechenden Aufforderung ein.

Nur zögernd schließe ich die Tür hinter mir, gehe aber keinen Schritt weiter in den Raum. Ein Mann, etwa Mitte dreißig, hockt auf der vorderen Kante des Schreibtisches und blickt mich neugierig an.

„Kilian, das ist mein Kollege Jörg Kerner. Wir arbeiten zusammen an dem Fall und ich wollte, dass ihr euch kennenlernt, falls ich mal verhindert bin“, klärt Micha mich auf.

Ich bin zwar nicht begeistert, dass noch jemand dabei ist, wenn ich gleich erfahre, worum es geht, aber es sieht so aus, als müsste ich mich langsam mal daran gewöhnen.

„Hallo Kilian, der hier“, breit grinsend richtet Jörg einen Finger auf Micha, „hat gesagt, es ist okay, wenn wir sofort zum ‚Du‘ übergehen.“ Sein Gesichtsausdruck ändert sich nicht, als er aufsteht und mir die Hand reicht.

„Soso, hat er das? Ziemlich dreist von ihm“, erwidere ich mit einem Zwinkern und ergreife seine Rechte, um sie zu schütteln.

„Hallo Jörg, freut mich, dich kennenzulernen“, setze ich nach.

„Seid ihr damit fertig, euch über mich lustig zu machen?“, mault Micha streng.

„Ich habe nur Tatsachen weitergegeben, also reg dich ab“, gibt Jörg ihm Kontra. Der Mann wird mir immer sympathischer.

„Pffffft!“ Weiter kommentiert Micha das nicht.

Ich kichere leise vor mich hin und ernte einen strafenden Blick, der mich seltsamerweise nicht erschüttert, obwohl ich weiß und bei jedem Treffen spüre, dass Micha ein Dom ist.

„Setzt euch, damit ich zum Thema kommen kann.“

Jörg und ich hocken uns auf die Stühle vor dem Schreibtisch. Jetzt werden meine Hände vor Aufregung doch etwas feucht und ich wische sie möglichst unauffällig an meiner Jeans ab.

Ich erfahre, dass die beiden Typen, die ich identifizieren konnte, inzwischen in U-Haft sitzen. Bei den vorgenommenen Hausdurchsuchungen wurden diverse Videos gefunden, mit immer wechselnden Opfern.

Als Micha mir sagt, dass sie gegen Paul nichts in der Hand haben, weil seine Kumpels bisher jede Aussage verweigern, bin ich ziemlich sauer. Was mich aber richtig wütend macht, ist, dass der Typ, der mir erzählt hat, Paul wäre der Initiator gewesen, abstreitet, jemals mit mir darüber gesprochen zu haben.

„Der Arsch hängt garantiert mit drin!“, wettere ich los.

„Der Meinung sind wir auch, können ihm aber bisher nichts nachweisen“, erklärt Jörg.

Micha bittet mich, zu ihm hinter den Schreibtisch zu kommen.

Auf dem Monitor seines PCs zeigt er mir verschiedene Standbilder aus den anderen Videos und fragt, ob ich eines der Opfer kenne.

Ich bin ziemlich überrascht, dass man diesen Männern keine Maske aufgesetzt hat, wie es bei mir der Fall war.

Zwei davon habe ich schon mal im Double D gesehen, weiß aber weder ihre Namen noch die ihrer Doms.

„Das dürfte kein Problem sein. Der Besitzer ist bestimmt zu einem weiteren Gespräch bereit“, meint Jörg.

„Ruf ihn gleich mal an und mach einen Termin aus“, fordert Micha.

Jörg nickt und verlässt den Raum.

„Wenn wir diese drei Opfer finden können, hoffe ich, dass sie zu einer Aussage bereit sind. Dann hätten wir auf jeden Fall noch bessere Karten gegen diese Bande“, sagt Micha.

„Vor allem wäre ich vor Gericht nicht der einzige Zeuge“, nuschle ich bedrückt. Das macht mir nämlich am meisten Sorgen. Ich will nicht allein diesen brutalen Arschlöchern gegenübersitzen.

„Sind wir fertig? Kann ich gehen?“

„Nein, du hast noch ein paar Fotos vor dir. Es gibt noch zwei weitere Drecksäcke, die bei dieser Schweinerei mitgemacht haben.“

Ich seufze ergeben und richte den Blick auf den Monitor.

Das neue Bild zeigt einen maskierten Mann, der mit einer Bullwhip gerade zum Schlag ausholt.

Übergangslos sind meine Magenschmerzen wieder da. Auch wenn man nur die untere Hälfte des Gesichtes der Person sehen kann, weiß ich sofort, wer das ist.

„Paul!“, entfährt es mir übermäßig laut.

Nicht nur ich zucke zusammen, auch Micha scheint durch meinen Schrei leicht geschockt.

„Bist du sicher?“, hakt er nach.

„Aber so was von“, bestätige ich und nicke heftig. „Die Hose mit den seitlichen Stahlstacheln erkenne ich zehn Meilen gegen den Wind, genau wie die dazu passenden Ledermanschetten am Unterarm.“

„Hm, es gibt bestimmt einige Männer, die auf so ein Outfit stehen“, zweifelt er meine Aussage an.

„Entschuldige bitte, aber ich war neun Jahre mit dem Kerl zusammen. Da sollte ich wohl in der Lage sein, ihn an seinem Körperbau und seiner Haltung zu erkennen. Außerdem … siehst du den dunklen Fleck auf seiner linken Schulter? Das ist ein Muttermal“, motze ich aufgebracht.

„Ganz ruhig, Großer. Ich will nur sicher sein.“

„Ich schwöre jeden Eid darauf, er ist es!“, bekräftige ich noch mal.

„Okay, dann haben wir ihn am Arsch.“ Micha grinst zufrieden.

Er zeigt mir noch ein letztes Standbild.

Obwohl ich nicht zu hundert Prozent sicher bin, meine ich, Robbie zu erkennen. Den Typen, der jetzt behauptet, mir nie etwas von Pauls Beteiligung an dem Überfall auf mich erzählt zu haben.

„Jörg und ich sind derselben Meinung, aber solange wir keine eindeutigen Beweise gegen ihn haben, können wir nichts machen. Auf jeden Fall werden wir ihn im Auge behalten.“

Wie aufs Stichwort betritt der Erwähnte den Raum.

„Ich habe für morgen Vormittag einen Termin vereinbart“, wendet Jörg sich an Micha.

„Super.“

Bis die beiden sämtliche Neuigkeiten ausgetauscht haben, hocke ich stumm da. Ich will nur noch nach Hause, mich in Wolfs Arme flüchten und ihm erzählen, wie schlimm sich alles entwickelt.


 

© Gerry Stratmann / Nathan Jaeger / Gay-fusioN GbR Zurück zur Hauptseite 'Gay-fusioN'

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Published on November 06, 2021 10:03

[Leseprobe] Valentine Spiel 1 - Ungewolltes Verlangen

 Leseprobe



~ Aushilfsjob ~

„Allein kannst du das ganz sicher nicht machen“, brummt mein Onkel und mustert mich zweifelnd.

Ich hebe die Schultern. „Wieso nicht? Es kann ja nicht so schwierig sein, Crêpes zu backen, oder?“

„Die Kirmes geht zwar nur vier Tage, aber täglich mehr als zwölf Stunden lang, und in der Zeit wirst du sicherlich auch mal eine Pause brauchen. Tatsächlich habe ich bereits drei Aushilfen für die Zeit eingestellt.“

Als Günter das sagt, wird mir erst bewusst, wie schräg mein Kopf momentan funktioniert.

Klar brauche ich Pausen und Zeit für meine Zigarettensucht oder das Klo.

Ich rolle über meine Kurzsichtigkeit die Augen und hoffe, dass mein Onkel nicht merkt, wie sehr ich neben der Spur bin.

„Logisch … Und wen hast du verpflichtet?“, erkundige ich mich.

„Studentische Hilfskräfte von der örtlichen Fachhochschule. Sehr nette Jungs, übrigens.“

„Okay, wenn das alles schon feststeht, kann ich wohl froh sein, dass du für mich noch Arbeit hast.“ Ich zwinge mich zu einem Grinsen. „Ist wirklich Klasse von dir.“

Er mustert mich mit schräg gelegtem Kopf. „Für meinen Lieblingsneffen mache ich fast alles möglich, aber dein plötzlicher Umzug und deine Bereitschaft, auszuhelfen, treffen sich hervorragend mit der Tatsache, dass die ursprünglich angeheuerte vierte Aushilfe ausfallen wird.“

„Oh? Was ist passiert?“

„Er hat sich beim Unisport das Bein gebrochen, wie ich hörte.“

„Autsch!“, quittiere ich. „Dann ist sein Unglück wohl mein Glück …“

Das gefällt mir natürlich nicht, weil ich so gut wie niemandem Schmerzen und gebrochene Knochen wünsche. Trotzdem hält sich mein Mitleid in den Grenzen, die mein Egoismus vorschreibt.

Ich brauche diese Ablenkung so dringend, dass Rücksicht nicht mein oberstes Motto ist.

„Sieht ganz so aus“, erwidert Günter nur.

Trotz des Themenwechsels werde ich den Verdacht nicht los, dass er mehr in meinen überstürzten Weggang aus Hamburg interpretiert, als ich bereit bin, zu erzählen.

Entsprechend schweige ich dazu beharrlich und lenke noch einmal vom Thema ab. „Das wird sicher cool. Ich hab die Kirmes noch nie aus dieser Perspektive gesehen.“

Er lacht leise. „Die Gelegenheit hast du ja jetzt.“

Ich nicke. „Gut so!“

„In Ordnung, dann treffen wir uns am besten Dienstagmorgen auf dem Firmengelände, da werde ich euch den Wagen und alles Nötige erklären. Du weißt aber, dass du am Sonntag zum Essen kommen kannst?“

Mein Onkel erhebt sich wieder und ich verabschiede ihn an der Tür.

„Alles klar, ich überlege es mir. Ansonsten bis Dienstag!“

Er hebt im Hausflur noch einmal die Hand und geht.

Wieder in der Küche mache ich mir einen neuen Kaffee, während Onkel Günters Tasse im Geschirrspüler landet.

Erst gestern habe ich die letzten ausgeräumten Kartons in den Keller gebracht.

Mein neues Zuhause ist geradezu dekadent groß für mich allein, aber dieser Umstand ist der lächerlich geringen Miete geschuldet.

Ich wohne seit zwei Wochen in diesem Mehrfamilienhaus mit sechs Mietparteien. Erdgeschoss links, 91 qm Grundfläche, Garten und langer, überdachter Carport. Die Besitzer der Wohnung sind irgendwo nach Mitteldeutschland gezogen, um bei ihrem Enkel zu sein, glaube ich, jedenfalls konnte ich dieses Prachtstück problemlos anmieten.

Der kommende Dienstag ist kurz vor der Eröffnung der alljährlichen Herbstkirmes von Weidenhaus. Am dritten Wochenende des Oktobers findet sie statt, und ich war als Kind immer dort.

Meine Eltern und ich sind vor 16 Jahren hier weggezogen, weil mein Vater in Heide einen Job bekommen hat, als ich von der Grundschule auf das Gymnasium wechseln musste.

So bin ich in einem der heißesten Sommer überhaupt dorthin übergesiedelt und nach den Ferien in die neue Schule gegangen.

Nach der zehnten Klasse zog ich mit Realschulabschluss in den Speckgürtel Hamburgs und habe dort gearbeitet.

Meine restliche Verwandtschaft lebt aber noch in der Gegend um Weidenhaus, und als ich durch meine überstürzten Bewerbungen einen Job bekam, bin ich wieder zurückgekommen. Vielleicht ist es ganz gut, dass ich hier meinen Cousin Niklas und eben auch Onkel Günter und Tante Sigrid habe.

Zu den dreien hatte ich immer guten Kontakt, auch wenn ich sie selten besucht habe.

Eine gute Woche nach der Kirmes werde ich die neue Arbeitsstelle antreten und wieder ein geordneteres Leben führen – hoffe ich.

Zuletzt war es ziemlich chaotisch, das muss ich zugeben, als ich mit meinem Kaffeebecher und den Kippen auf die überdachte Terrasse gehe, um eine zu rauchen.

Mir gefällt der Garten! Er ist ziemlich klein, vielleicht 50 oder 60 Quadratmeter. Davon gehen mehr als 20 für die überdachte Terrasse drauf und ein breiter Weg führt von hier aus um die Hausecke zum Carport mit dem darin eingebauten Schuppen. Es ist also wirklich nicht viel Rasenfläche, die es zu beackern gilt.

Gut für mich!

Ich mag zwar Gärten, aber nicht zwangsläufig Gartenarbeit …

Am ovalen Terrassentisch sitzend, trinke ich meinen Kaffee und rauche zwei oder drei Zigaretten.

Ich denke über das Chaos nach, dem ich durch meinen Umzug und dem neuen Job entkommen bin.

Unschuldig bin ich übrigens nicht daran, vermutlich habe ich es sogar herausgefordert.

Neben einer Ausbildung zum Bürokaufmann in einer Reederei fand ich es damals spannend, mich abends und nachts auf dem Kiez herumzutreiben.

Geschlafen habe ich nur von zwei bis sechs in jeder Nacht, zwischen Feierabend im Büro und dem Zubettgehen hatte ich ziemlich viel Spaß, meistens zumindest.

Nein, ich war kein Stricher, aber letztlich habe ich wohl etwas sehr Ähnliches praktiziert.

Zu Anfang habe ich gefickt und mich ficken lassen, ohne dafür Geld zu nehmen, aber irgendwann im zweiten Lehrjahr lernte ich Frank kennen, der mir mit seinen Geschichten über die bezahlten Sexdates, die er hatte, den Mund wässrig machte.

Es dauerte nicht lange, und ich hatte Visitenkarten, auf denen lediglich mein – englisch ausgesprochener – Künstlername ‚Valentine‘ und eine Handynummer standen.

Ich brauchte nicht mehr auf dem Kiez abzuhängen, nachdem ich auf einschlägigen Datingportalen für Schwule inseriert hatte.

Jetzt riefen mich die möglichen Kontakte einfach an und wir verabredeten uns.

In den ersten Monaten, bis kurz nach meinem achtzehnten Geburtstag, verdiente ich auf diese Weise jede Menge Geld, das ich für geile Klamotten, meinen Führerschein und ein wenig mehr privaten Luxus ausgab.

Natürlich habe ich nicht alles zum Fenster rausgeworfen, obwohl es durchaus Monate gab, in denen ich das hinbekommen habe.

Meine Eltern hätten bei größeren Anschaffungen ganz sicher etwas mitbekommen, dazu war und ist mein Verhältnis zu ihnen einfach zu gut.

Später habe ich zur Tarnung meiner Finanzen kleine Modeljobs angenommen, meistens Katalogmoden oder auch mal für Bildbände, aber niemals habe ich zugelassen, dass mein Konterfei auf großformatigen Werbeanzeigen auftauchte.

Ein Grinsen zieht über mein Gesicht. Es war cool zu jener Zeit. Auch wenn es nach den ersten zwei Jahren noch einmal anders wurde. Ach was, anders, es wurde dekadenter!

Mit zwanzig Jahren schaffte ich mir eine Wohnung an, in der ich ausschließlich Kunden empfing. Es gefiel mir besser, auf meinem eigenen Terrain zu arbeiten, obwohl ich in neunzig von hundert Fällen keine Angst haben musste.

Es hatte eindeutig Vorteile, dass ich mir meine Kundschaft größtenteils aussuchen konnte. Klar, hin und wieder gab es mal einen echt hässlichen Vogel, der mich ficken wollte, oder mal einen Viagra-Jünger, der ein bisschen perverser drauf war.

Wieder dieses Grinsen …

Ich fand zu der Zeit auch heraus, dass ich es sehr genoss, andere zu dominieren, ihre Lust absolut zu kontrollieren, weshalb ich meine bestehenden Kontakte zur BDSM-Szene ausbaute.

Heute kann ich sagen, dass ich meine besten Freunde in genau dieser Szene habe, und vor allem, dass ich mit sämtlichen Techniken und Spielarten vertraut bin, die dort praktiziert werden.

Tja, wie man es auch dreht und wendet, ich bin dreimal chemisch gereinigt, wenn es um Kerle, die Abgründe sexueller Begierden und das Leben an sich geht.

Das Grinsen vergeht, ich mache nervös die Zigarette aus und sehe mich idiotischerweise um, als wäre irgendjemand hinter mir her.

Ein hartes Auflachen, denn das ist die reine Wahrheit!

Es ist jemand hinter mir her!

Ich bin hier nicht einfach nur hergezogen, weil ich es so schön finde, wieder in der Stadt zu sein, in der ich die ersten elf Jahre meines Lebens verbracht habe, sondern weil ich untertauchen wollte.

~*~

„Hallo zusammen!“, grüße ich am Dienstagmorgen um zehn Uhr, als ich auf dem Werkstattgelände von Onkel Günters Dachdeckerfirma ‚Holtkamp Bedachungen‘ erscheine und mich dem blau-rot lackierten Crêpe-Stand nähere.

Direkt neben dem Firmengelände liegt das riesige Wohnhaus meines Onkels. Er hat es gebaut, als seine Kinder noch ganz klein waren, also vor meiner Geburt.

Günter und die drei studentischen Hilfskräfte – Lars, Tim und Bernd – sind bereits im Inneren und testen die Gerätschaften.

Ich geselle mich zu ihnen und stelle fest, dass der Verkaufswagen größer ist, als ich angenommen hatte.

Insgesamt vier Backplatten für die dünnen Pfannkuchen, jeweils zwei an zwei Arbeitsplätzen, nehmen den Großteil der Theke ein, darunter befinden sich Kühlschränke mit Glastüren, in denen die benötigten Zutaten lagern.

Die Rückwand wird von einer Arbeitsplatte mit weiteren Kühlfächern dominiert, trotzdem bleibt noch genug Platz, um halbwegs bequem aneinander vorbei zu gehen und alle Teile des Wagens zu erreichen.

Voll cool, eine Kaffeemaschine haben wir auch!

Über der Arbeitsplatte hängt die gut sichtbare Preistafel mit den unterschiedlichen Belag-Möglichkeiten, die wir anbieten werden.

Neben geriebenem Käse, Schinkenwürfeln und allerlei Spirituosen, wird man auch Zimtzucker, Schokoladencreme, Bananen und heiße Kirschen auf seinem Crêpe bestellen können.

Während Bernd und Lars sich an den ersten Pfannkuchen versuchen, lerne ich bereits die Karte auswendig, um es mir am kommenden Wochenende etwas zu vereinfachen.

Die Arbeitsplatzlogistik ist wohldurchdacht, man kann reibungslos arbeiten, und durch die Backzeit der Crêpes hat man auch genug Gelegenheit, die benötigten Zutaten heranzuholen.

Zum Aufrühren des Teiges, der sich in großen 20-Liter-Eimern befinden wird, haben wir eine Bohrmaschine mit Rühraufsatz, was die ganze Angelegenheit irgendwie cooler macht. Auch wenn ich nicht gerade ein Heimwerkerheld bin, macht mir so etwas Unorthodoxes Spaß.

Ich muss zugeben, ich freue mich auf die Kirmes.

Nachdem wir vier es hinbekommen, die Pfannkuchen unfallfrei zu backen, dürfen wir die Ergebnisse unserer Bemühungen aufessen und verteilen den Rest unter den heute in der Werkstatt beschäftigten Mitarbeitern des Betriebes. Es sind nicht annähernd alle da, die meisten sind – laut Aussage meines Cousins, der uns zwischenzeitlich am Stand besucht – auf diversen Baustellen zu finden.

Nachdem wir alles gereinigt und wieder verstaut haben, der Wagen geschlossen und abfahrbereit ist, verrät uns mein Onkel, wo der Verkaufsstand in den kommenden Tagen stehen wird.

Zu meiner großen Freude ist der Stellplatz nicht an einer der Seitenstraßen, sondern auf dem Hauptgelände des Jahrmarktes gelegen. Dadurch werden meine neuen Arbeitskollegen und ich sicherlich immer wieder Zeit genug finden, uns umzusehen.








~ Neugier ~

Ich muss mir endlich eine neue Wohnung suchen!

Dieser Gedanke überfällt mich mit schöner Regelmäßigkeit, sobald ich nach der Arbeit die Eingangstür öffne.

Stimmt nicht! Er kommt jedes Mal auf, sobald mein Blick auf eines der riesengroßen, auf den Putz gemalten Wandbilder in beinahe jedem Raum fällt.

Ich hasse sie abgrundtief, da ich durch sie an die verlogenen Jahre meiner festen Beziehung erinnert werde.

Es wäre so einfach, einen Eimer Farbe zu nehmen, um die Beweise meiner Dämlichkeit verschwinden zu lassen.

Das will ich aber nicht!

Sie sollen mir täglich in Erinnerung rufen, wie gefährlich es ist, sich auf einen Mann einzulassen, und dass ich es vermeiden muss, mich jemals wieder zu verlieben.

Ich seufze tief und begebe mich ins Schlafzimmer, um mich auszuziehen und duschen zu gehen.

Morgen noch, dann ist Kirmes!

Dieser Gedanke vertreibt zum Glück die negativen Empfindungen.

Es ist vollkommen egal, dass ich bis einschließlich Samstag arbeiten muss. Der Jahrmarkt wird für mich so oder so erst bei einsetzender Dunkelheit spannend. Ich liebe die bunten Lichter, ihre Spiegelungen in den glänzenden Wagen der Fahrgeschäfte, die blinkenden Lichtreflexe, die von Bude zu Bude weitergegeben werden.

Irgendwie hat Kirmes etwas Magisches für mich. Vielleicht, weil ich mich an wunderbare Erinnerungen klammere, die mich mit meinen Eltern und meiner kleinen Schwester verbinden.

Alle drei sind tot.

Ich war 16 und hatte gerade die Ausbildung bei Günter Holtkamp, dem besten Freund meines Vaters, begonnen. Daher konnte ich Marleen, Mama und Papa nicht in den Urlaub begleiten.

Tief durchatmen. Sogar ein schiefes Lächeln kriege ich hin. Erstaunlich, da mich diese Erinnerungen eigentlich immer ziemlich fertig machen.

Ich vermisse meine Familie, obwohl sie seit mehr als 13 Jahren nicht mehr da ist. Das wird sich wohl nie ändern, genau, wie ich andere negative Empfindungen nicht mehr loswerden kann.

Trotzdem habe ich gelernt, mit dem Verlust klarzukommen – hauptsächlich wohl, weil mich eine andere Familie unter ihre Fittiche genommen hat.

Mit viel Liebe, Wärme und einem eigenen Zimmer in ihrem Haus. Für mich lebensrettend war allerdings ihr großes Einfühlungsvermögen. Sie hatten Verständnis, wenn ich mal ausflippte, akzeptierten, dass ich erst lernen musste, mit meinem plötzlich so leeren Leben umzugehen.

Günter und Sigrid Holtkamp sind seit langem meine zweite Chance auf eine Familie.

Niklas, ihr jüngster Sohn, ist wie ein Bruder für mich. Er ist mein Vertrauter, kennt meine geheimsten Gedanken.

Niemals haben die Holtkamps versucht, meine Familie abzulösen, aber sie haben sie ersetzt, haben die Leere in meinem Innern peu à peu gefüllt.

Mehr, als ich es erwartet hätte.

Lächelnd trete ich aus der Dusche und trockne mich ab. Noch rasieren, dann muss ich wieder los.

Gegen 20 Uhr erwartet meine Zweitfamilie mich zum traditionellen Kaninchenbraten, den wir jedes Jahr vor der Kirmes genießen.

Sobald ich das Aftershave aufgetragen habe, blicke ich in den Spiegel und zitiere mit möglichst ernsthaftem Gesicht den Spruch, der diese Futter-Tradition bedingt hat: „Wenn Kermes is, wenn Kermes is, dann schlacht’ onsen Vader ’nen Buck, wenn Ovend is, wenn Ovend is, dann is denn Buck all up!

Oh Mann, ich kann manchmal echt albern sein. Kichernd verlasse ich das Bad und ziehe mich an.

Als ich vor den mannshohen Spiegel trete, um mein Aussehen zu begutachten, fällt mein Blick zwangsläufig auf den Hintergrund, der, genau wie mein Abbild, wiedergegeben wird. Ein Teil des überdimensionalen Wandbildes – schwarzweiß und blutrot. Schlagartig ist meine Stimmung auf dem Nullpunkt.

Ich muss aus dieser Wohnung raus! Bis vor zwei Jahren habe ich sie mit meinem heutigen Exfreund geteilt. Inzwischen sind mir nicht nur die Gemälde zuwider, das gesamte Interieur erinnert an ihn und ich will mich nicht mehr an ihn erinnern.

Um zwanzig vor acht trudele ich mit meinem Wagen wieder dort ein, wo ich auch arbeite – Günters Haus steht in einem der Industriegebiete direkt neben dem Werkstattgelände.

Jedes Mal, wenn ich den Wagen in der breiten Einfahrt neben dem von Niklas abstelle, überkommt mich ein unbändiges Gefühl von Heimat, von Nachhausekommen.

Entsprechend hebt sich meine Laune. Lächelnd eile ich zur Haustür und klingele.

Als ich mit Paul, meinem Ex, zusammengezogen bin, wollte ich meine Schlüssel zurückgeben, um niemals aus reiner Gewohnheit die Privatsphäre meiner Ersatzfamilie zu stören.

Günter und Sigrid haben sich jedoch geweigert, sie anzunehmen. Ich zitiere: „Unser Haus soll für alle Zeiten, genau wie für unsere leiblichen Kinder, eine Zuflucht sein, ein Ort, an den du stets zurückkehren kannst.“

Auch wenn ich die Schlüssel immer bei mir habe, würde ich sie nur im Notfall benutzen.

Niklas erscheint jenseits der großen, getönten Haustür und reißt sie grinsend nach innen.

„Wow, du musst dich ziemlich beeilt haben!“, begrüßt er mich und wie immer, wenn wir uns treffen, umarmen wir uns kurz. Das hat sich irgendwie eingebürgert, seit wir nicht mehr unter einem Dach wohnen.

„Wer bin ich, dass ich freiwillig Sigrid verärgere?“, gebe ich lautstark und mit einem fetten Grinsen zurück.

Mir ist klar, dass sie mich bis in die direkt angrenzende Wohnküche hört.

Prompt erklingt ihr fröhliches Lachen. „Als ob du darauf jemals Rücksicht genommen hättest, mein Schatz!“

Wir betreten die Küche, sobald mein Mantel in der geräumigen Diele an der Garderobe hängt.

Auch Sigrid begrüße ich mit einer Umarmung.

„Okay, ich schäme mich nachträglich!“, quittiere ich und lache.

„Geht es dir gut?“, will sie leise und sehr ernst wissen.

Da ist sie wieder, die Frage, die sie mir seit Jahren stellt. Sie hat damit angefangen, als ich bei Paul eingezogen bin.

Sigrid und Günter konnten Paul nie leiden. Für mich war das lange Zeit unverständlich. Wir haben uns auch häufiger deswegen gestritten, was mir bis heute unglaublich leid tut. Ihre Menschenkenntnis ist auf jeden Fall besser als meine.

„Ja, alles prima. Mach dir keine Sorgen.“

Sie weiß, dass ich lüge, in ihren Augen kann ich es sehen.

Kurz streichelt ihre Hand meine Wange, dann lächelt sie und gibt mich frei.

„Okay, Jungs, Tisch decken!“

Wir erledigen das umgehend, genehmigen uns anschließend noch eine Zigarette auf der frostigen Terrasse und sitzen pünktlich am Tisch in der Küche.

~*~

Das Essen verläuft in allerbester Stimmung, während wir die Planungen für das anstehende Kirmeswochenende abstimmen.

Morgen Abend werden Niklas, dessen Freundin Miriam und ich uns mit dem Rest unserer bunt gemischten Clique treffen, um gemeinsam über die Kirmes zu gehen.

Das machen wir immer, fällt also ebenfalls unter Tradition

„Wo steht der Crêpe-Stand in diesem Jahr eigentlich?“, frage ich, weil ich ein echter Crêpe-Junkie  bin.

„Auf dem Hauptplatz, schräg gegenüber vom Riesenrad“, verrät Günter mir und grinst. Natürlich kennt er meine Leidenschaft. Eine bestimmte Sorte Belag ist schließlich nur meinetwegen auf der Speisekarte gelandet.

„Cool, dann weiß ich, wer sich, bevor wir uns am Treffpunkt sammeln, schon mal den ersten Crêpe holen wird!“

Meine offensichtliche Vorfreude reizt die anderen zum Lachen.

Ist seit einiger Zeit immer so. Anscheinend sind echte Begeisterungsausbrüche bei mir in den letzten Jahren so selten geworden, dass sich die Anwesenden überschwänglich mit mir freuen.

„Da lernst du dann vermutlich gleich Wolf kennen“, bemerkt Günter lächelnd.

„Wen?“, hake ich nach.

„Meinen Cousin aus Hamburg. Er ist weggezogen, bevor er zu uns aufs Mariengymnasium kommen konnte“, erklärt Niklas bereitwillig.

„Hm, war er danach noch mal hier?“

„Ich glaube nicht. Er war seit damals auf keiner Familienfeier mehr“, sagt Niklas und lächelt schief.

„Und er hilft am Stand aus?“, hake ich, nun echt neugierig geworden, nach.

„Jepp. Mich wundert eh, dass er wieder hergezogen ist. Bislang dachte ich immer, er wollte aus Hamburg nicht mehr weg. Immerhin hat er sich dort sein komplettes soziales Leben aufgebaut.“ Niklas klingt nachdenklich.

„Er ist aber sehr nett, so viel ist sicher“, mischt Günter sich in das Gespräch. „Wolf ist zwei Jahre jünger als ihr und wird sicher bald Anschluss brauchen.“

Niklas nickt sofort. „Auf jeden Fall! Schade, dass er heute Abend nicht kommen konnte.“

„Ich habe ihn extra angerufen, aber er wollte noch irgendwas in der neuen Wohnung umräumen“, erklärt Sigrid.

„Wollte er?“ Günter sieht sie verwirrt an. „Als ich am Wochenende bei ihm war, stand kein einziger Karton mehr herum.“

Alle schweigen eine Weile und hängen ihren Gedanken nach.

„Hm, vielleicht in einem Zimmer, das du nicht gesehen hast?“, schlägt Sigrid vor.

„Möglich“, erwidert Günter, sieht allerdings nicht überzeugt aus. Die Stirn in Falten gelegt, grübelt er still vor sich hin.

Dieser Typ, Wolf, weckt meine Neugier. Wer zieht ohne zwingenden Grund aus einer so faszinierenden Großstadt wie Hamburg weg und kehrt in unsere eher ländlichen Gefilde zurück? Günter erweckt jedenfalls den Eindruck, dass er sich ernsthaft Sorgen um seinen Neffen macht.

Ich nehme mir vor, den Geheimnissen dieses ‚neuen‘ Familienmitglieds auf den Grund zu gehen.

Nach dem Essen mache ich mich sofort auf den Heimweg. Um halb fünf Uhr ist die Nacht für mich rum. Immerhin muss ich um sechs Uhr bei der Arbeit auf der Matte stehen.

Die letzte Zigarette rauche ich in meiner Küche, dann sehe ich zu, dass ich ins Bett komme.

An Schlaf ist jedoch nicht zu denken. Keine Ahnung, was mein Gedankenkarussell mal wieder in Betrieb gesetzt hat, aber es ist fast Mitternacht, als ich das letzte Mal auf den Wecker schaue.

© Gerry Stratmann / Nathan Jaeger / Gay-fusioN GbR

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Published on November 06, 2021 09:56

[Leseprobe] Jahreszeiten - Frühling

 Leseprobe

Zwei Probleme - eine Lösung

Kapitel 1

„Geh weg! Es ist noch dunkel draußen.“ Ungehalten wedle ich mit dem Arm an der Bettkante entlang.

Augenblicklich stupst eine kalte Hundenase gegen meinen Handrücken und die nasse Zunge schlabbert gleich hinterher.

Manchmal hasse ich meinen Hund! Ganz besonders, wenn es ihm in den Kopf kommt, morgens um sechs Gassi gehen zu wollen.

„Keno! Körbchen! Heia machen“, versuche ich es mit gutem Zureden.

Leise klacken die Krallen seiner Pfoten auf dem Laminat.

Unzufrieden brummelnd wirft er sich in sein Hundebett.

Wie immer, wenn ihm etwas nicht passt, trifft er mit seinem Kampfgewicht von knappen fünfunddreißig Kilo, zielsicher das Fußende meines Bettes und rüttelt mich gehörig durch.

Egal! Ich ziehe mir die Decke über die Ohren und schließe die Augen. Wenn ich ganz viel Glück habe, schläft er noch ein paar Stunden.

Klappt natürlich nicht. Warum sollte es auch?

Der arme Keno weiß nicht, dass Wochenende ist, und ich gerne ausschlafen würde.

Nachdem er, leidend seufzend, zum dritten Mal die Position gewechselt und dem Bettrahmen ein mittleres Erdbeben verpasst hat, ergebe ich mich in mein Schicksal und schlage die Decke zur Seite.

„Du hast gewonnen, mein Freund.“ Kaum berühren meine Füße den Boden, steht er freudig wedelnd neben mir.

Wir spulen unser übliches Morgenritual ab.

Ich breite die Arme aus und er springt mit den Vorderpfoten auf meine Oberschenkel. Jetzt muss ich ihn ordentlich durchknuddeln, hinter den Ohren kraulen und mir im Gegenzug ein paar Nasenstüber abholen.

„Wie sieht’s aus, darf ich mich wenigstens waschen, bevor wir rausgehen?“

„Wuff.“

Okay, die Antwort bekomme ich jedes Mal und darf mir dann aussuchen, ob es ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ heißen soll.

Ich mache mich auf den Weg ins Bad, nicht ohne mindestens einmal über das schwarze Untier zu stolpern, das ununterbrochen um mich herumwuselt.

Die Tür vor seiner Nase zu schließen, habe ich bereits vor langer Zeit aufgegeben.

Kaum war aus meinem niedlichen kleinen Welpen ein Junghund geworden, hat er sich selbst beigebracht, Türen zu öffnen.

Zu Anfang fand ich es befremdlich, beim Pinkeln und Duschen beobachtet zu werden, aber man gewöhnt sich bekanntlich an alles.

Während ich mir die Zähne putze, sitzt er neben mir und hopst ungeduldig von einer Vorderpfote auf die andere.

„Du oller Nervsack, hör auf zu treiben“, nuschle ich mit der Zahnbürste im Mund.

Bei meiner Rückkehr ins Schlafzimmer reiße ich als erste Amtshandlung das Fenster weit auf. Der April ist in diesem Jahr wirklich so launisch, wie man es ihm nachsagt.

Brr, die einströmende Luft, die meinen fast nackten Körper trifft, ist arschkalt. Ich suche mir eine Thermohose samt dickem Fleecepulli raus und mummle mich fröstelnd auf schnellstem Weg darin ein.

„Kriege ich noch einen Kaffee, ehe wir losgehen?“, frage ich, weil es ebenso zu unserem morgendlichen Ablauf gehört.

Kenos Antwort ist eindeutig. Er verschwindet blitzartig und ich weiß genau, wo ich ihn finde. In der Diele wartet er vor der Garderobe darauf, dass ich ihm Halsband und Leine anlege.

Ich hocke mich auf die Bank, um meine wetterfesten Schuhe anzuziehen. Dabei behindert mich ständig eine nasse Hundenase.

„Pfui!“, schimpfe ich Keno an und er setzt sich brummelnd hin.

Jetzt noch die dicke Steppweste und ich bin startklar.

„Du bist ein Menschenschinder“, maule ich liebevoll. „Na los, dann wollen wir mal ein paar Bäume und Sträucher anpinkeln gehen.“

Freudig hüpft er an mir hoch, als ich die Wohnungstür öffne.

Praktischerweise befinden sich im Umkreis meiner Wohnung drei verschiedene Parks. Um diese Uhrzeit sind, speziell am Wochenende, noch keine weiteren Hundebesitzer unterwegs und ich kann Keno von der Leine lassen, sobald wir weit genug von der Straße entfernt sind.

Er wuselt mal nach rechts mal nach links, schnüffelt jeden einzelnen Grashalm, jedes Gebüsch und sämtliche Bäume ab. Markiert mal hier, mal da.

Zwischendurch pfeife ich ihn zurück, lasse ihn ein Stück des Weges bei ‚Fuß‘ gehen, damit er nicht zu übermütig wird.

Wir erreichen das mittig im Park gelegene Biotop und ich erlaube ihm, erneut loszurennen.

Eine Weile trabt er fröhlich wedelnd vor mir her, bis er urplötzlich die Nase dicht auf den Boden senkt.

Anscheinend hat er eine spannende Fährte aufgenommen.

In Windeseile verschwindet er in dem für Menschen undurchdringlichen Dickicht aus mannshohen Rohrkolben und Schilf, welche den Teich umgeben.

Was soll der Scheiß? So was hat er noch nie gemacht.

„Keno! Hierher! Sofort!“, brülle ich in die morgendliche Stille.

Die gesamte Fauna in meiner Umgebung nimmt mir das sehr übel.

Vögel, in unterschiedlichsten Tonarten schimpfend, starten in Scharen aus den Bäumen, Enten schnattern aufgebracht hinter ihrem Schutzwall aus Pflanzen.

Ich versuche erneut, ihn durch Rufe zur Rückkehr zu bewegen, bevor ich mich schaudernd in das Gestrüpp stürzen muss, in dem er verschwunden ist. Ich darf gar nicht daran denken, welche Krabbeltiere mir anschließend auf dem Pelz kleben.

„Keno! Fuß!“

Die großen Pflanzen bewegen sich raschelnd, saugende, schmatzende Geräusche dringen zu mir.

Siehe da!

Mit hängenden Ohren kriecht ein vor Dreck starrender Schäferhund aus dem Dickicht. Sein schlechtes Gewissen drückt ihn nieder. Er rutscht fast auf dem Bauch, als er sich mir nähert.

Super! Matschverklebtes Fell an Beinen und Bauch.

Mein Hund ist nicht mehr schwarz, sondern zur Hälfte braun. Danach fällt mein Blick auf seine rostig-braun verfärbte Schnauze.

Ist das Blut?

„Hier ran. Sitz!“

Schuldbewusst schaut er mich an und beeilt sich, meinem Befehl zu folgen.

Ich beuge mich zu ihm herunter und ziehe seine Kiefer auseinander.

Hm, Verletzungen hat er weder im Maul noch an den Lefzen. Bestimmt hat er irgendein kleines Tier erlegt und gefressen. Sehr ungewöhnlich. Bisher haben sich seine Versuche, verbotene Sachen zu fressen, auf Hasenköttel beschränkt.

Daran muss ich arbeiten. Das darf nicht noch einmal vorkommen.

„Na, du Schlingel. Was hast du dir einverleibt? Muss ich dir schon wieder einen Vortrag halten, wie ungesund es ist, etwas anderes als dein Hundefutter zu fressen?“

Die momentan dürre, matschtriefende Rute bewegt sich zaghaft wedelnd über den sattgrünen Rasen und hinterlässt einen dunklen Halbkreis. Er senkt erneut den Kopf, nachdem ich seine Schnauze freigegeben habe.

„Schämst du dich wenigstens?“

Sofort wirft er sich auf den Boden und legt beide Pfoten über die Augen. Lachend tätschle ich ihm den Kopf.

„Braver Hund“, lobe ich.

Von klein auf habe ich ihm lustige und alberne Tricks beigebracht, was mir eben so eingefallen ist.

Inzwischen sind Keno und ich seit vier Jahren liiert und er ist mein ganzer Lebensinhalt.

Ich pflege ausgesprochen wenige persönliche Kontakte zu Menschen, abgesehen von meinen Eltern und meinem älteren Bruder samt Anhang.

Zu meinem Leidwesen lassen sich Begegnungen mit anderen Individuen nicht ganz vermeiden. Schließlich muss ich einkaufen und mit dem Hund raus.

Besonders andere Hundebesitzer sind immer der Meinung, sie müssten mir ein Gespräch aufzwingen und reagieren ziemlich konsterniert, wenn ich nicht darauf eingehe.

Leises Fiepen erinnert mich daran, wo ich gerade bin.

„Na los, du musst unter die Dusche.“ Das letzte Wort löst jämmerliches Gejaule aus.

„Selbst schuld. Ich hab nicht gesagt, du sollst dich im Schlamm suhlen.“

Wie ein Häufchen Elend trabt er neben mir her, bis wir zu Hause sind.

Als gut erzogener Hund wartet Keno vor der Wohnungstür, bis ich mit einem Arm voller Handtücher zu ihm zurückkehre.

Ich säubere ihn notdürftig und schicke ihn anschließend ins Bad.

Bis auf die Boxershorts ziehe ich mich aus. Keno liebt zwar Wasser, aber die Dusche ist ihm verhasst. Dementsprechend bin ich nachher ebenso nass wie er.

~*~

Endlich sitze ich mit einem wohlverdienten großen Pott Kaffee in der Frühstücksecke.

Mein tödlich beleidigter Schäfi liegt in seinem Körbchen und wirft mir strafende Blicke zu.

Ich schmunzle, während ich genüsslich an meinem Kaffee nippe.

Mal überlegen, was steht für heute auf dem Plan?

Auf jeden Fall ein Großeinkauf. Die Inspektion meines Kühlschranks hat ergeben, dass ich erst frühstücken kann, wenn ich Brot, Brötchen und Aufschnitt besorgt habe. Mit Fleisch und Gemüse bin ich ebenfalls nicht mehr gut versorgt.

Bevor ich mich dazu motivieren kann, unter Menschen zu gehen, brauche ich dringend noch einen zweiten Kaffee.

Um kurz vor neun mache ich mich auf den Weg zum Auto.

Keno bleibt brav zu Hause. Sein Fell ist noch feucht und er bekommt im Auto nicht genug Bewegung, um sich warm zu halten. Viele behaupten zwar, Hunde können sich auf diesem Weg keine Erkältung einfangen, aber das ist mir egal.

Immerhin habe ich die Schweinerei mit ihm schon einmal durchgemacht und fand das nicht lustig. Ich habe mit ihm gelitten, als er schlapp und lustlos in seinem Körbchen lag, aber immer, wenn er niesen musste, flog der ganze Rotz quer durch die Wohnung und blieb überall kleben.

Einige Tage habe ich mein Leben nur auf den Knien verbracht, um die Spuren schnellstmöglich von Möbeln und Wänden zu entfernen. Das muss ich nicht noch mal haben.

Ich hege die Hoffnung, dass an einem Samstag um diese Uhrzeit noch nicht so viele Leute unterwegs sind. Als ich auf den Parkplatz des Supermarktes einbiege, werde ich allerdings eines Besseren belehrt.

Eine Million Menschen und ich! Gruselig!

Es kostet mich Überwindung, mein schützendes Fahrzeug zu verlassen, aber ich brauche Vorräte. Also, Augen zu und durch.

Der Einkauf zieht sich. Es dauert über eine Stunde, ehe ich den Laden verlassen kann. Nach endlosem Geschiebe und Geschubse, besonders im Kassenbereich, atme ich vor der Tür erst mal tief durch.

Frische Luft! Bewegungsfreiheit.

Nichts wie ab nach Hause.

Denkste!

Erst will mein Auto nicht anspringen, als es nach etlichen Versuchen endlich läuft, leuchtet das Motorsymbol im Display auf und die Karre bockt wie eine alte Ziege.

Ich schalte den Wagen aus, warte ein paar Minuten und versuche erneut mein Glück. Jetzt schnurrt er wie ein Kätzchen. Erleichtert atme ich auf. Allerdings währt die Freude nicht lange.

Nachdem ich die halbe Strecke hinter mir habe, zieht der Motor nicht mehr und fängt erneut an zu bocken.

So ein Mist! Ausgerechnet am Wochenende. Sämtliche Werkstätten sind geschlossen und einen Notdienst rufe ich nicht an, dafür bin ich zu geizig.

Im Schneckentempo tuckere ich mit eingeschalteter Warnblinkanlage heim.

Ein paar merkbefreite Idioten sind trotzdem der Meinung, mir mit ihrem Gehupe auf den Sack gehen zu müssen.

„Macht die Augen auf, ihr Hirsel“, brülle ich.

Durch mein halb geöffnetes Fenster hören mich zumindest die Fußgänger.

Ich kann es an ihren verschiedenen Reaktionen ablesen. Manche schütteln tadelnd den Kopf, andere amüsieren sich, einer reckt mir sogar den erhobenen Daumen entgegen.

Angefressen stelle ich den Wagen in die Garage, schnappe mir die Einkaufstüten und trage sie nach oben.

Zum Glück muss ich vorläufig nirgendwo mehr hin, es reicht also, wenn ich mir nächste Woche Gedanken darüber mache, was ich wegen des Autos unternehmen will.

Keno wackelt sich vor Freude den Hintern ab, als ich zur Tür hereinkomme. Wie immer hebt das meine Laune schlagartig.

„Na, mein Dicker. Hast du mich vermisst?“

„Wuff. Wuff.“ Zur weiteren Bestätigung hüpft er wie ein Flummi auf und ab, versucht dabei, mir das Gesicht abzulecken.

„Warst du lieb? Hast du ein Leckerli verdient?“

Sofort setzt er sich hin, hebt die Augenbrauen, wodurch sich seine Stirn in Falten legt, und schaut mich treuherzig an.

„Braver Junge.“ Auf mein Nicken folgt er mir und wartet vor der Küchentür, bis ich die Einkäufe verstaut habe.

Es hat lange gedauert, bis er begriffen hat, dass die Küche für ihn tabu ist. Er hat bei dieser Übung ganz schön auf meinen Nerven herumgetrampelt. Ich fand es echt nicht lustig, hundert Mal am Tag ‚raus da‘ zu rufen.

Weil er so brav gewartet hat, bekommt er zur Belohnung ein getrocknetes Rinderohr, mit dem er sich freudig wedelnd in sein Körbchen verzieht.

Für die nächsten zwei Stunden ist er beschäftigt und ich bereite mir, nachdem ich bequeme Schlabberklamotten angezogen habe, ein opulentes Frühstück.

Rührei mit Schinken, frisch gepressten Orangensaft, Brötchen, Aufschnitt und – ganz wichtig – einen weiteren großen Pott dampfenden Kaffees.

Während ich genüsslich alles verdrücke, lese ich am Tablet meine Emails.

Oh Mann, die Mail des Verlages, der gelegentlich Aufträge an mich vergibt, wenn seine eigenen Kapazitäten nicht ausreichen, lässt mich aufmerken.

Sie teilen mir lapidar mit, dass sich kurzfristig ihr Zeitplan geändert hat und die Veröffentlichung des Thrillers, den ich in Arbeit habe, vorverlegt wurde. Ich werde aufgefordert, das fertige Lektorat in zehn Tagen abzuliefern.

„Ihr tickt doch nicht ganz sauber!“, schimpfe ich lautstark.

Meinen die etwa, ich hätte sonst nichts zu tun?

Keine Ahnung, ob ich das hinbekommen kann. Ich öffne meinen Terminkalender.

Hm, neben dem Verlagsauftrag stehen aktuell noch drei Kurzgeschichten in der Pipeline. Für zwei Romane, zwei Novellen und eine weitere Kurzgeschichte liegen zwar Anfragen vor, aber ich habe bisher keine Details, geschweige eine Deadline erhalten.

Der Autor des Thrillers ist ein alter Hase, ich kenne alle seine Bücher und habe sie immer begeistert verschlungen. Dies ist der erste Roman von ihm, den ich selbst lektoriere, aber auf den bisher bearbeiteten 300 Seiten habe ich weder Zeit- noch Logikfehler gefunden. Sein Schreibstil ist flüssig und erforderte nur wenige Korrekturen. Wenn das auf den restlichen 420 Seiten so bleibt, wovon ich stark ausgehe, kann ich den gesetzten Abgabetermin einhalten.

Grundvoraussetzung ist allerdings, dass ich die anderen laufenden Projekte ein paar Tage nach hinten schieben kann.

Für diese Autoren arbeite ich schon einige Jahre, daher bin ich zuversichtlich, dass zumindest zwei meiner Bitte zustimmen werden.

Schnell tippe ich eine Nachricht an die drei und bitte sie, sich kurzfristig telefonisch bei mir zu melden.

Ich ziehe es vor, solche Dinge persönlich zu klären. Textnachrichten werden gerne mal falsch aufgefasst.

Dem Verlag teile ich mit, dass ich daran arbeite, andere Termine zu verschieben und erst Montag eine konkrete Antwort geben kann.

Ade, ruhiges Wochenende.

Ich nehme den letzten Kaffee mit ins Arbeitszimmer und rufe die Datei des Thrillers auf.


 

© Gerry Stratmann / Nathan Jaeger / Gay-fusioN GbR Zurück zur Hauptseite 'Gay-fusioN'
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Published on November 06, 2021 09:47

[Leseprobe] Jahreszeiten - Sommer

 Leseprobe

Custom Painting mit Würze

 

von Gerry Stratmann

Im Oktober 2012 in ‚Kräutercode‘ – einer Anthologie des Incubus Verlags – erstmalig erschienen.

Hier jetzt die komplett überarbeitete, längere Version.


 

Zwischen zusammengepressten Zähnen entlasse ich vorsichtig den Atem aus meiner Lunge.

Fast hätte ich die Hand verrissen, weil mein Kumpel Jörg wütend seine Farbpistole durch die Werkstatt pfeffert. Das Motiv, an dem ich arbeite, wäre damit versaut gewesen.

Genervt ziehe ich den Mundschutz herunter. „Alter, mach hier nicht so ’ne Welle, ich versuche konzentriert zu arbeiten. Was ist denn los?“

„Musste der Kunde sich unbedingt diese aufwendigen Totenköpfe aussuchen? Samstag früh startet mein Flieger, bis dahin werde ich mit dem Mist niemals fertig!“, schimpft er und blickt frustriert zu mir rüber.

Ich lege die Airbrushgun zur Seite und gehe zu Jörgs Arbeitsplatz. Mein Kollege, Freund und gleichzeitig Mitinhaber unserer kleinen Firma für Custom Painting hat recht. Es ist nicht drin, in der Zeit, die ihm noch zur Verfügung steht, den Tank und die Schutzbleche der Harley fertigzustellen.

„Die Fender schaffst du locker bis Freitag. Um den Tank kümmere ich mich ab morgen. Mit den Snakes an der Kawa bin ich so gut wie durch. Bleiben nur die Motorhauben der beiden Autos. Wie du weißt, sind die Besitzer zwei Wochen in Urlaub, also können die noch ein paar Tage liegenbleiben. Ich habe genügend Zeit, deine Arbeit zu übernehmen.“

„Rainer, du hast eine ganz andere Technik als ich. Denkst du, der Auftraggeber bemerkt den Unterschied nicht?“ Skeptisch schaut er mich an.

„Das glaubst du doch selbst nicht. Die Kunden haben keinen Blick für solche Kleinigkeiten, wenn sie ihre glänzenden Prachtstücke in Empfang nehmen.“

Grinsend knuffe ich meinem zweifelnden Freund den Ellenbogen in die Rippen. „Lassen wir es einfach drauf ankommen.“

„Auf deine Verantwortung. Allerdings war der Typ schon bei der Auftragserteilung ein richtiges Ekelpaket. Ich fand ihn extrem unfreundlich und unhöflich. Weißt du noch, wie der sich angestellt hat? Wir sollen sein Baby bloß gut behandeln und keinen Kratzer hinterlassen!“

Oh ja! Seufzend erinnere ich mich an den Kerl.

Mir wäre fast die Kinnlade auf den Arbeitstisch geknallt, als er durch die schmale Werkstatttür herein kam.

Ich bin nicht gerade klein geraten, aber dieser Mann überragte mich um gute zehn Zentimeter. Breite Schultern, schmale Hüften, dazu ein herrisches Auftreten. Für sein Alter, ich schätzte ihn auf Mitte bis Ende dreißig, sah er verdammt geil aus.

Allein der Gedanke an den knackigen Hintern in der engen Lederhose bringt mein Blut erneut in Wallung. Energisch dränge ich die viel zu lebhaften Bilder beiseite.

Ehe ich den Rückweg antrete, werfe ich Jörg einen strengen Blick zu.

„Falls durch deinen Wutausbruch die Spritzpistole im Arsch ist, zahlst du das aus eigener Tasche. Als Versicherungsschaden lasse ich das jedenfalls nicht gelten.“

„Geizkragen“, murmelt er sich in den Bart, was mir ein belustigtes Kichern entlockt.

Widerwillig widme ich mich den abschließenden Arbeiten am Tank der Kawasaki.

Deren giftgrüne Originalfarbe bildet auf Wunsch des Kunden weiterhin den Untergrund. Inzwischen habe ich ein Wirrwarr miteinander verwobener Schlangenkörper darüber gesprayt. Die Biester schillern in allen Farben des Regenbogens.

Jeder Farbwechsel hat mich Überwindung gekostet, den mein Körper zusätzlich mit angewidertem Schütteln begleitete. Wie kann man das Aussehen dieser schönen Maschine nur so verschandeln?

Mit Engelszungen habe ich auf den Besitzer eingeredet, aber er ließ sich einfach nicht davon überzeugen, dass es für diese Karre erheblich geschmackvollere und passendere Motive gibt.

Na ja, des Menschen Wille ist sein Himmelreich, und ich muss mit dem Teil schließlich nicht auf die Straße.

~*~

Vor knapp zwei Jahren haben mein bester Freund Jörg und ich uns selbstständig gemacht. Seitdem war ich schon häufig gezwungen, grauenvolle Kundenwünsche zu erfüllen. Man sollte meinen, ich hätte mich inzwischen damit abgefunden. Leider ist das nicht der Fall.

Bei Autos lässt es mich verhältnismäßig kalt, aber wenn ich Motorräder so verunstalten muss, geht mir das gehörig gegen den Strich.

Ich liebe Motorräder! Sie sind meine große Leidenschaft. Dazu kommen meine künstlerische Ader und die nicht enden wollende Fantasie, wie man die heißen Teile optisch aufmotzen kann. Sobald ich Fahrer und Zweirad zusammen sehe, sprudeln die Ideen hervor wie aus einem Geysir.

Zu meinem Leidwesen kommen die meisten Kunden mit bestimmten Vorstellungen und lassen sich nur schwer wieder davon abbringen. So wie der Fahrer der Kawasaki.

Unsere Firma ist finanziell noch nicht so gut gestellt, dass Jörg oder ich es uns leisten können, bestimmte Aufträge abzulehnen.

Hoffentlich spricht sich weiter herum, dass wir Qualität zu annehmbaren Preisen liefern, dann bin ich bald nicht mehr gezwungen, gegen meine Überzeugung zu handeln.

Endlich sind die letzten Farbhighlights gesetzt, und ich betrachte mein Werk von allen Seiten. Obwohl ich bei dem Motiv immer noch kotzen möchte, ist mir die Arbeit sehr gut gelungen.

Jetzt muss noch der schlag- und kratzfeste Lack aufgesprayt werden. Über Nacht wird die Versiegelung ausreichend trocknen, damit ich die Maschine wieder zusammenbauen kann.

Ich gehe ins Büro, um mit dem Kunden telefonisch einen Abholtermin zu vereinbaren. Bevor ich mein Vorhaben in die Tat umsetzen kann, kommt ein Anruf herein.

„Metallic Paint, Rainer am Apparat.“

„Marcel hier. Ich will wissen, wann meine Harley fertig ist.“

Boah, der hat vielleicht einen herrischen Ton am Leib.

Arschloch! Geht es vielleicht noch arroganter?

Meine Finger schließen sich vor Wut fest um den Hörer. Das Plastikmaterial knirscht und knackt protestierend unter der brutalen Behandlung.

„Vor Montag wird das nichts. Du hast dir ein extrem aufwendiges Motiv ausgesucht, das erfordert Präzisionsarbeit. Wenn du mit hingerotzter Arbeit zufrieden bist, musst du dir eine andere Firma suchen.“

Mir ist absolut klar, dass ich mich gerade nicht kundenfreundlich verhalte, aber dieser Kerl geht mir gehörig auf die Eier. Kann er nicht höflicher fragen?

„He Mann, fürs Wochenende habe ich eine Tour geplant, dafür brauche ich mein Baby! Wenn ihr nicht in der Lage seid, anständig und schnell zu arbeiten, stellt mir gefälligst eine andere Karre zur Verfügung!“

Der ist wohl nicht ganz frisch in der Birne!

„Ich betreibe hier keine Verleihfirma! Wir rufen an, wenn deine Maschine fertig ist!“

Mit laut gebrülltem „Fuck!“ knalle ich den Hörer auf.

„Oh, war das Mister Macho, den du so angeblafft hast?“, ruft Jörg aus der Werkstatt rüber.

Sein Gesicht muss ich gar nicht sehen, das fette Grinsen trieft aus jedem Wort.

Wütend stapfe ich um den Schreibtisch herum und lasse mich in den alten, quietschenden Drehstuhl fallen.

„Dieser Wichser verlangt fürs Wochenende eine Leihmaschine, damit er sich on the Road vergnügen kann. Was denkt der, wer wir sind? Blöder Idiot! Arrogantes, eingebildetes Arschloch! Der kann mich mal!“ Mit jedem Wort werde ich lauter, schreie am Ende fast.

Ich streiche mir fahrig durch die Haare, zwinge mich, tief durchzuatmen.

Warum bringt mich dieser Kerl nur so aus der Fassung? Ich neige nicht zu solchen Temperamentsausbrüchen. Jörg ist eher der aufbrausende Teil unseres Gespanns.

Mein Kompagnon, dieser hinterhältige Sack, hat sich leise herangeschlichen.

Lässig gegen die Türzarge gelehnt, die Hände vor der Brust verschränkt, verpasst er mir feixend eine Breitseite.

„Rain kann es sein, dass dir der Typ unter die Haut geht?“

Gleich drehe ich ihm den Hals um! Hoffentlich erstickt er an seinem dämlichen Kichern. Der Mistkerl weiß genau, dass ich es wie die Pest hasse, wenn er meinen Namen so verunstaltet.

„Vom Aussehen passt er genau in dein Beuteschema. Allerdings bezweifle ich stark, dass Mister Macho sich dominieren lässt. Vorausgesetzt er ist überhaupt schwul.“ Lachend klopft sich Jörg, zur Krönung seiner Rede, auf die Schenkel.

„Hast du nichts Besseres zu tun, als mich zu verarschen? Ab an deine Fender oder dein Urlaub ist gestrichen“, fauche ich.

Lachend trollt er sich. Er kennt mich und weiß, dass mein Spruch nicht ernst gemeint ist.

Ich bleibe noch einen Moment sitzen und sortiere meine Gedanken.

Wenn ich ehrlich zu mir bin, muss ich mir eingestehen, dass mein Freund den Nagel auf den Kopf getroffen hat. Allerdings werde ich den Teufel tun, das laut auszusprechen.

Rein optisch ist Marcel wirklich genau meine Kragenweite, abgesehen von seiner Arroganz. Ich ziehe die sanften, anschmiegsamen Jungs vor. Nebenbei ist der Kerl auch viel zu alt. Schließlich bin ich gerade erst fünfundzwanzig geworden.

Der Mann hat mich nur so beeindruckt, weil ich schon ewig keinen Sex mehr hatte, rede ich mir zur Beruhigung ein.

Seit Jörg und ich die Firma gegründet haben, besteht mein Leben nur noch aus Arbeit. Hocke ich nicht in der Werkstatt, kümmere ich mich um den Bürokram.

Ich kann mich kaum erinnern, wann ich das letzte Mal auf der Piste war, um einen willigen Partner zu finden.

Das muss ich noch heute ändern. Es wäre mehr als peinlich, wenn ich wegen dieses Wichsers beim nächsten Zusammentreffen anfange zu sabbern.

Ein kurzer Blick zur Uhr zeigt, dass es fast siebzehn Uhr ist. Jetzt aber flott an die Arbeit, damit ich zeitig nach Hause komme.

Ich bin fast an der Tür, als mir einfällt, dass ich den Besitzer des Schlangenmonsters noch anrufen muss.

Wir vereinbaren einen Termin für morgen Nachmittag, anschließend mache ich mich endgültig an die Lackierung der Kawa.

Beiläufig setze ich Jörg davon in Kenntnis, dass ich heute nicht bis in die Puppen in der Werkstatt bleiben will, da ich noch etwas vorhabe.

Kurz wendet er sich mit wissendem Grinsen zu mir um, was ich geflissentlich übersehe.

„Super! Dann kann ich schon einige Urlaubsvorbereitungen treffen.“

Ich nicke zustimmend und drücke auf den Knopf der Sprühpistole.

Es wird trotzdem fast zwanzig Uhr, ehe ich die Werkstatt abschließe.

Wir haben die Abschlussbesprechung wichtiger firmeninterner Dinge vorgezogen. Dadurch kann Jörg sich morgen voll auf die Arbeit konzentrieren.

Sobald die Fender fertig sind, will er verschwinden. Sein Flug geht Samstag in aller Frühe und mir ist klar, dass er vorher zuhause noch eine Menge zu tun hat.

Seit über zwei Jahren hat keiner von uns mehr richtig Urlaub gemacht. Höchstens ein verlängertes Wochenende, wenn die Nerven einfach nicht mehr mitspielen wollten. Daher gönne ich ihm die 14-tägige Auszeit von Herzen.

Sollten keine ernstzunehmenden geschäftlichen Schwierigkeiten auftreten, werde ich im Winter zum Skilaufen fahren, um selbst etwas zu entspannen.

~*~

Zuhause angekommen falle ich wie ein hungriger Wolf über meinen Gefrierschrank her.

Mist! Darin befindet sich nur noch Fertigfutter. All meine selbst gekochten Mahlzeiten sind aufgebraucht.

Notgedrungen entscheide ich mich für ein indisches Hähnchen-Curry.

Zähneknirschend fülle ich den Packungsinhalt auf einen Teller und schiebe ihn in die Mikrowelle.

Bis das Zeug heiß ist, habe ich Zeit, im Schlafzimmer abzutauchen und mich ausgehfein zu machen.

Obwohl es für meine Verhältnisse schon recht spät ist, halte ich an dem Vorhaben fest, auf Tour zu gehen.

Der Gedanke an schnellen, unverbindlichen Sex lässt mich nicht mehr los, und ohne Druckabbau finde ich keine Ruhe. Handbetrieb wird mir heute allerdings nicht die gewünschte Entspannung liefern.

Nur gut, dass ich einige Lokale kenne, in denen sich auch an Wochentagen willige Partner finden lassen.

Geduscht habe ich in der Firma, aber rasieren muss ich mich noch. Ein Blick in den Spiegel und ein prüfender Handstrich über die Intimzone zeigen, dass eine Ganzkörperrasur angesagt ist.

Verdammt! Wenn ich es schon mal eilig habe. Aber so ungepflegt mische ich mich nicht unters Volk.

Was bleibt mir also übrig? Einschäumen, rasieren, danach noch mal unter die Dusche, um die restlichen Spuren abzuwaschen.

Ich bin stolz auf meine Geschwindigkeit. Pünktlich zum dezenten Klingeln der Mikrowelle werfe ich die nassen Handtücher in den Wäschekorb.

Nackt haste ich in die Küche und probiere das Curry.

Pfui Teufel! Das Zeug ist völlig geschmacklos. So kriege ich das nicht durch den Hals.

Rasch durchsuche ich das Gemüsefach des Kühlschrankes und finde zu meiner großen Freude noch eine Ingwerwurzel.

Unter Zuhilfenahme einer feinen Reibe verteile ich eine hauchdünne Schicht über meinem Essen. Jetzt ist das Futter wenigstens halbwegs genießbar.

Ich liebe Ingwer! Damit kann man jede Speise aufpeppen oder ihr einen besonderen Touch verpassen. Daher habe ich fast immer eine frische Wurzel im Haus.

Am Samstag ist auf jeden Fall ein Großeinkauf fällig.

Zwar stehe ich dann den ganzen Sonntag in der Küche, aber mein Gefrierschrank wird wieder mit eigenen Kreationen gefüllt sein.

Kochen ist neben Motorrädern meine zweite große Leidenschaft.

Auf Fertiggerichte greife ich nur im Notfall zurück. Manchmal bleibt mir jedoch nichts anderes übrig.

Oft komme ich einfach zu spät aus dem Betrieb, da fehlt mir dann die Zeit, mich in die Küche zu stellen, um etwas Frisches zuzubereiten.

© Gerry Stratmann / Nathan Jaeger / Gay-fusioN GbR

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Published on November 06, 2021 09:41

[Leseprobe] Traumloser Alpträumer

 Leseprobe


Seitdem ich auf der Welt bin, nein, eigentlich erst, seit ich im Kindergarten versucht habe, mir das Wort ‚Traum‘ erklären zu lassen, weiß ich, dass ich noch niemals geträumt habe.

Bis heute nicht, was bedeutet, dass seit meiner kindlichen Neugier ganze 33 Jahre vergangen sind.

Inzwischen bin ich 37 und noch immer absolut traumlos.

Zumindest, was eigene Träume angeht …

„Tamino, hättest du die Güte, dich zwei Minuten zu konzentrieren?“ Die herrische Stimme meiner Mutter Fioretta lässt mich mit den Augen rollen, dennoch gehorche ich und sehe sie interessiert an.

Oh nein, ich bin kein Muttersöhnchen, es ist mehr so, dass meine gesamte Familie sich dazu bemüßigt fühlt, mir möglichst oft und möglichst intensiv ins Leben zu pfuschen.

Ein wenig ungerecht ist diese Behauptung schon, aber irgendwie auch wahr.

Jeder hier auf dem Landsitz der Familie Pförtner von der Hölle ist neugierig auf den neuesten Tamino-Klatsch, bevormundend, wenn es um mein – dem Teufel sei Dank außerhalb dieses monströsen Hauses stattfindendes – Leben geht, oder einfach nur unglaublich selbstgefällig-weise.

Ich kann gar nicht genug Anführungszeichen an das ‚weise‘ denken!

Jeder will mir helfen, mit klugen Ratschlägen und allem, was man in meinem Leben so verderben könnte.

Jeder, das bedeutet im Einzelnen meine Mutter, meine Großeltern, ein paar Onkel und Tanten und vereinzelte Cousinen.

Die Familienmitglieder meiner Generation ziehen es größtenteils vor, möglichst weit weg zu leben.

Ich kann sie verstehen, aber weiter, als bis in die Stadtwohnung, in der ich wohne, habe ich es nach dem Studium nicht geschafft.

Muss ich erwähnen, dass ich am liebsten abtauchen und nie wieder zurückkommen würde?

Nein, das würde nichts bringen, abgesehen von jeder Menge Ärger.

Ich lebe tatsächlich ganz gut damit, dass meine Familie mich als ihren Mittelpunkt ansieht, auch wenn ich für dieses zweifelhafte Privileg zwei mir wahnsinnig wichtige Dinge meines bisherigen Lebens aufgeben musste.

Zum einen meinen Vater Rex, der vor vier Monaten gestorben ist, zum anderen meine Praxis.

Ich habe studiert, bin Doktor der Medizin mit Facharztausbildung als Psychiater und Psychotherapeut und einer Zusatzausbildung im neuen Fachbereich der Somnologie.

Da ich die Praxis schweren Herzens vor zwei Monaten geschlossen habe, nutze ich mein durch das Studium gewonnenes Wissen heute ausschließlich auf andere Art.

Wie heißt es doch so treffend?

Sei deinen Freunden nah, aber deinen Feinden näher.

„Was ist denn noch?“, frage ich wenig höflich, was zugegebenermaßen in meinem Naturell liegt.

In meinen Augen ist Takt nur der heuchlerische Versuch, die Wahrheit hinter als Höflichkeit getarnten Lügen zu verbergen.

„Christoph hat angerufen, du sollst zur Gegenzeichnung von zwei Schriftstücken erscheinen.“

Mein Großcousin Christoph, der Familienanwalt also. Dann handelt es sich bei den Dokumenten sicherlich um mein Testament und notarielle Verfügungen bezüglich meines mittlerweile einzigen Jobs.

Ich bin nicht sterbenskrank oder Ähnliches, aber ich lebe relativ gefährlich.

„Ja, ich kümmere mich darum“, gebe ich zurück. „Auch wenn ich mich ernsthaft frage, wofür ich ein Testament brauche. Ich habe schließlich keine Nachkommen!“

Diesen Nachsatz kann ich mir nicht verkneifen.

„Ich will dich nicht verlieren, Mino! Christoph besteht auf einem Testament …“, erklärt meine Mutter in deutlich versöhnlicherem Ton, und kommt mit wenigen, schnellen Schritten zu mir.

Ich sitze auf einem Diwan im grünen Salon, dem klassischen Wohnzimmer meiner uralten Familie.

Sie tritt dicht heran und nur Augenblicke später hat sie ihre kühlen Hände an meine Wangen gelegt.

Ich sehe sie an, bemerke wie immer die tiefsitzende Melancholie in ihrem Blick und muss hart schlucken. „Er fehlt mir auch, Mama.“

„Dein Vater wäre sehr stolz auf dich, Tamino. Das war er immer.“

Ich muss blinzeln, als ich erkenne, dass ihre hellgrauen Augen feuchter werden. Wie ist aus diesem doch recht dienstlichen Gespräch nun das hier geworden? Eine schmerzhafte und vernichtende Erinnerung an meinen Vater?

Rex Pförtner von der Hölle, der Mann, dem ich alles verdanke, wirklich alles.

Nicht nur das Gute!

Dennoch benötige ich nicht den Anblick der Trauer meiner Mutter, um selbst das Bedauern über den Verlust zu verspüren.

Mein Vater war alles für mich. Hilfe, Stütze, Lehrmeister, Vorbild, Tröster und Waffenbruder.

Er hat mir alles beigebracht, was ich zum Überleben wissen muss. Hat mir jeden Trick und Kniff gezeigt, um meine Lebensaufgabe ausführen zu können. Immer wieder. Nacht für Nacht.

Wobei …

Meine Tätigkeit hängt weniger von der Tageszeit ab, denn von den Gewohnheiten derer, um die es geht.

Seit ein paar Monaten stehe ich allein vor der Aufgabe, die mir meine Geburt in diese Familie nebst meinem Geschlecht eingebracht hat.

„Ich fühle mich so allein ohne ihn“, quetsche ich an dem dicken Kloß in meinem Hals vorbei.

„Ich weiß, Junge! Der Teufel weiß, ich würde es dir gern ersparen! Aber du weißt so gut wie jeder von uns, dass wir ohne dich in ernste Schwierigkeiten geraten werden.“ Die Eindringlichkeit, mit der meine Mutter diese tränenerstickten Worte sagt, lässt mich schaudern und ihre Hände ergreifen, die noch immer an meinem Gesicht liegen.

Wir leiden beide sehr darunter, dass Rex nicht mehr da ist. Das tun alle Familienmitglieder.

Aber im Gegensatz zu meiner Mutter, die in jeglicher Form unschuldig an seinem Ableben ist, wird mein Gewissen stark davon belastet.

Es ist meine Schuld.

Vielleicht habe ich deshalb gar kein Recht, um ihn zu trauern?

Ich weiß es nicht. Aber ich kann die Gefühle auch nicht abstellen. Weder die guten noch die schlechten.

Ich drücke die Hände meiner Mutter sacht und stehe auf, um sie in eine enge Umarmung zu ziehen.

„Es tut mir so leid, dass ich ihn nicht davor bewahren konnte!“, wispere ich.

„Das weiß ich! Ich denke aber auch, dass du es nicht hättest verhindern können!“

Redet sie das sich oder mir ein? Ich weiß es nicht und beschließe, es dabei bewenden zu lassen.

Zu oft schon hat ein Gespräch über unsere Trauer diese Wendung genommen.

„Vielleicht hast du recht“, erwidere ich deshalb nur und drücke sie noch einmal an mich, bevor ich sie auf Abstand bringe.

Sie wischt hastig die Tränen fort, und ihre Gestalt strafft sich.

Meine Mutter verbirgt wie vorhin wieder ihre Gefühle hinter einem geraden Rücken und festem Auftreten.

Sie ist eine starke Frau, auch wenn das aufgrund ihrer zierlichen Figur niemand vermuten würde.

Seit dem Tod meines Vaters trägt sie ausschließlich schwarze Kleidung, heute einen knielangen Rock und eine einfache, taillierte Bluse.

Ihr von grauen Strähnen durchzogenes, etwa kinnlanges Haar frisiert sie immer zu einem akkurat liegenden Bob.

Durch meine Umarmung ist alles etwas durcheinandergeraten, weshalb ich die Hand hebe, um die widerspenstigen Strähnen glattzustreichen.

Sie zwingt sich zu einem tapferen Lächeln, doch ich weiß so gut wie sie, dass es ihre Augen niemals wieder erreichen wird.

Sie hat gelebt für meinen Vater und mich, nein, für unsere gesamte Sippe. Doch was vor vier Monaten geschehen ist, hat uns alle aus der Bahn geworfen.

Seitdem verkriecht sich meine Mutter stets hier im Landsitz.

Früher kam sie öfters  in der Stadt vorbei, hat mich besucht, ging mit mir shoppen …

Ich habe zu meinen Eltern das beste nur mögliche Verhältnis. Nun ja, zu meiner Mutter. Aber das zu Rex war genauso, bis es folgenschwer endete.

Sie wendet sich geschäftig ab, streicht in einer schon hilflos anmutenden Geste ihren perfekt sitzenden Rock glatt, und tut mir einfach wahnsinnig leid.

Immer wieder ertappe ich mich dabei, dass ich mir wünsche, nicht mein Vater, sondern ich wäre in jener Nacht gestorben, doch weiß ich auch, dass es für meine Mutter kaum etwas geändert hätte.

Verlust der engsten Familie ist niemals leicht zu ertragen.

Ich atme tief durch und zwinge meine Gedanken in eine andere Richtung.

„Weiß Liliana schon, was es wird?“, frage ich und versuche, mir meine bange Ahnung nicht anhören zu lassen.

„Ein Mädchen“, flüstert meine Mutter und fährt herum, als ich erleichtert „Dem Teufel sei Dank!“, sage.

„Tamino!“, weist sie mich zurecht, wie es wohl nur Mütter können, denn ungeachtet meines Alters zucke ich ob ihres peitschenartigen Tonfalls zusammen.

„Ich weiß, was du sagen willst“, beginne ich und hebe beschwichtigend die Hände. „Aber du wirst mich nicht daran hindern können, mich zu freuen, wenn keine weiteren Jungs in unserer Familie geboren werden.“

Sie seufzt tief und geht zu dem bereitstehenden Kaffeetablett, um mir und sich eine Tasse einzuschenken.

Irgendeiner der zahlreichen Hausgeister muss es eben gebracht haben, vermutlich, als Mutter und ich uns umarmt haben.

Ich gehe zu ihr, nehme die Tasse aus feinem, dünnwandigem Porzellan entgegen, rühre einen Löffel Zucker hinein und nippe von meinem Kaffee.

„Ich mag es nicht, wenn du das tust, das weißt du.“

Ich nicke. „Natürlich, aber denkst du wirklich, ich will, dass noch jemand aus unserer Familie dieses, mein!, Schicksal teilen muss?“

Ihr nachsichtiges Lächeln zeigt mir, dass sie sich endgültig gefangen hat.

Nur Augenblicke später setzen wir uns wieder und die beinahe deckenhohe Flügeltür zum Foyer des Hauses springt auf.

Mich irritiert, dass ich das Getrappel der Kinderfüße ebenso wenig gehört habe wie das laute Geschrei.

Nach den drei Wirbelwinden, die ins Zimmer rauschen und sich als meine Nichten entpuppen, tritt gemessenen Schrittes auch meine jüngere Schwester ein.

Man sieht Liliana die vierte Schwangerschaft noch nicht an, aber wir alle wissen bereits davon.

Ich bin so froh, dass ihr Ungeborenes erneut ein Mädchen sein wird!

Meine Tasse habe ich schon bei ihrem Erscheinen vor den drei wilden Hummeln in Sicherheit gebracht, die mich mit „Onkel Tami!“ begrüßt haben. Nun schiebe ich die Süßen von mir und erhebe mich, um meine Schwester zu umarmen.

Liliana ist 34 Jahre alt und ich danke dem Teufel an jedem Tag, dass sie ein Mädchen ist.

Unsere Familie hat bereits genug Verluste erlitten, das wusste ich schon in jüngster Kindheit.

Manche der männlichen Familienmitglieder tragen ein besonderes Gen in sich. Wir mögen nicht mehr alles in jeder Einzelheit wissen, doch diese Erbanlage kennen wir genau.

Wir sind Diener des Teufels. Luzifer persönlich hat uns die Gene gegeben, die uns zu Traumjägern machen.

Noch heute sind wir, was unser Name sagt.

Pförtner der Hölle.

Ich habe viele Cousinen, Tanten, angeheiratete Onkel und süße kleine Nichten, aber niemand aus der gesamten Sippschaft trägt noch das gleiche Gen wie ich.

Übertragen wird es ausschließlich durch die weibliche Blutlinie.

Ein – höchst unwahrscheinliches! – Kind von mir wird nicht ‚infiziert‘ sein, solange ich es nicht mit einem weiblichen Familienmitglied zeuge. Beispielsweise einer entfernten Cousine.

Meine Eltern sind ein solcher Fall.

Wäre meine Mutter nicht Fioretta Pförtner von der Hölle, die Großcousine meines Vaters, hätte ich auch als Junge die Chance gehabt, anders zu leben.

Normal. Langweilig. Ungefährlich.

„Schön, dich zu sehen“, sagt meine Schwester, als ich sie an mich ziehe.

„Dito“, erwidere ich und drücke ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie ist zwar größer als meine Mutter, reicht mir aber dennoch nur bis an die Schulter.

Vielleicht ist es keine große Kunst, kleiner zu sein als ich, da ich mit meinen einssechsundneunzig sowieso die Mehrheit der Menschen überrage.

Meine Schwester begrüßt auch meine Mutter, dann setzt sie sich zu uns und bekommt statt des Kaffees einen Tee.

Sie liebt Tee und trinkt niemals Kaffee, es gibt somit keinen Zusammenhang zu ihrer Schwangerschaft.

Zwei meiner Nichten haben beschlossen, dass es ihnen im Salon zu langweilig ist, und sind wieder hinausgestürmt, um nach den Hunden zu suchen.

Schon immer gibt es in diesem Haus ein ganzes Rudel Hunde, die man nicht unbedingt als Schoß- oder Haushunde ansehen würde.

Soweit ich weiß, sind es momentan sechs vierbeinige Freunde des Menschen, die dieses gewaltige Herrenhaus nebst Gartenpark ihr Revier nennen.

Da eine der Hündinnen trächtig ist, wird sich diese Zahl in absehbarer Zeit stark verändern – Dobermänner haben oftmals große Würfe von acht bis zehn Jungen.

Unsere Rasselbande, die mit Hängeöhrchen und langen Ruten ausgestattet ist, wie es sich von Natur aus gehört, ist ein bunter Haufen von braun-braunen und schwarz-braunen Gesellen.

Meistens halten sie sich jetzt im Sommer in einer der kühlen, schattigen Ecken des Parks auf.

Das gesamte Grundstück ist von einer beinahe vier Meter hohen Mauer eingefriedet. Lediglich über das gigantische, zweiflügelige Haupttor und über zwei Nebentore auf der Rück- und der Westseite der Einfriedung, kann man das Grundstück betreten.

Niemand wird freiwillig einen Fuß auf das Gelände setzen, solange er der Familie – und damit den Hunden – nicht bekannt ist.

„Onkel Tami?“ Der bettelnde Ton meiner zweitältesten Nichte Larissa sichert ihr meine ungeteilte Aufmerksamkeit.

„Ja, Larissa?“

„Kommst du mi-hit?“

Ich grinse und ignoriere die leisen, sehnsüchtigen Seufzer meiner weiblichen Anverwandten, die die kleine Szene beobachten, als gäbe es nichts Interessanteres auf der Welt. Ich meine, ich und Kinder, das ist mehr als unwahrscheinlich, angesichts der Tatsache, dass ich stockschwul bin, aber Lily und Mama sehen das offenbar noch immer mit Wehmut.

Dabei sollte es doch wirklich ausreichen, dass ich meine Nichten in allem unterstütze und sie liebe, oder?

„Wohin denn?“, frage ich mit großen Augen und ziehe die Siebenjährige auf meinen Schoß.

Sie trägt genau wie ihre Schwestern fast nie Kleidchen oder Röcke.

Heute haben alle drei kurze Hosen und T-Shirts mit Aufdrucken an.

Auf Larissas steht ‚Volle Kanne!‘ und ich weiß nur zu genau, dass das ihr Motto ist.

Quirlig, aufgedreht, zu jedem Spaß und jeder Schandtat bereit, mussten der eine oder andere Hausgeist, wahlweise ihr Vater, ihr Opa oder ich sie schon aus einem Baum, von einem Gartenhausdach oder aus einem Graben retten.

Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glatt behaupten, dass sie jenes grausame Gen in sich trägt. Sie ist in ihrem zarten Alter schon ein echter Adrenalin-Junkie.

Während ihre Schwestern Silvia und Mathilda zwar wild, aber doch auch ein wenig ängstlich sind, ist Larissa das furchtloseste Wesen, das ich kenne – und ich kenne eine Menge, von denen andere nicht einmal eine Ahnung haben!

„Zu den Hunden! Oder dürfen wir heute zu den Pferden?“, erklärt die Kleine mir, und ich schürze nachdenklich die Lippen.

„Aber kein Ausritt!“, stelle ich sofort klar und erhebe mich mit dem Bündel Mädchen im Arm, das sich kichernd windet.

„Viel Spaß! Und passt auf die Pferdebremsen auf!“, ruft uns Liliana nach.

„Wir werden ihnen kein Haar krümmen“, gebe ich kichernd zurück.

Im Foyer setze ich Larissa ab und wir gehen Hand in Hand durch den Wirtschaftsteil des Hauses in den Nebenflügel, von wo aus wir ohne Umwege in den Abstellraum gelangen.

Hier stehen die Reitstiefel aller Familienmitglieder, außerdem sind auch Reithosen vorrätig.

Ich krame für meine Nichte eine wirklich alte Reithose von Liliana heraus, halte sie ihr prüfend an, und scheuche das Kind hinter den Vorhang in der Ecke, der als Umkleidekabine dient.

Minuten später steht sie in Socken und Reithose wieder vor mir und sieht mit ihren dürren Spargelbeinchen aus, als wolle sie einen Storch imitieren.

„Zieh die Stiefel an, Schatz. Ich muss mich auch umziehen.“

Mir meine sauteuren, hellen Jeans im Pferdestall zu versauen, widerstrebt mir.

Auch wenn nicht ich, sondern Larissa reiten wird, muss ich das Pferd führen und ihr Hilfen geben.

Noch lernt sie schließlich.

„Ich sag schon mal im Stall Bescheid!“, kräht sie aufgeregt und ist weg, bevor ich auch nur in die Reithose geschlüpft bin.

Schließlich folge ich ihr und gehe über den gepflasterten Hof zum Stall.

Hier stehen nicht wahnsinnig viele Pferde, nur zehn, aber die reichen auch, wenn es darum geht, wie viel Arbeit sie machen.

Zwei Stallburschen kümmern sich um sie, sofern die Familie keine Zeit hat, den Beritt selbst zu übernehmen.

„Na? Wen hast du dir ausgesucht? Fritzchen?“, erkundige ich mich, als ich in die schattige Stallgasse trete.

Fehlanzeige, auf dem Putzplatz unweit des Eingangs steht keineswegs das Islandpferd Fritzchen, sondern eines der größten aus dem Stall.

Ich schnaube leise und tausche einen Blick mit Silas, dem Stallburschen, der gerade dabei ist, Nibelungenring zu satteln.

„Dein Pferd!“, erklärt Larissa stolz und grinst mich an.

„Sie sagte, dass du gleich kommst, sonst hätte sie ihn nie bekommen“, erklärt Silas fröhlich.

„So? Du meinst, du darfst einfach so meinen Dicken reiten?“

„Ja!“

Ich grinse zurück und strecke die Arme nach ihr aus. „Komm her, wilde Hummel!“

Sie springt in meine Arme und ich hebe sie hoch, zeige ihr, wie weit oben sie gleich sitzen wird, wenn sie schon unbedingt meinen Oldenburger Wallach reiten muss.

Nibelungenring, den wir meistens nur ‚Dicker‘ oder ‚Ring‘ nennen, hat ein Stockmaß von einsachtzig.

Ich weiß so gut wie jeder andere, dass es zwecklos ist, Larissa von irgendetwas abzubringen.

Mir ist es auch deutlich lieber, dass sie Ring reitet, wenn ich dabei bin, als dass sie mit kindlichem Charme auf eigene Faust versucht, die Stallburschen auszutricksen.

Kaum ist Ring fertig, setze ich meine Nichte in den Sattel und lasse die noch hochgezogenen Steigbügel, wo sie sind.

Die Lederriemen lassen sich zwar verkürzen, aber nicht so weit, dass sie für Larissa taugen würden.

Da die Kleine meinen Dicken nicht strapazieren soll, wird er nicht aufgetrenst, sondern hat weiterhin sein Stallhalfter und einen Führstrick an.

Ich nehme Silas den Strick ab und führe den Wallach nach draußen.

Auf dem Weg zu dem Sandplatz, der, von hohen Obstbäumen umringt, im Schatten liegt, treffen wir Silvia und Mathilda, die die Hunde gefunden haben.

Wir grüßen, wobei Larissa eine übertriebene Geste macht, bei welcher ihr Reithelm fast ihr linkes Knie berührt, dann verschwinden wir zum Platz.





„Neiiiiiiiiiiiin!!!!“ Mein markerschütternder Schrei reißt mich abrupt aus den Fesseln des Alptraums.

Schweißgebadet und zitternd rappele ich mich in eine sitzende Position auf. Verdammt! Obwohl ich mit aller Kraft gegen den Schlaf gekämpft habe, bin ich doch vor dem Fernseher eingenickt.

Ich rubble mir fest übers Gesicht und versuche, meinen davongaloppierenden Herzschlag wieder einzufangen.

Ein rascher Blick zur Uhr. Es ist kurz vor Mitternacht, und wenn meine Erinnerung mich nicht trügt, ist heute Freitag. Ich kann es noch riskieren, meine Schwester anzurufen, ohne sofort von ihr geschlachtet zu werden.

Obwohl … wenn sie es tun würde, hätte ich mein beschissenes Leben endlich hinter mir.

Umgehend verdränge ich diesen Gedanken in den hintersten Winkel meines Gehirns. Lasse ich solche Überlegungen zu, ziehen sie mich unweigerlich in den Abgrund und mein Traum nimmt noch unerträglichere Ausmaße an.

Ich greife zum Handy, öffne die Kontaktliste und drücke auf Bibianas Namen. Es ist mir zwar unangenehm, sie wieder mal mit meinem Scheiß zu behelligen, aber ich brauche jetzt einen Menschen, der mein Problem kennt, in meiner Nähe.

Das zweite Rufzeichen ist kaum verklungen, schon höre ich Bibis atemlose Stimme: „Denno, was ist los? Geht es dir nicht gut?“

Ein tiefes Seufzen meinerseits sagt ihr alles, was sie wissen muss.

„Ich komme rauf.“

Selbst wenn ich widersprechen wollte, hätte ich keine Chance, Bibi hat bereits aufgelegt.

Ehe ich ins Bad verschwinde, um mir kaltes Wasser ins Gesicht zu werfen, öffne ich die Wohnungstür. Bibi muss nur durchs Treppenhaus in die erste Etage aufsteigen. Sie bewohnt mit ihrem Mann Tobias und den Kindern Finn und Finja das Erdgeschoss unseres Elternhauses, während ich das obere Stockwerk mein Eigen nenne.

Die Eingangstür fällt ins Schloss.

„Denno, wo steckst du?“

„Im Bad, gib mir noch einen Moment.“

Aus dem Spiegel starrt mir ein leichenblasses Gesicht mit dunklen Augenrändern entgegen. Ich sehe fürchterlich aus.

Wenn das so weiter geht, kauft mir niemand mehr ab, dass ich erst 34 Jahre alt bin. Erste graue Fäden ziehen sich durch mein schokoladenfarbenes Haar. Die Falten in Augen- und Mundwinkeln lassen sich durch mein verhärmtes Aussehen auch nicht als Lachfältchen deklarieren.

Seufzend streife ich mein Shirt ab, beuge mich über das Waschbecken und spüle mir den inzwischen getrockneten Schweiß von Gesicht und Oberkörper. Den fiesen Geschmack im Mund vertreibe ich mit ausgiebigem Zähneputzen.

Bevor ich mich dem kritischen Blick meiner großen Schwester stelle, husche ich noch ins Schlafzimmer und schlüpfe in einen kuschlig warmen Hoodie.

Der aromatische Duft frisch aufgebrühten Lavendeltees empfängt mich, als ich das Wohnzimmer betrete. Bibi schwört auf dieses Zeug, wenn man innerlich angespannt ist und nicht einschlafen kann.

Mein Problem liegt allerdings nicht darin, dass ich nicht schlafen kann, sondern nicht schlafen will.

Das weiß außer mir niemand besser als sie, aber Bibi möchte mir einfach etwas Gutes tun und mich ein wenig bemuttern.

Seit unsere Eltern vor zehn Jahren, als Pa in den Ruhestand getreten ist, ihren Hauptwohnsitz in die Toscana verlegt haben, fühlt meine Schwester sich berufen, Mutterstelle bei mir zu vertreten.

Quatsch! Sie tut es, solange ich denken kann.

Meine Mutter, wenn man sie überhaupt so nennen will, ist keine besonders liebenswerte Frau. Sie hat ständig versucht, aus Bibi und mir Vorzeigekinder zu machen und wenn wir nicht so funktionierten, wie sie es wollte, konnte sie ziemlich bösartig reagieren.

Meist genieße ich es, von Bibi betüddelt zu werden, aber manchmal geht es mir auch erbärmlich auf den Sack. So wie jetzt gerade.

„Denno, so geht das nicht weiter. Wann warst du eigentlich das letzte Mal bei deinem Therapeuten? Jetzt setz dich endlich hin und trink deinen Tee, er hat lange genug gezogen.“

Ohne Punkt und Komma redet sie auf mich ein. Mir ist es echt ein Rätsel, wie sie das schafft, ohne zu ersticken.

Mit einem gezwungenen Lächeln lasse ich mich neben sie auf das Sofa plumpsen und umarme sie kurz aber heftig.

„Lass gut sein, Schwesterchen. Du weißt genau, dass ich nicht schlafen will und wegen des Therapeuten – der kann mir sowieso nicht helfen.“

Bibi streckt sich zum Tisch und umgehend schwebt die Teetasse direkt unter meiner Nase. Ein strafender Blick aus goldbraunen Augen lässt mich ergeben nach dem Lavendelgesöff greifen und ich nippe vorsichtig daran.

Innerlich schüttelt es mich. Ich liebe Lavendel – in Bibis Garten und in meinen Blumenkästen auf der Terrasse, aber als Getränk finde ich ihn widerlich, egal wie viel Zucker man hineinrührt.

„Süße, es ist sehr lieb, dass du sofort zu mir geeilt bist, aber Tobias ist bestimmt nicht begeistert, an einem Freitagabend allein unten zu sitzen.“

„Mein Schatz ist wie üblich mitten im Film eingeschlafen, der merkt gar nicht, dass ich weg bin. Jetzt erzähl mir endlich von deinem Traum. Ich höre dich seit Wochen fast jede Nacht schreien. Du kannst es abstreiten, soviel du willst, es scheint doch immer schlimmer zu werden.“

Verdammte Axt! Verflucht seien die dünnen Wände dieses Hauses.

Eigentlich bin ich alt genug, um meine Probleme allein zu bewältigen, aber es tut gut, mit Bibi darüber zu reden. Ich weiß es, weil meine Schwester seit frühester Jugend meine Vertraute ist.

Zu ihr bin ich ins Bett geflüchtet, als der Traum begann, mich im Alter von vier Jahren heimzusuchen. Bibi ist sieben Jahre älter und hat immer versucht, mich zu trösten und zu beschützen. Als Teenager hat sie monatelang Bücher über die Ursprünge von Träumen und deren Auslegung gelesen. Leider haben uns ihre daraus gewonnenen Erkenntnisse keinen Schritt weitergebracht.

Nachdem ich volljährig geworden bin, hat sie mich zu allen möglichen Leuten geschleppt – Ärzten, Heilpraktikern, dubiosen Gestalten, die angeblich böse Träume vertreiben können. Selbst zu einem Priester hat sie mich geschleift. Ich habe mich zwar mit Händen und Füßen gewehrt, da ich meinen Glauben an Gott und das Gute in ihm schon als Kind verloren hatte. Als dieser Schwachkopf mich einem Exorzismus unterziehen wollte, hat sie es aufgegeben, mir durch Außenstehende helfen lassen zu wollen.

„Was soll ich dir großartig erzählen? Du kennst meinen Traum doch seit Jahren. Ich habe ihn dir oft genug geschildert.“

„Das schon, aber du hast noch nie so schlecht ausgesehen, wie in den letzten Wochen. Denno, du wirst immer dünner und hast du dein Gesicht in letzter Zeit mal genau im Spiegel betrachtet? Brüderchen, ich mache mir Sorgen und habe echt Angst um deine Gesundheit.“

Ich nicke. Schließlich erzählt sie mir nichts Neues. Erst vor ein paar Minuten hat mir vor meinem Spiegelbild gegraut.

„Naja, wie soll ich es sagen … Der Traum ist im Grunde immer noch der Gleiche, wie vor 30 Jahren. Die Veränderungen sind eher subtil.“

„Versuch trotzdem, das Ganze in Worte zu fassen. Vielleicht hilft es ja.“

„Bitte nicht jetzt. Du weißt, was der Psychoheini gesagt hat. Ich soll mir das tagsüber in Erinnerung rufen, um die eingeschliffenen Pfade zu verändern. Die Methode hat bei mir zwar nie gewirkt, aber es ist einfacher für mich, es im Hellen zu beschreiben, sonst flippe ich nachher ganz aus, falls ich erneut einschlafe.“

„Na gut. Morgen entkommst du mir jedoch nicht. Du hast vormittags nur vier Fahrschüler, also kannst du gegen 14 Uhr bei mir erscheinen. Tobi und die Kids wollen ins Freibad, somit haben wir viel Zeit, um ungestört zu reden.“

Ich nicke zustimmend, auch wenn mir der Gedanke, den Horror meiner Traumphasen zu beschreiben, schon jetzt eine Gänsehaut verursacht.

„Schlaf gut, kleine Schwester und danke für dein promptes Erscheinen.“

Sie verpasst mir einen kräftigen Knuff in die Seite. Bibi hasst es wie die Pest, wenn man sie ‚klein‘ nennt. Dabei ist sie genau das. Bei einer Körpergröße von 1,62 m reicht sie mir gerade bis zur Brust.

„Frecher Kerl“, mault sie, wirft zickig den Kopf in den Nacken und entschwindet.

„Ich liebe dich auch!“, rufe ich ihr schmunzelnd nach.

~*~

Meine erste Amtshandlung, nachdem Bibi die Wohnungstür hinter sich geschlossen hat, ist, das Stövchen samt Teekanne in die Küche zu tragen und das Lavendelgebräu zu entsorgen.

Ehe ich die kaum angerührte Teetasse ebenfalls aus dem Wohnzimmer hole, stelle ich einen Becher unter den Kaffeeautomaten und drücke den Knopf für einen doppelten Espresso.

Irgendwie werde ich verhindern, erneut unfreiwillig ins Traumland zu stolpern, selbst wenn ich dafür meinen Blutdruck in schwindelerregende Höhen treiben muss.

Mit der dampfenden schwarzen Brühe sinke ich in meinen bequemen Sessel. Dort ist die Gefahr einzuschlafen nicht so groß, wie auf dem Sofa.

Kopfhörer auf, eine Disturbed-CD einlegen und die Lautstärke auf maximal.

Auch wenn ich mich voll auf den Text konzentriere, das Wispern der ängstlichen Stimmen in meinem Kopf kann ich nicht ignorieren. Das Gespräch mit Bibi hängt wie ein Damoklesschwert über meinem Haupt.

Ich drifte ab. Die Musik verkommt zu einem wilden Crescendo, das die Empfindungen, die meine Alptraumwelt beherrschen, nur noch unterstreicht.

Deutlich sehe ich den endlos langen Korridor vor mir, der sich in der Ferne immer mehr zusammenzieht. Helles Licht am Ende des Ganges verspricht Hilfe – Freiheit – Entkommen. Ich renne, gebe alles, was an Kraft und Energie in mir steckt, trotzdem bleibt das ungute Gefühl, mich keinen Millimeter von der Stelle zu bewegen.

‚Lauf, Denno, lauf!‘, brüllt es tief in mir. Meine Lunge brennt, Adrenalin pumpt das Blut wie kochende Lava durch meine Adern. Mein Herz rast, will vor Angst aus meiner Brust springen.

So weit, so schlecht. Dieses Szenario kenne ich, seit ich zum ersten Mal mit diesem Traum konfrontiert wurde.

Als Kind bin ich nur gerannt, wusste nie, warum ich das tue, wovor ich weglaufe.

Mit 14 ungefähr traten die ersten Veränderungen ein. Der Korridor bekam Türen, aus denen undefinierbare Geräusche drangen, die mir die schrecklichsten Bilder vorgaukelten, sollte ich es wagen, einen der dahinterliegenden Räume zu betreten.

Nachdem ich mein Abi gemacht hatte, wandelte sich der Traum erneut. Ich hörte das Stampfen schwerer Stiefel auf hartem Beton, die Türen wiesen Sichtfenster auf. Wabernder Nebel, orangerote Flammen, absolute, undurchdringliche Schwärze. Aus dem Nebel drang gequältes Stöhnen, das Prasseln des Feuers wurde von schrillen Schmerzensschreien untermalt, die Dunkelheit verströmte Panik, die meine Haut wie Peitschenhiebe durchdrang und sich in meinem Kopf manifestierte.

Vereinzelte Sichtfenster gaben den Blick auf Treppenhäuser frei, deren Stufen wahlweise nach oben oder in die Tiefe führten.

Irgendwann nahm ich allen Mut zusammen, riss eine Tür auf und folgte dem Weg nach unten. Meine Hoffnung, dort einen Ausgang aus dem gruseligen Gebäude zu finden, erstarb schlagartig. Genau, wie der endlose Gang mich zu keinem Ziel führte – die Stufen brachten mich ebenfalls nicht weiter.

Ein hastiger Blick über das Treppengeländer bestätigte meine Horrorvision – das Treppenhaus führte ins Nichts, die Stufen verschwanden in für das Auge undurchdringlichen Schatten.

Viele Wochen später versuchte ich mein Glück in die andere Richtung – nach oben. Doch der Effekt blieb der gleiche. Keine Abzweigung, keine Tür, die mich auf eine neue Etage führte.

Bis vor drei Wochen blieb alles beim Alten. Ich floh weiter den Gang entlang, hörte die polternden Schritte meiner Verfolger und fürchtete mich halbtot.

In einer folgenschweren Sonntagnacht, ich war nach ein paar Gläsern Wodka-Cola vor dem Fernseher eingeschlafen, änderte sich mein Alptraum zu einem echten Szenario des Schreckens.

Mit pfeifenden Lungen rannte ich den Korridor entlang. In meinem Kopf manifestierte sich der Eindruck, dass das Stampfen der schweren Stiefel näher kam.

Sollte ich? Sollte ich nicht? Ich brauchte Gewissheit. Anhalten – den Kopf wenden – einen hastigen Blick riskieren.

Großer Fehler!!!!!

Panisch stolperte ich weiter. Eine graue Substanz bewegte sich auf mich zu, in der sich Umrisse nur schemenhaft ausmachen ließen. Fünf oder sechs Gestalten, genau konnte ich es nicht erkennen. Sie waren nur noch ein paar Dutzend Schritte entfernt.

Doch es wurde noch schlimmer!

Hinter dem grauen Nebel erhob sich eine schwarze undurchdringliche Masse.

In meinem Kopf erklang eine Stimme. Falsch. ‚Stimme‘ konnte man das Geräusch nicht nennen.

Es hörte sich an, als ziehe jemand seine Fingernägel über eine Schiefertafel. Es schüttelte mich, Gänsehaut kroch über meinen Körper, nicht nur wegen des ekelhaften Kreischens. Aus dem Schrillen wurden Worte, die mich dazu brachten, all meine Kraftreserven zu mobilisieren, um wieder mehr Abstand zwischen die graue Masse und mich zu bringen.

‚Bald habe ich dich. Du wirst sterben. Ich werde in deinem Blut baden.‘

Entsetzt springe ich aus dem Sessel.

Ich habe nicht geschlafen. Warum fühlt es sich trotzdem so an, als wären die Sätze gerade real gesprochen worden?

Panisch drehe ich mich um meine eigene Achse, scanne jede Zimmerecke und reiße mir hastig die Kopfhörer runter.

Nichts!

Erleichterung will sich allerdings nicht einstellen, im Gegenteil.

Zunächst haste ich durch alle Räume und schalte überall die Deckenbeleuchtung ein. Das grelle Licht schenkt mir ein wenig Sicherheit.

Während ich in der Küche darauf warte, dass ein frischer Espresso in meine Tasse läuft, denke ich über meinen Geisteszustand nach.

Verliere ich den Verstand? Soweit ich weiß, gab und gibt es in meiner Familie keinen Fall von Geisteskrankheit.

Hm, vielleicht bin ich ja der Erste? Als normal gehe ich wohl kaum noch durch, wenn mein Alptraum mich jetzt schon im Wachzustand heimsucht.

Vielleicht könnte ich diesen Traum besser wegstecken, wenn ich hin und wieder etwas Normales oder Schönes träumen würde. Aber Nacht für Nacht das gleiche Szenario zu erleben, besser gesagt zu erleiden, ist nach dreißig Jahren einfach nur zermürbend.

Ich bin das alles so leid. Mein Leben kotzt mich einfach nur noch an. Einzig das Wissen, welchen Schmerz ich meinen Eltern und Bibi samt Familie zufügen würde, hält mich davon ab, meine elende Existenz auszulöschen.

Seufzend schnappe ich meine Tasse und lasse mich erneut im Sessel nieder. Naja, wenn ich es mir recht überlege, muss ich gar nicht selbst Hand anlegen, ich muss einfach nur abwarten. Auf Dauer wird mich der Schlafmangel schon umbringen.

Wie lange kann ein Mensch ohne Schlaf überleben? Ich hab keine Ahnung, sollte ich bei Gelegenheit mal googeln.

Morgen, bei meinem Gespräch mit Bibi, muss ich extrem vorsichtig sein, damit mir nicht unabsichtlich solch eine Bemerkung entwischt.


© Gerry Stratmann / Nathan Jaeger / Gay-fusioN GbR

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Published on November 06, 2021 09:33

[Leseprobe] Mailchaos

 Leseprobe

Kapitel 1 ~ Felo ~

Freitag, mein zweitliebstes Wort mit F.

Ich habe wider Erwarten einen anständigen Parkplatz gefunden und räume nach und nach die Einkäufe, die ich direkt im Anschluss an meinen Feierabend getätigt habe, aus dem Kofferraum.

Zwei Sixpacks Cola und eine riesige Tragetasche mit Lebensmitteln.

Ist eigentlich gar nicht so viel, immerhin lebe ich allein in meiner schicken 2,5-Zimmer-Wohnung.

Das Einzige, was mich tierisch nervt, ist der mal wieder kaputte Fahrstuhl, der mich zwingt, die insgesamt fünf Stockwerke zu meiner Dachgeschosswohnung zu Fuß anzutreten.

Ich mag zwar fit genug sein, aber mit Einkäufen ist es eben wirklich ätzend.

Oben angekommen danke ich dem Himmel dafür, dass ich die große Tasche über die Schulter werfen konnte, um die Hände für die Sixpacks freizuhaben.

Den Weg zweimal zu gehen, wäre mir heute im Traum nicht eingefallen.

Ich bin fertig von einer anstrengenden Arbeitswoche und habe mir meinen Feierabend und das ruhige Wochenende redlich verdient.

Kaum habe ich alles verstaut, fahre ich den Laptop hoch und hole mir einen Kaffee, mit dem ich mich gemütlich auf dem Sofa niederlasse. Jetzt entspannt eine Runde surfen.

Ich bin in einer Community, die ein großes, sehr reges Forum zu den verschiedensten Themengebieten hat. Dort finde ich jeden Abend genug Zerstreuung und vor allem Diskussionspartner.

Fürs Abendessen muss ich erst in einer Stunde sorgen, also habe ich jede Menge Zeit, mich in die Untiefen des Forums zu begeben und nach neuen Themen zu suchen, zu denen ich noch nichts gesagt habe.

Sofort springt mir beim Durchscrollen ein Nickname ins Auge, der beim letzten Beitrag in der Übersicht angezeigt wird.

Daredevil – ein Name, der mir bereits seit Monaten immer wieder begegnet. Der Typ kann echt gut diskutieren, auch wenn sein Name ja nicht unbedingt für vernunftbegabtes Verhalten stehen mag.

Er ist tatsächlich sehr logisch und im Zweifelsfall auch einsichtig gewesen, wenn wir uns eines unserer mittlerweile fast berühmten Duelle geliefert haben. Man muss nicht einer Meinung sein, um sich zu verstehen, das ist etwas, das ich durch ihn gelernt habe.

Ich selbst bin eher der ruhige, aber sehr störrische Typ. Mich davon zu überzeugen, dass ich falsch liege und meinen Blickwinkel mal anpassen oder gar ändern sollte, kostet jede Menge Durchsetzungsvermögen.

Hin und wieder sind wir aber auch ohne Überzeugungskraft einer Meinung und dann haben unsere ‚Gegner‘ in den Diskussionen wenig zu lachen.

Es gibt nur noch ein paar rar gestreute User, die es mit uns aufnehmen wollen.

Meistens Leute, die deutlich älter sind als ich mit meinen 28 Jahren. Vermutlich denken diese Personen, dass das Alter weise macht, oder so …

Alles Bullshit. Nicht das Alter, sondern Erfahrungen machen den Menschen, der bereit ist, aus seinen Fehlern und Rückschlägen zu lernen, weise.

Erst seit dieser Woche sind Daredevil und ich befreundet. Das kann man in dieser Community auch, zum Beispiel, damit man sehen kann, ob der andere gerade online ist.

Nachdem ich seinen neuesten Beitrag gelesen habe, dem ich nichts mehr hinzufügen kann, fällt mein Blick auf den blinkenden Briefumschlag in meiner Startleiste.

Eine neue E-Mail!

Ich klicke auf den Umschlag, um sie mir anzeigen zu lassen und staune, als ich den Absender lese.

Daredevil

Na, das ist ja ein Ding …!

Ich öffne die Nachricht und beginne zu lesen.

Hey Prince-of-Chaos,

erst mal danke für die Freundschaftsanfrage im Forum. Dadurch bin ich jetzt stolzer Besitzer deiner Mailadresse und rücke dir kackfrech auf die Pelle. *lach

Keine Panik, Mann. Ich bin nur ein wahnsinnig neugieriger Mensch und würde gern mehr über dich erfahren. Dein Profil gibt leider nicht viel her, besser gesagt, man erfährt gar nichts über dich.

Unsere Diskussionen machen mir unglaublichen Spaß, auch wenn wir nicht immer einer Meinung sind. Aber genau das finde ich spannend.

Also, wie sieht es aus? Bist du bereit, ein paar persönliche Infos auszuspucken? Im Gegenzug erfährst du auch mehr über mich. Vielleicht, wenn du nicht grade in Timbuktu wohnst, können wir uns mal treffen und von Angesicht zu Angesicht zoffen. ^^

Jetzt hab ich genug gelabert. Jedenfalls wäre es megageil, wenn du dich melden würdest.

Cu Daredevil

Perplex lese ich den Text erneut und überlege, wieso um alles in der Welt ich vergessen habe, dass Freunde meine E-Mail-Adresse sehen können.

Ich denke noch darüber nach, was mich mehr verwundert – Daredevils Ton oder meine Vergesslichkeit.

Okay, der Tonfall hat gesiegt, wie ich nach erneutem Lesen mit einem ungläubigen Kichern begreife.

Irgendwie passt diese flapsige Art so überhaupt nicht zu dem Typen, der im Forum genauso hochgestochen daherschwallern kann wie ich …

Er will also Infos? Er will – viel schlimmer! – ein Treffen?!

Irgendwie fällt er mit der Tür ins Haus, und wenn ich es genau nehme, disqualifiziert ihn das augenblicklich für ein tatsächliches Treffen.

Nun gut, das muss ich ihm ja nicht direkt auf die Nase binden …

Stattdessen klicke ich auf ‚Antwort‘ und beginne zu schreiben.


 

© Gerry Stratmann / Nathan Jaeger / Gay-fusioN GbR Zurück zur Hauptseite 'Gay-fusioN'

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Published on November 06, 2021 05:50

[Leseprobe] Jahreszeiten - Winter

 Lesprobe

Winterwundergarten

von

Nathan Jaeger


 

Vorwort

Der Winterwundergarten ist eine kleine, unabhängige Fortsetzung zu ‚Schneeseelen‘.

Man muss die dort erzählte Vorgeschichte nicht kennen, um die hier vorliegende Geschichte zu verstehen.

Wer allerdings mehr wissen möchte, sollte sich selbst den Gefallen tun, und zuerst ‚Schneeseelen‘ lesen.

Viel Spaß!


Donnerstag

Wie macht man einen Heiratsantrag?

Ich meine, schon klar, Ring besorgen, schöne Location, Kniefall …

Aber … wie bringe ich es über die Lippen?

Mein sehnlichster Wunsch verbindet sich automatisch mit der größten Panik vor Zurückweisung, die ich jemals verspürt habe.

Opa würde mir jetzt helfen, das weiß ich genau!

Ich vermisse ihn derzeit noch mehr als an jedem anderen Tag seit seinem Tod im vorletzten Sommer. Er hat mir immer zur Seite gestanden, mich beraten, ohne mir seine unendliche Lebensweisheit wie eine einengende Manschette umzulegen. Hat zugehört, meine Ängste beruhigt, meine Zweifel besänftigt, mein Selbstbewusstsein durch seinen unerschütterlichen Glauben in mich und meine Fähigkeiten verstärkt.

Dass ich schwul bin, hat ihn nie gestört.

Als ich es ihm gestanden habe, hat er mich grinsend angesehen, mir die Hand auf die Schulter gelegt und zugedrückt.

Sein Kommentar: „Wenn du mal gescheit bist, Junge!“

Oh ja, mein Grinsen ging sicherlich von Ohr bis Ohr. Er hat recht behalten, wahre Liebe gibt es – für mich! – nur unter Männern.

Nein, falsch, mit einem ganz bestimmten Mann. Was mich wieder in meine Unsicherheiten zum Thema Heiratsantrag katapultiert …

Ein schweres, kellertiefes Seufzen erfüllt das riesige Studio, welches das komplette Dachgeschoss des Reihenhauses einnimmt.

Die Schrägen sind frisch mit hellem, beinahe fugenlosem Holz vertäfelt, die Giebelseite besitzt eine gigantische, dreieckige Fensterfront, die viel Licht einlässt.

Der Blick nach draußen über das offene Feld, eigentlich eine große Wildwiese mitten in einem Wohngebiet, offenbart derzeit keine unterschiedlichen Grüntöne mit sattbunten Wildkrautansammlungen. Stattdessen sehe ich eine endlos erscheinende weiße Schneedecke, durchbrochen von verschieden hohen Grasbüscheln und kleinen Trampelpfaden der Hunde nebst Besitzer.

Dazu gehöre auch ich!

Mein Blick gleitet hinter mich zum Treppenaufgang. Er ist abgegrenzt von einem silbrig-metallenen Gittergeländer, welches U-förmig vor Abstürzen schützt und auf der linken Seite bis fast zur Schräge reicht. Dahinter, auf Decken und gemütlich eingerichtet, schläft mein Neufundländer Herr Leopold den Schlaf der Gerechten.

Es ist 14 Uhr und er hat sein Mittagessen und die Tageslichtrunde hinter sich. Nun genießt er ganz offensichtlich die Ruhe bis zum Rattenauslauf und dem Abendessen.

Mein Lächeln wird breiter, kann die Nervosität meiner Überlegungen jedoch nicht vertreiben. Meine Handflächen sind schwitzig, ich habe keine Ahnung, wie oft ich sie schon an meinen Jeans abgestreift habe. Es macht keinen Unterschied.

Nichts will ich so sehr, wie diese Frage zu stellen. Ihn fragen, ob er auf ewig der Meine sein will. So wie ich mir nichts sehnlicher wünsche, als auf ewig der Seine zu sein.

Färben meine Geschwister doch so langsam ab?

Meine ältere Schwester Mara und mein Bruder Marlon sind schon etwas länger verheiratet, nun ja, in Maras Fall ist das Thema bald erledigt. Sie lebt seit einem Dreivierteljahr, getrennt von ihrem Mann, mitsamt ihrer mittlerweile zwei Kinder, wieder bei meinen Eltern.

Die kleine Anna ist erst vier Monate alt, ihr älterer Bruder Marco immerhin schon vier. Ich bin zum ersten Mal Patenonkel geworden, was mich ehrlich gesagt wahnsinnig gefreut hat.

Wieder schweift mein Blick zur Fensterfront. In drei Tagen ist der erste Advent und das Haus muss noch mit zahlreichen Lichtern eingeweihnachtet werden.

Vielleicht wäre es schön, wenn hier an der Giebelseite eine lange Reihe von beleuchteten Eiszapfen angehängt wird?

Ich muss darüber mal mit ihm reden …

Ich schlucke. Gleich nachdem ich mir darüber klargeworden bin, wie ich es schaffen soll, diese schwerwiegenden und für mich so wichtigen Worte zu sagen. Die Frage aller Fragen zu stellen.

„Willst du mich heiraten?“

Klingt … Ich stocke. Mit so einem piepsigen Flüstern brauche ich das wohl nicht zu fragen, oder?

Räuspern, einen Schritt auf das Glas zum Feld zu, Stimme festigen und noch mal: „Willst du mich heiraten?“

Ha, das hat immerhin schon mehr Gewicht, aber … so wirklich feierlich und ernsthaft klingt es noch immer nicht.

Dabei habe ich doch nur ihn im Kopf, im Herzen, in der Seele!

Seele … wie lange ist es her, dass ich zwei geschlechtslose Seelen, nebulös und beinahe transzendent, für ein Bild gemalt habe?

Ich weiß es sehr genau. Ich war 14, also schlappe zwölf Jahre.

Zwei Seelen in einer weit entfernt liegenden Schneelandschaft, nahezu dreidimensional, in den Vordergrund gerückt.

Von diesem Bild habe ich geträumt, nachdem ich den ersten Auszug und die grobe Zusammenfassung eines Buches gelesen habe. Schneeseelen heißt es, und ich bin auch so viele Jahre später noch hin und weg von der Handlung, dem Universum, welches als Schauplatz dient …

Vielleicht auch schon genauso lange von dem Mann, der es erschaffen hat. Das Buch, dessen Front mein Bild ziert.

Mein Lächeln wird breiter, meine Atemzüge ruhiger und tiefer.

„Willst du mich heiraten, Jaron?“

Ja! Das klingt so, wie es sich in mir anfühlt. Nach einem Herzenswunsch, einer unbändigen Sehnsucht, einer unstillbaren Gier nach Nähe, Wärme und Zuneigung.

Tief durchatmen, die Angst bekämpfen.

Vielleicht würde Opa mir jetzt auch sagen, dass meine Angst vollkommen daneben ist. So etwas wie ‚Junge, nun stell dich nicht an wie der erste Mensch!‘

Ja, das würde passen. Die gute Laune kehrt zurück, bringt Tatendrang und einen leichten Überschwang mit sich.

Ich wende mich zur Treppe und gehe hinab, bis ich zwei Etagen überwunden habe und an der Garderobe in der Diele stehe.

Mantel an, Schal um, Mütze auf. Wo sind die Handschuhe?

Ah, da!

Ich ziehe mich generalstabsmäßig und sehr winterfest an, steige zuletzt in meine gefütterten Schneestiefel und verlasse, nachdem ich mir den Autoschlüssel geschnappt habe, das Haus.

Mein Ziel ist die Innenstadt, genauer gesagt, das große Einkaufszentrum. Zumindest als erster Halt meiner Tour.

Ich parke in der Tiefgarage und begebe mich ins Erdgeschoss der ‚Arkaden‘.

Als ich die Auslagen des Schaufensters durchgesehen habe, atme ich erleichtert durch und betrete das Geschäft.

„Guten Tag, wie kann ich Ihnen helfen?“, erkundigt sich die freundliche Bedienung und lächelt mich warm an. Ich erwidere es kurz, mehr geht nicht, denn meine Nervosität holt mich gnadenlos ein.

Die Handschuhe habe ich bereits in der Manteltasche verschwinden lassen, jetzt muss ich meine zittrigen Finger anderweitig beschäftigen …

„Ich möchte gern Ringe kaufen.“

Sofort nickt sie und ihr Lächeln wird noch breiter. Ist das Amüsement, Freundlichkeit oder schlichtes Mitleid mit meiner zappeligen Gestalt?

Egal, was es ist, sie wirkt tatsächlich beruhigend auf mich, mit ihren besonnenen Bewegungen und ihrer offenen, aber keinesfalls enthusiastischen Reaktion.

„Haben Sie schon eine Vorstellung, wie sie aussehen sollen?“

Ha, da kann ich nicken! Klappt wunderbar. Danach deute ich auf das Schaufenster hinter den hellen halbhohen Holzwänden. Wir gehen gemeinsam dort hin und ich deute noch etwas genauer auf die weißgoldenen, schön arrangierten Reife. Mit einem Nicken kehren wir zum Tresen zurück und sie beugt sich hinab.

Nur Sekunden später hat sie drei Auslagebrettchen mit eingesteckten Ringen auf der Glastheke platziert.

Ja, da sind sie! Ich tippe mit einem halb unterdrückten Seufzen auf die wunderschönen Ringe, die ich seit Monaten heimlich im Schaufenster angaffe.

„Welche Größen benötigen Sie?“

Ihre Frage reißt mich aus meinen Gedanken. Ich sehe sie an und sage: „In 58 und 60, bitte.“

Für Jarons Ringmaß musste ich nachts heimlich einen Papierstreifen um seinen Ringfinger legen, den Umfang anzeichnen und morgens nachmessen.

Jetzt wird sie denken, ich habe eine Freundin mit ziemlich dicken Fingern, dabei sind nur Jarons Gelenke zu breit, so dass er eine Größe mehr als ich braucht.

„Das wären dann diese beiden hier“, sagt sie und pflückt nach kurzer Suche die entsprechenden Größen aus dem Display.

Ich kann nicht anders, ich muss sie anfassen, stecke den mit meiner Größe auch kurz auf meinen Ringfinger, will sehen, wie das silbrige, beinahe einen Zentimeter breite Metallband dort wirkt.

Zufrieden nickend ziehe ich ihn wieder ab und lege ihn neben den anderen.

„Ja, genau die sollen es sein.“

„Mit Gravur, vermute ich?“ Ihre Zielsicherheit verrät, dass sie keinen Zweifel daran hat, was diese Ringe für mich bedeuten.

Ich werde ruhiger und räuspere mich. „Ja, bitte. Bis wann könnte ich sie dann abholen?“

„Gravuren erledigen wir vor Ort. Falls Sie noch einkaufen müssen, könnten Sie sie heute am frühen Abend schon abholen“, sagt sie nach einem Blick auf eine der Uhren an der Rückwand des Geschäftes.

„Fantastisch!“ Ich klinge wohl so erleichtert, wie ich mich fühle, denn sie lacht mich fröhlich an, bevor sie einen großen Auftragsblock aus einer Schublade der Theke nimmt und einen Stift ergreift.

„Was soll denn drinstehen?“

„In beiden ‚Seelen aus Schnee können niemals erfrieren‘, bitte in zwei Zeilen.“

Sie nickt verstehend, auch wenn sie kurz die Stirn runzelt. Sorgfältig ausgeformte Buchstaben bilden meine Gravurwünsche auf dem Block ab.

„Und in den größeren ‚Mika‘, in den kleineren ‚Jaron‘. Bitte gegenüber dem Satz.“

„Was für ein wunderschöner Spruch!“

„Ja, er bedeutet mir sehr viel.“

„Ich beneide Sie, wenn ich ehrlich sein darf. Nicht missgünstig, sondern wohlwollend. Und ich wünsche Ihnen, dass Sie eines Tages die gleichen Rechte bekommen, wie alle anderen Eheleute.“

„Woher wissen Sie, dass es keine Freundschaftsringe sind?“, frage ich erstaunt, was sie zu einem lachenden Kopfschütteln reizt.

„Nennen Sie es Intuition, aber solche hochwertigen Ringe sind und bleiben Eheringe. Außerdem strahlen Sie Ihr Glück so wunderbar aus, dass es nicht schwierig zu erraten war.“

Ich bin ein wenig gerührt von ihrer Erklärung, ebenso von ihrem Wunsch für uns. Dabei ist es nicht entscheidend für mich, welche Rechte wir haben werden. Nicht für meine Gefühle und diesen unbändigen Wunsch, Jarons und meine Liebe zu besiegeln.

Wir überprüfen gemeinsam noch einmal den Gravurauftrag, dann bezahle ich die Ringe und verabschiede mich auf später.

Jetzt muss ich zum Baumarkt.

Dort angekommen nehme ich einen großen Einkaufswagen mit und stürme die Abteilung mit den Lichterketten und -netzen.

Warmweiß muss es sein, auf gar keinen Fall bunt oder kaltweiß.

Im Geiste gehe ich die Flächen und meine Pläne durch, habe am Ende alles beieinander und hole mir aus der Elektroabteilung noch ein wasserfestes Außenverlängerungskabel und einen Mehrfachstecker mit den gleichen Attributen.

Einen Teil der Lichternetze kann ich in Reihe schalten, sie werden am Ende nur einen Trafo und einen Stecker brauchen, die anderen zähle ich noch einmal durch und entscheide mich für ein zweites Kabel samt Mehrfachsteckleiste. Soll ja schließlich nicht die Sicherungen killen, sondern … einfach toll aussehen, wenn ich fertig bin!

~*~

Da ich nach dem Kaufrausch im Baumarkt viel zu früh fertig bin, um die Ringe abzuholen, fahre ich zu meinen Eltern. Sie müssen mir nämlich helfen, das sollte ich direkt abklären.

Auch wenn ich ihnen und Mara nicht erzähle, was genau ich vorhabe, abgesehen davon, dass ich das Haus mit Licht verzieren will, versprechen sie mir, Jaron aus dem Haus zu locken und zu beschäftigen.

Jarons Eltern weihe ich ebenfalls in meine Pläne ein. Ruth und Siegfried wissen schließlich schon lange um die Leidenschaft ihres Sohnes für winterliche Beleuchtung. Deshalb bietet Jarons Vater mir auch sofort an, mitsamt einer langen Leiter zum vereinbarten Zeitpunkt zu erscheinen.

Am Ende sieht es so aus, dass mein Freund am Samstag ab Mittag dafür eingespannt wird, mit Mara, meiner Mutter und den Kindern auf Shoppingtour zu gehen. Der Auftrag lautet: Haltet meinen Kerl bis 18 Uhr von seinem Haus fern, jedes Mittel ist erlaubt.

Außer fesseln und knebeln, natürlich …

Siegfried und mein Vater Thorsten werden bei mir auftauchen und gemeinsam wollen wir die Installation der Lichter in Angriff nehmen.

So weit, so gut!

Nachdem alles geklärt ist, kehre ich zu dem Juwelier zurück und werde freudestrahlend begrüßt.

Die nette Frau Wienand überreicht mir das Kästchen mit den Ringen, damit ich die Gravuren noch einmal überprüfen kann – sie sind wirklich toll geworden!

Die Hochglanz-Papiertragetasche mit den roten Wollkordeln als Griffen überreicht sie mir, indem sie sie auf der Glastheke abstellt. So eine große Tasche für ein kleines Ringkästchen?

Fragend mustere ich sie und sie lächelt.

„Alles Gute für Sie, Herr Gustav. Für Sie und Ihren Mann.“

Ich ziehe die Tasche zu mir und blinzle ein paarmal, bevor ich wieder ihren Blick suche. „Das ist …!“

In der Tasche befindet sich nicht bloß das Geschenk für meinen hoffentlich-bald-ja-sagenden Mann, sondern auch eine Flasche Champagner und eine Schachtel erlesener Pralinen.

„Von der Belegschaft“, flüstert sie mir zu und zwinkert.

„Da-danke!“, stottere ich perplex.

Wie oft haben Jaron und ich in den vergangenen Monaten unserer Beziehung immer wieder mit homosexuellenfeindlichen Idioten zu tun gehabt? Wie oft hat er mich in solchen Situationen beschützt, das Reden übernommen, weil mich offene Aggression dieser Art einfach sprachlos, hilflos macht?

Diese lieben Menschen hier – es sind drei Verkäuferinnen und der Chef – haben ganz offensichtlich das Gegenteil im Kopf.

„Gern. Wir alle wünschen Ihnen eine schöne Zukunft!“

Ich bin froh, dass der Laden nicht leer ist, die anderen gerade damit beschäftigt sind, Kundschaft zu bedienen. Dennoch blicke ich sie alle nacheinander an und lächle strahlend. Sie erwidern die Blicke und ihre freundlichen Mienen sorgen dafür, dass sich wohlige Wärme in mir ausbreitet.

Schließlich schnappe ich mir die Tasche und verlasse mit den besten Wünschen für Weihnachten, das neue Jahr und überhaupt das ganze Leben, den Laden.

Nach Hause. Und zwar schnell! Ich muss meine Einkaufsbeute im Keller verstecken, bevor ich Jaron abholen muss!

Er hat sich heute mit seinem Lektor irgendwo im Ruhrgebiet getroffen. Wegen der miesen Straßenlage mit Eisglätte und starken Schneefällen hat er den Zug genommen. Ich sammle ihn später am Bahnhof ein. Zumindest hoffe ich, dass er halbwegs pünktliche Verbindungen bekommt, und nicht irgendwo strandet. Die Bahn ist ja nun auch nicht gerade bekannt dafür, besonders wetterbeständige Fahrtzeiten einzuhalten …

Er wird hungrig sein, weshalb ich mich nach dem Verstauen der Lichterketten sofort in die Küche begebe, um zu kochen.

Wir haben uns daran gewöhnt, morgens zusammen zu frühstücken, mittags nur eine Kleinigkeit und abends dann warm zu essen.

Es gefällt uns sehr gut so. Vor allem, weil wir einen gemeinsamen Alltag aufgebaut haben.

Eine Nachricht von Jaron lässt mich erleichtert aufseufzen. Er sitzt bereits im Zug nach Wesel. Von dort aus pendelt eine kleine Bimmelbahn hierher. Schnell antworte ich ihm, dass ich ihn pünktlich abholen werde.

Vor einem Jahr war ich übrigens noch kein großer Koch, da hätte es heute Nudeln mit irgendeiner Soße gegeben, aber jetzt hole ich den Wok heraus und beginne, eine süß-saure Gemüsepfanne mit Schweinelendchen zu Quellreis zu zaubern.

Zaubern trifft es ganz gut, denn ohne Jarons übermenschliche Geduld hätte ich es nie gelernt. Jeder andere wäre ganz sicher verzweifelt.

~*~

Ich blicke auf die Uhr, sein Zug kommt in zehn Minuten an, ich sollte losdüsen, damit er nicht auf dem Bahnsteig warten muss.

Kalt wird ihm zwar nicht sein, immerhin ist er meine ganz private, menschliche Heizung, doch weiß ich selbst zu genau, wie schön es ist, aus dem Zug zu steigen und dort erwartet zu werden.

Ich schaffe es rechtzeitig, bin vermutlich zum ersten Mal sehr froh, dass der kleine Zug, der als einzige Bahnverbindung in unsere Stadt führt, sieben Minuten Verspätung hat. Dadurch kann ich parken und zum Bahnsteig eilen.

Dennoch wird mir in den paar Minuten sehr kalt. Ich hüpfe ein wenig herum, während ich auf dem matschig-nassen Bahnsteig warte.

Als mein Mann – das ist er für mein Herz nämlich schon, seitdem ich ihm letztes Jahr im Dezember begegnet bin – seine Lederstiefel die zwei Stufen aus dem Waggon auf das rote Pflaster des Bahnsteigs setzt, bleibt einmal mehr mein Herz für ein paar Schläge stehen. Es nimmt seinen Rhythmus stolpernd wieder auf, während ein Lächeln meine Mundwinkel nach oben schiebt und ich strahlend auf ihn zueile.

Meine Arme schlingen sich um ihn, als ich gegen ihn pralle, und er lacht ebenso wie ich.

Er ist die Perfektion eines Mannes, zumindest in meinen Augen, was mir vollkommen ausreicht!

Sein Haar ist momentan wieder raspelkurz, wodurch das dunkle Blond heller wirkt, den Kontrast zu seinen braunen Augen noch deutlicher macht.

Im Gegensatz zu mir trägt er keine Mütze. Dafür aber einen eleganten, grauen Schal und Wildlederhandschuhe zu seinem Dufflecoat.

„Hi mein Herz“, begrüße ich ihn und kann nicht anders; ich lehne mich in seine Umarmung und küsse ihn.

Wir sind beinahe gleich groß, was uns so einiges erleichtert. Seine Arme umschlingen mich, das Wildleder um seine Finger streichelt meinen Nacken.

„Hi Baby. Ist dir kalt?“

Seine Fürsorge wärmt mich übergangslos. Jarons Liebe klingt aus jeder Silbe. Ich will mich noch dichter an ihn drängen, stattdessen nehme ich Abstand und ergreife seine Hand, um ihn mit zum Auto zu ziehen.

„Komm, das Essen ist fertig und ich will ausnutzen, dass du wieder da bist.“

Er lacht erneut leise. Ich mag seine samtige Stimme, nein, ich mag alles an ihm.

Jaron ist elf Jahre älter als ich, aber das hat nie eine Rolle gespielt. Wenn man uns zusammen sieht, ist das eh nicht von Belang, da er aussieht, als wäre er so alt wie ich.

Seine langen Beine wecken mit jedem festen Schritt an meiner Seite meine Lust auf ihn.

Ich will sie um mich geschlungen wissen, will tief in ihm sein, ihn lieben.

Ich schüttle hastig den Kopf. Erst essen, dann kuscheln. Sex ist schließlich nicht alles …

Meine Gedanken sind schwer zu bändigen. Genauso wie der Wunsch, ihn am liebsten jetzt sofort zu bitten, nein, im Notfall auch anzubetteln, mich zu heiraten.

Verrückte Idee!

Am Samstag startet die Vorarbeit, danach werde ich sehen, ob ich den Mut tatsächlich aufbringen kann. In der richtigen Atmosphäre, mit den richtigen Worten.

Auf der Heimfahrt beobachte ich ihn immer wieder. Die ganze Zeit liegt seine mittlerweile vom Handschuh befreite Linke auf meinem Oberschenkel.

Eine warme, gleichzeitig liebevolle und besitzergreifende Geste. Ich liebe das!

Oh, es wird mir schwerfallen, mir meine wahnsinnige Nervosität nicht in jedem Augenblick anmerken zu lassen. Ich kann zwar wunderbar Geheimnisse für mich behalten, aber im Moment könnte ich platzen vor Vorfreude und dieses Geheimnis habe ich ja mit niemandem geteilt … zumindest, wenn ich von den Mitarbeitern des Juwelierladens absehe.

Meine ganze Aufregung, das zappelig flatternde Herz, meine unvermittelt weich werdenden Knie … das alles kann ich guten Gewissens auch auf meine Liebe und die Wirkung des Mannes an meiner Seite schieben, aber er könnte es dennoch bemerken. Er merkt schließlich immer, wie es mir geht.

Wir parken den Wagen in der zweiten Garage, die wir durch einen autolosen Nachbarn anmieten konnten, gehen anschließend Hand in Hand den Stichweg entlang, bis wir an dessen Ende vor unserem Haus landen.

Klingt verrückt, wenn ich das genau bedenke. Ich habe Jaron Mitte Dezember zum ersten Mal live und in Farbe getroffen, als ich mit Freunden zum Schlittschuhlaufen am Aasee war.

Ich glaube, es war eine Sache von Sekunden, mich in ihn zu verlieben, aber wer er wirklich ist, habe ich erst später herausgefunden.

Dass er der Autor der Schneeseelen ist, diese wunderbare, mich durch meine gesamte Jugend begleitende Buchserie mit ihrem Universum und ihren fantastischen Elementen erschaffen hat.

Es erschien mir wie ein Zufall, aber wenn ich darüber nachdenke, dass ich damals den Wettbewerb zum ersten Cover gewonnen habe, haben sich unsere Wege schon zu einer Zeit gekreuzt, in der ich nicht einmal in der achten Schulklasse war …

Ein Lächeln, ein Glücksschub, bevor ich es begreife, habe ich Jaron fest in meine Arme gezogen und drücke ihn hart an mich.

Er keucht überrascht auf, versteift sich zuerst, doch dann wird sein Körper weicher, anschmiegsamer, bis er mich ebenso umschlingt.

„Was ist los, Baby?“, fragt er dicht an meinem Ohr.

„Ich bin gerade davon überwältigt, wie sehr ich dich liebe, Jaron.“

Ich weiß nicht mal, ob er mich verstehen kann, ich murmele es nur, doch sein Griff um mich wird fester und seine Lippen wandern von meinem Ohr über meine Wange zu meinem Mund.

Sein Kuss ist sanft, weich, dennoch liegt darin eine Forderung, die ich nur zu gern erfülle.

Er raubt uns den Atem durch seine schiere, zärtliche Essenz. Unsere Mäntel landen im Flur am Boden, Jarons Hände sind überall an mir, so wie meine an ihm auf und ab wandern. Fahrig, fest, sanft, unkontrolliert. Es ist ein ständiger Wechsel in Koordination und Hingabe, Verlust aller Kontrolle.

Herrlich!

Erst nach endlosen Minuten lösen wir uns voneinander, und während ich die Sachen vom Boden an die Garderobe befördere, geht mein Mann in die Küche und kocht Tee.

Verrückt, vielleicht sollte ich ihn noch nicht so nennen … andererseits … es ist eine Herzensangelegenheit und meine Gefühle vermitteln mir seit elf Monaten, dass er genau das ist.

Mein Mann.

~*~

Nach dem Essen lassen wir den Tag ruhig ausklingen. Gemütlich lümmeln wir auf der Couch im rattensicheren Wohnzimmer. Der Kaminofen bollert, verbreitet eine so angenehme Wärme, dass ich leise brummend an Jaron lehne, während er mir vorliest.

Das ist eine echte Tradition geworden!

Bereits am ersten Tag, beziehungsweise in der folgenden Nacht, hat mir Jaron vorgelesen. Ich schließe genießend die Augen und versetze mich zurück an den Tag.

Erst das Eislaufen auf dem See, der Kakao und die Bratwurst, die ich gemeinsam mit ihm gegessen habe, das zweite Treffen an der Bushaltestelle, Ullas Geburtstagsparty, der Streit mit meinen Eltern … Ich seufze tonlos und er unterbricht das Vorlesen, um seine Lippen an meine Stirn zu legen.

„Was ist los?“ Im Gegensatz zu seiner betonenden, sogar unterschiedliche Stimmen verwendenden Lesestimme, spricht er jetzt leise, ganz sanft.

„Hab an unsere Anfänge gedacht. An den ersten Tag … Weil ich es so sehr liebe, wenn du mir vorliest. Deine Geschichten werden beim Selbstlesen schon lebendig, aber wenn du sie liest …“ Ich lasse meine Stimme bedeutungsvoll ausklingen, er lächelt zur Belohnung.

„Ich hab drüber nachgedacht, die neuen Geschichten selbst einzulesen. Meinst du, wir können im Keller eine Ecke für ein kleines, schalldichtes Tonstudio einrichten?“

Ich richte mich auf, blinzle zweimal. „Na klar! Die Leute werden deine Hörbücher lieben!“

Er lacht leise und legt den E-Book-Reader beiseite, um mich fest an sich zu ziehen.

Seine Küsse schmecken vor allem nach einem – nach mehr!

Immer.

Ich schmiege mich an ihn, würde am liebsten in ihn hineinkriechen. „Ich liebe dich“, knurre ich gegen seine geöffneten Lippen und verstärke meinen Griff um ihn.

Wie so oft reicht ein solcher Reiz, um mich zu weit mehr zu bringen, als einer wilden Knutscherei. Meine Hände gleiten unter sein Hemd, streicheln über seine warme Haut.

Aus den heißen Küssen werden fordernde, sanfte Bisse, bis wir nackt auf dem Sofa liegen und ich zwischen Jarons Beinen abtauche.

~*~

Mein Atem beruhigt sich langsam, ich liege fest an Jarons nackte Brust gekuschelt da und lasse die Nachbeben unseres Liebesspiels durch meinen Körper pulsieren.

„Ich liebe dich“, höre ich Jaron atemlos japsen, bevor er meine Stirn küsst.

Ihn zu besitzen, auch jetzt noch in ihm zu sein, erscheint mir immer wieder wie der Gipfel dessen, was an körperlicher Nähe erreichbar ist. Auch wenn Jaron mich in Besitz nimmt.

Es sind diese Minuten nach dem Orgasmus, die unsere Liebe greifbar machen. Nicht mehr vollkommen im Hormonrausch gefangen, ohne die wilde Ektase des Ficks.

Einfache, tiefgehende Nähe. Warm und gut.

Ich lächle ihn an, hebe dazu den Kopf von seiner Brust und versuche, mich so wenig wie möglich zu bewegen.

Seine Lippen finden meine, erneut versinken wir in einem zärtlichen Kuss, der all das zum Ausdruck bringt, was an Gefühlen in uns ist.

„Ich dich auch“, erwidere ich verzögert und kann nicht länger verhindern, aus ihm zu rutschen.

Wir verwenden schon seit geraumer Zeit keine Kondome mehr, weshalb auch das synthetische, latexfreundliche Gleitgel gestrichen wurde. Nicht so ersatzlos wie die Gummis, denn ohne Gleitmittel ist Männersex eine echte Herausforderung, doch haben wir uns für ein Melkfett mit Ringelblume entschieden.

Es schmiert, tropft aber nicht, hat bei eventuellen, kleineren Hautrissen den Vorteil, heilend zu wirken.

Ich muss grinsen und beiße spielerisch in seine Brustwarze. Sein Zucken erinnert mich daran, wie empfindlich er nach dem Sex ist.

Dabei ist unsere Gangart im Bett nun wirklich nicht harmlos. So etwas wie Blümchensex haben wir verdammt selten.

Aber hinterher … Mein Grinsen wird breiter und ich spüre, wie er seine Finger in meine Seiten krallt, um mich zu zwicken.

„Mein Herz, wenn du nicht aufhörst, kriegst du heute Nacht keinen Schlaf“, verspreche ich mit einem drohenden Unterton und knurre leise.

Er schaudert. Ich weiß genau, dass er mein wölfisches Knurren liebt, dass es ihn anmacht, wenn ich ihm zeige, wie sehr ich ihn will.

„Wer braucht schon Schlaf?“, raunt er und räkelt sich so aufreizend unter mir, dass ich an nichts anderes denken kann, als daran, ihn mit Zunge, Händen und Mund zu verwöhnen, bis wir beide wieder bereit sind.


 

© Gerry Stratmann / Nathan Jaeger / Gay-fusioN GbR Zurück zur Hauptseite 'Gay-fusioN'

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Published on November 06, 2021 05:45