Maximilian Buddenbohm's Blog, page 241
October 9, 2017
Die Herzdame reist nach Helgoland (Teil 2)
Ein Text von Maret Buddenbohm, auch bekannt als die Herzdame, die Vorträge über Klippenkohl gehört hat
Nachts kam dann der Sturm, den der Gatte nicht vorausgesagt hatte. Die komplette Familie hat ihn mitbekommen, nur ich habe geschlafen wie ein Stein. Der Blick morgens aus dem Fenster war atemberaubend. Die Düne – vor fünf Minuten noch zu sehen – war innerhalb kürzester Zeit komplett im Nebel verschwunden und fünf Minuten später wieder klar zu sehen. Und die Wellen, die da an den Strand rollten …. und die Gischt … und die überspülte Hafenmole …. ganz großes Kino.
Guten Morgen! Etwas stürmisch hier. #Helgoland
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Nach dem Frühstück dann erstmal ein kleiner Spaziergang: Oberland, Mittelland, Unterland. Für jeden was dabei und die Söhne habe ihre neue Berufung gefunden: Schneckenumsiedlungsexperten. Die mussten nämlich alle von den Wegen zurück ins Grün befördert werden. Der Gatte geriet bei jedem wildwachsenden Helgoländer Klippenkohl in botanische Totalverzückung und ich liebte es, über die Kante aufs Meer zu schauen, besonders mit Wind und Wellen und Gischt.
Schnecken an Klippenkohl. #Helgoland
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Es war die ganze Zeit übrigens erstaunlich warm. Aber dafür ist Helgoland ja auch bekannt, dass die Temperatur hier immer deutlich milder als an der restlichen Küste ist. Und das trotz des Sturms.
Bisschen windig hier. #Helgoland
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Und dann das Highlight eines jeden Schrebergartenbesitzers: der Besuch des Helgoländer Kleingartenvereins. Zugegeben, das war im Oktober nicht allzu spannend, aber immerhin ist es der einzige Kleingartenverein auf einer deutschen Hochseeinsel.
Besuch im #Kleingartenverein #Schrebergarten #Garten auf #Helgoland
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Und weil man auf Helgoland ja „ach so günstig“ zollfrei einkaufen kann, haben es die Jungs sich nicht nehmen lassen uns so lange vollzunörgeln bis sie ihre absolut „ich werde sonst nie wieder glücklich und du willst doch, dass ich glücklich bin“ Helgolandandenken bekommen haben. Sohn I die Nachplapper-Möwe „Laber-Kuddel“ und Sohn II einen Schokolinsen-Spender in Form eines ziemlich großen und sehr unhandlichen Flugzeugs. Für diesen ganzen Schund hasse ich Helgoland dann doch ein bisschen.
Ich verstehe auch gar nicht, warum man nach Helgoland zum Einkaufen kommt. Ich finde hier nichts günstig. Es gibt alles nur in gigantisch großen Verpackungseinheiten und wenn man dann noch die Überfahrt und die unverschämt teuren Bockwürstchen an Bord dagegen rechnet, die man unter Umständen eh wieder erbricht … Aber gut, irgend wovon müssen die Helgoländer leben, warum nicht von einem Mythos.
Dann gab es Kaffee und Kuchen im Café Krebs, mit der angeschlossenen ältesten Diskothek Deutschlands übrigens. Die Diskothek kann ich nicht beurteilen, aber zumindest im Café hat sich seit der Eröffnung jedenfalls nichts mehr geändert. Irgendwann zeigten die Söhne fasziniert auf so einen riesigen schwarzen Kasten, der ein Fernseher sein sollte, noch älter als der Röhrenfernseher, den wir schon vor ein paar Jahres entsorgt haben. Und auch sonst, modern und schön geht anders. Kaffee und Kuchen waren anständig, aber auch wenn da hauptsächlich Senioren hinkommen, wollen die es nicht mal etwas moderner haben?
Der nächste Programmpunkt war das Helgoländer Schwimmbad. Jetzt weiß ich auch, warum wir in den ganzen zehn Jahren noch nicht einmal da waren. Es besteht aus einem kleinen Indoorplanschbecken, das mit 10 Kindern bereits überfüllt ist und einem großen Außenbecken. Durchaus beheizt, aber man muss es mögen. Irgendwann nahmen mich die Söhne zur Seite und bekundeten ihr grenzenloses Mitleid mit den Insulanerkindern, die nie in ihrem Leben lernen würden vom Einer oder Dreier zu springen oder gar das Vergnügen kennenlernen würden, die eine Wasserrutsche bereitet. Das Leben auf so einer Insel kann hart sein.
Ein Highlight hat das Mare Frisium aber, den Panorama-Ruheraum mit Blick aufs Meer und die Düne, den die Söhne aber leider nicht genießen konnten, weil ist ja Ruhe-, nicht Toberaum.
Draußen vor dem Schwimmbad gab es ein großes Schachbrett, von dem die Jungs erstmal nicht mehr wegzukriegen waren. Wir haben sie dort gelassen und sind schon mal ins Hotel gegangen. Das ist wieder das Schöne, wenn die Kinder erstmal ein gewisses Alter haben, kann man sie auf der Insel gut alleine lassen. Die Gefahr, von einem sehr langsamen Elektroauto überfahren zu werden, halte ich für gering und die Insel ist so klein, sich zu verlaufen wird da schwierig.
Die Jungs kamen dann irgendwann auch wieder, sie hatten sich vorher noch bei fremden Leuten zum Minigolfen eingeladen.
Zum Abendessen ging es ins Aquariumcafé, das ist einer der wenigen brauchbaren Läden dort und deshalb immer voll. Der Gatte war mit seinem Helgoländer Pannfisch sehr zufrieden, die Kinder mit ihren Fischstäbchen mit Pommes und mein Steak war auch sehr in Ordnung.
Wo ein Regenbogen ist, muss auch Sonne sein. Aktuell hier auf #Helgoland
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Fazit des Tages: Die armen Kinder von Helgoland haben ja nix. Und Helgoland ist auch bei Nebel, Regen und Sturm sehr, sehr schön.
Fortsetzung folgt.
October 8, 2017
Die Herzdame reist nach Helgoland (Teil 1)
Ein Text von Maret Buddenbohm, auch bekannt als die Herzdame, die gerade entgegen aller Wettervorhersagen auf ihren Mann gehört hat und nach Helgoland gereist ist.
Unseren Helgolandaufenthalt hatten wir schon vor einem halben Jahr im Frühjahr gebucht. Da denkt natürlich niemand an Herbststürme und wetterbedingt ausfallende Katamarane oder Schiffe.
Nach dem Kindergeburtstagsmarathon im September hatten wir es uns dann endlich verdient – ein langes Wochenende auf Helgoland. Leider sagten alle meiner Wettervorhersagen Sturm mit Windstärke 8 voraus. Der Gatte hingegen sagte was anderes voraus – meistens Sonnenschein, ein bisschen Wind. Nun ja, dann wollen wir mal alle Bedenken fahren lassen und ihm glauben….
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In der Tat hatten wir auch strahlenden Sonnenschein als wir auf Helgoland ankamen. Ist es in Norddeutschland auch noch so grau und nass, Helgoland hat uns noch nie enttäuscht. Und selbst wenn es mal geregnet hat, war das immer nur kurz.
Und die Sonne scheint. #Helgoland
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Wir sind dann sofort mit der Fähre zur Düne (die kleine Nachbarinsel mit Sandstrand), um da gemütlich in deinem der Strandkörbe des Dünenrestaurants zu chillen, Kaffee zu trinken und den Kindern beim Buddeln zuzusehen. Für gemütlich war das aber irgendwie der falsche Tag – bestes Wetter und langes Wochenende mit Brücken- und Feiertag. So voll haben wir es da noch nie erlebt, Hochsaison war nichts dagegen. Bis wir überhaupt bestellen konnten, haben wir bestimmt erstmal eine halbe Stunde warten müssen, zu den weiteren Wartezeiten muss man dann nichts mehr sagen.
Kann man aushalten hier. #Helgoland #Düne
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Im Grunde war das aber auch egal, meine Laune war eh schon auf dem Tiefpunkt. Exakt beim Betreten der Düne war die Nachricht gekommen, dass der Katamaran die nächsten beiden Tage sturmbedingt nicht fahren würde. Und wenn es einen Zeitpunkt gab, der so gar nicht passte, dann diese Woche. Dass es nicht so richtig viel Internet auf der Düne gab, um Umbuchungsmöglichkeiten zu recherchieren, machte die Laune dann auch nicht besser. Erst als ich unsere Freundin und Helgolandexpertin Iris erreicht hatte, die uns dann weiterhalf, konnte ich so langsam wieder auf Entspannungsmodus umschalten.
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Sturm kommt auf. #Helgoland #Düne
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Nach Pommes, Kaffee und Apfelschorle im Dünenrestaurant gab es das Pflichtprogramm, ohne das ich schon wieder in schlechte Laune verfallen wäre: Inselrundgang mit Friedhofsbesuch. Die meisten Menschen bevorzugen es ja eher, die Inseln am Strand entlang zu umrunden und dabei Robben und Seehunde zu beobachten. Ich nicht! Ich muss einmal quer durch – auf schmalen Holzplanken quer durch das ganze Gestrüpp aus leuchtendem Sanddorn und diesen gruselig, kahlen Büschen, was auch immer das ist. Mindestens bis zum Friedhof der Namenlosen. Wie der Name schon sagt, sind dort die Toten bestattet, die das Meer auf Helgoland oder der Düne angespült hat. Ich liebe diese besinnliche Atmosphäre hier, wenn nicht gerade die Kinder lautstark die Grabsteine diskutieren oder die Gedenkglocke läuten.
Friedhof der Namenlosen #Helgoland #Düne
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Sohn 2 läutet die Gedenkglocke für die Namenlosen Toten. #Helgoland #Düne
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Friedhof der Namenlosen #Helgoland #Düne
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Friedhof der Namenlosen #Helgoland #Düne
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Zurück auf Helgoland haben wir erstmal „unser“ Zimmer und den Ausblick vom Balkon aus genossen und darauf gewartet, dass es Zeit war Essen zu gehen. Essen gehen auf Helgoland ist eine echte Herausforderung. Das, was gut ist, ist in der Regel auch etwas teurer und mit Kindern nicht unbedingt eine Freude, weil sie da nicht so oft vorkommen. Das, was mit Kindern machbar ist, ist für unseren Geschmack eher eine Zumutung. Manchmal frage ich mich, ob Helgoländer wirklich denken, dass Essen so schmecken muss. Oder ob es denen einfach nur egal ist, wie es schmeckt, weil die Tagestouristen eh nicht wiederkommen und die Übernachtungsgäste einfach keine andere Wahl haben. Die wenigen Restaurants, die für uns in Frage kommen, sind jedenfalls immer komplett überfüllt. Dieses Mal hatte ich die geniale Idee, vorher zu reservieren. Leider war ich aber nicht das einzige Genie. So landeten wir dann im Restaurant „Düne Süd“ im Lung Wai. Für Helgoländer Verhältnisse kann man das als Familie ganz gut machen, es gibt anständige Kinderteller und die Jungs fanden ihre Chicken Nuggets mit Pommes „super lecker“. Der Gatte wurde von seinem Schnitzel Hamburger Art satt und der Rand meiner Pizza Parma-Rucola war so vorzüglich, dass mir die Jungs nicht viel davon übrig gelassen haben.
Jetzt betrinken im Hotel auf den Hummerklippen. Festsitzen auf #Helgoland
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Dann sind wir mit zwei völlig erschöpften Kindern zurück ins Hotel und sofort ins Bett. Hier muss ich noch mal lobend erwähnen, wie schön das Hotel ist und wie stilvoll und heimelig die Zimmer eingerichtet sind. Und zwar nicht, weil wir ein nach dem Gatten benanntes „Buddenbohm“-Zimmer haben, sondern weil wir uns megawohl gefühlt und fasst gar nicht gestritten haben, obwohl das Zimmer wie die meisten Zimmer auf Helgoland (wenig Platz eben …) ziemlich winzig für eine vierköpfige Familie war.
Fazit des Tages: Höre bei Wettervorhersagen nie auf deinen Ehemann. Und ein Familienzimmer für zwei Nächte muss nicht groß, aber unbedingt kuschelig sein.
Fortsetzung folgt.
October 7, 2017
Beifang vom 08.10.2017
Bei der GLS Bank habe ich fünf Links zum Klima zusammengestellt.
Ich kenne wenige Menschen im ganz jungen Erwachsenenalter, aber ich kenne Liva, die gerade mit der Schule fertig und jetzt ein Jahr in Mexiko ist. Und darüber bloggt sie.
Bilder aus Bergen aan Zee.
Eine Reportage aus Shishmaref.
Auf dem Kölner Dom.
Über Apple in Schulen.
Über einen Lokalreporter:“Ich spüre hier eine Freude bei den Leuten, die darf ich ja nicht kaputtmachen, wie käme ich dazu!”
Und nun Tiny Ruins. Me at the museum, you in the wintergardens. Schön, schön.
October 6, 2017
Was schön war
Ich hatte einen Termin in einem Stadtteil, in dem ich nicht so oft bin. Ich fahre dann immer besonders früh und gehe da ein wenig durch die Straßen, ich gucke nämlich gerne Straßen und ich stehe auch gerne an fremden Orten sinnlos etwas herum und habe nix zu tun, ich mag das.
Da war ein Geschäft für Modelleisenbahnen, ein ziemlich großes Geschäft sogar, ich stand eine ganze Weile vor dem Schaufenster . Da gab es Züge und Loks und Häuser und all das, Signalanlagen und Straßen und Berge, die ganze Welt im Miniformat. Ein Sortiment sehr kleiner Menschen in allen möglichen Posen und Moden, bei der Kartoffelernte und an der Ampel, Autos aus vielen Modellreihen, Fabriken und Kirchen und Bäume und Blumen. Blumen! Wirklich winzige Blumen, kleinfingernagelgroß nur, ach was, halb so groß. Wenn überhaupt.
Ein Dahliensortiment gab es da, eine Schachtel nur voller Dahlien, ganze hundertzwanzig Stück. Und die muss man, wenn man sie kauft, zuhause auch noch erst einmal zusammenstecken, die Blüten auf die Stängel, hundertzwanzigmal, das muss ein irres Gefummel sein. So etwas machen die Leute, die so etwas als Hobby haben, dann wohl an diesen langen Winterabenden, von denen alle immer reden. Eine Schachtel voller Blumen also. Verschiedene Farben, versteht sich! Buntblüher!
Hundertzwanzig winzigkleine und quietschbunte Plastikdahlien im Bausatz – und auf der Schachtel stand groß und in roten Buchstaben auf gelbem Grund: “Natur pur”.
Das fand ich schön.
Gehört (2)
Wenn man erst einmal anfängt, auf Dialogtrümmerstücke im Vorbeigehen zu achten, dann kommt man aus der Nummer natürlich wochenlang nicht mehr raus.
Zwei Damen stehen vor dem Lidl im kleinen Bahnhofsviertel, sie tragen orientalische Gewänder, mir fehlt die Kenntnis, sie souverän einem Land oder einem exakter gefassten Kulturkreis zuordnen zu können. Sie reden arabisch, zumindest klingt es für mich so, aber was weiß ich schon, das ist im Grunde alles ungenau, sträflich ungenau. Sie reden jedenfalls, so viel steht zweifelsfrei fest, sehr schnell und ich verstehe, das steht auch fest, nichts. Außer genau einem Wort, das sie mehrmals sagen, das aus ihrem Dialog herausfällt. Es ist ein deutsches Wort, ein Fremdwort also aus ihrer Sicht: “Eisbergsalat.” Ich höre etwas irritiert hin, aber es ist tatsächlich, wie es ist, es ist Eisbergsalat, das wird sehr präzise ausgesprochen. Warum auch immer. Kennt man Eisbergsalat auf der arabischen Halbinsel? Und wo ich das so schreibe, kommt mir das Wort auf einmal selbst immer seltsamer vor, Eisbergsalat, ich habe es direkt gegoogelt, man will ja auch keinen Blödsinn schreiben, jedenfalls nicht unabsichtlich. Aber doch, der heißt wirklich so, der Salat. Angeblich sagt man auch Eissalat, das habe ich aber noch nie gehört, Eissalat, da denke ich eher an Schokolade, Erdbeer, Vanille, ein kindgemäßer Salat. Und warum heißt der Eisbergsalat so? Weil er früher mal auf Eis in Zügen an die amerikanische Ostküste transportiert wurde. Echt. Wieder was gelernt.
Das häufigste deutsche Wort, das mir sonst in fremdsprachigen Gesprächen etwa in der Bahn auffällt, ist mit Sicherheit “Schlump”, also die Hamburger U-Bahnstation. Schlump, mit ohne F am Ende. Ein so markantes Wort, man erkennt es immer, selbst wenn es sich in einem langen chinesischen Satzstrom verbirgt. Auf dem zweiten Platz vermutlich “Altona”, ein einladendes und wohllautendes Hamburger Wort, das man in vielen Sprachen gut aussprechen kann. Und dann noch “Habanoff”, also die gängige Bezeichnung für den Hauptbahnhof unter sämtlichen Touristen aus dem Ausland, eine Bezeichnung, die übrigens nett und faszinierend von der Bezeichnung abweicht, welche die Mitarbeiterinnen des Hamburger Verkehrsverbunds dort lässig in die Mikros nuscheln: “Habuff.”
Und sonst?
“Wenn da zu ist, dann gehen wir eben irgendwo Kaffee trinken und Kuchen essen.”
“Kuchen essen! Oh ja, Kuchen essen. Kuchen essen ist gut.”
Da geht man vorbei, hört das und nickt, bekommt plötzlich selber Hunger und guck, da hinten ist ja eine Bäckerei. Oder: Wie ich endlich mal wieder zu einer Rumkugel kam, einer stark überteuerten Rumkugel allerdings, vor deren Preis ich missbilligend stand und gerne mit dem Krückstock gefuchtelt hätte: “Ein Euro fuffzich! Früher war das mal Billigkuchen! Aus Resten wurden die gemacht! Aus abends zusammengefegten Resten! Wir haben damals nämlich noch Kuchen aus Resten gegessen, wissense, dauernd haben wir den gegessen, wir hatten ja nichts! Und hat es uns geschadet?” Egal. Geschmeckt hat die Kugel trotzdem.
Man muss aber im Vorbeigehen auch nicht alles verstehen:
“Die Schweiz ist ja neutral. Aber wenn es mal Krieg mit der Schweiz gibt, die fickt jedes Land.”
“Echt.”
Anderes leuchtet viel eher ein, besonders wenn die Sprechenden noch Kinder sind:
„Ich wollte immer ein Tier sein, weil Tiere sich nicht die Zähne putzen müssen.“
“Klar.”
Und manches, was man im Vorbeigehen hört, hat musikalische Erinnerungen zur Folge, die einen tagelang nicht mehr loslassen:
„Papa, wo fliegen wir hin?“
„Nach Kanada. Das weißt du doch.“
October 4, 2017
Beifang vom 05.10.2017
Frau Ruth über Candy Crush.
Wir waren gerade auf Helgoland, und da hier jetzt auch ein paar Gartenfreunde mitlesen – da gibt es eine eher unbekannte Attraktion, den Helgoländer Klippenkohl. Wenn man selbst gärtnert, dann sieht man sich das natürlich etwas genauer an.
Die NDR-Doku “Heimat Helgoland” habe ich noch nicht gesehen, einen Tipp ist sie aber sicher wert, nach allem, was ich darüber gehört habe. Und auch beim Spiegel geht es um den Helgoländer Fotografen Franz Schensky.
Die Musik ist heute eine Empfehlung der Herzdame: Boulevard des airs mit “Bruxelles”.
September 30, 2017
Alles kann übers Meer kommen
Ich bin für den Septemeer von Kiki fast schon etwas knapp, aber noch sind ein paar Stunden Zeit, da werfe ich doch noch etwas in die Runde. Eine gekürzte Version der Geschichte “Alles kann übers Meer kommen”, die Teil eines größeren Stücks ist, für das ich wohl noch Ewigkeiten brauchen werde. Diese Geschichte ist in etwas längerer Version bereits in Buchform erschienen (Hamburger Jahrbuch für Literatur 2017) und ich habe sie auch schon mehrmals öffentlich vorgelesen – da kann sie auch ruhig ins Blog, denke ich.
Ich liefere keinen Kontext, die Geschichte fängt mitten drin an, aber es geht um die Liebe, da findet man dann schon rein. Mit der Liebe kennt sich die eine oder der andere ja aus. Wie es mit Rolf und Miriam dann weitergeht, erfährt man später. Viel später, wenn ich meine aktuelle Schreibgeschwindigkeit bedenke. Wobei es der Sache vielleicht auch gut tut, mal wieder eine Geschichte ins Blog zu werfen, dieses Schreiben auf Vorrat ist irgendwie nichts für mich, stelle ich immer wieder fest.
Die Geschichte ist zwar gekürzt, aber für Blogverhältnisse immer noch länglich, es ist also Zeit genug, eine Tasse Tee dabei zu trinken. Oder was auch immer. Und nun geht sie los:
Alles kann übers Meer kommen
Früher, als es noch gut lief, war Rolf oft mit Miriam nach Helgoland gefahren. Aber erst bei ihrer letzten Reise hatte er gemerkt, dass es die Insel zweimal gab. Zweimal das Oberland, zweimal das Unterland, zweimal den roten Felsen, das Leuchtfeuer, die Düne, zweimal alles. Beim ersten Besuch hatte er nur die eine Insel gesehen, die alle dort sehen, er hatte auch nur gemacht, was alle dort machen, es war ein normaler Inselausflug übers Wochenende. Eine Verabredung aus einer Laune heraus, weil sie die Werbung für die Überfahrt in der Hamburger S-Bahn gesehen hatten. Da hatte er Miriam gerade kennengelernt, als sie diesen Ausflug zur Insel gemacht haben, und sie hatten noch Einzelzimmer im Hotel gebucht. Von denen sie dann nur eines genutzt haben, aber das konnte er vorher nicht absehen. Hätte er bei der Buchung ein Doppelzimmer vorgeschlagen, es wäre seltsam und unbeholfen gewesen, wie ein vorschneller Griff ans Knie oder schlimmer. Es war noch alles offen zwischen ihnen, jede Idee, die eine weiter entfernte Zukunft als den nächsten Tag betraf, war eine heikle Angelegenheit, hätte die Richtung der Geschichte noch ändern können. Weswegen sich Rolf jeden Satz gut überlegte und wochenlang wenig sprach, weil er so viel wollte und dabei so viel nachdenken musste und dann vor lauter Konzentration auf nichts mehr kam. Nach der ersten gemeinsamen Nacht auf der Insel wurde er deutlich gesprächiger, was Miriam tagelang irritierte. Er hörte aber auf zu reden, wenn sie ihn küsste. Sie küsste ihn oft in den nächsten Wochen, denn es gefiel ihr, wenn er wenig und langsam sprach, sie mochte diese bedachte Ausstrahlung. Rolf hatte eine tiefe Stimme, sie fand es gut, wenn er mit dieser Stimme kurze Sätze sprach, das passte auch zu seiner bärigen Statur. Er wirkte dann wie Charlton Heston in einem Katastrophenfilm, der mit einem bündigen „Ich mache das“ im letzten Moment alles doch noch auf den richtigen Weg bringt, er allein. Und alle wissen, er wird es auch schaffen.
Wenn Rolf viel sprach, verlor sich dieser Eindruck. Den gesprächigen Rolf fand Miriam gewöhnungsbedürftig, das war nicht, was sie bestellt hatte. Er sah genauso gut aus wie die schweigsame Version des Mannes, in den sie sich verliebt hatte, er sah wirklich gut aus, aber all diese Sätze? Und so viele davon mit Fragezeichen am Ende. Sie war nie der Ansicht gewesen, dass etwas besser wird, wenn man viel spricht. Das Leben nicht, Beziehungen nicht, gar nichts. Die besten Sachen im Leben waren die, über die man nicht reden musste, fand sie. Sie arbeitete in einem medizinischen Labor und musste tagsüber so gut wie nie reden. Und wenn, waren es präzise Sätze mit klaren Inhalten. Rolf war Dozent und redete beruflich, sie hätte vorher misstrauisch werden können.
Im Laufe der Jahre fuhren Rolf und Miriam mehrmals nach Helgoland, das sie in Erinnerung an die erste Fahrt ihre Startinsel nannten. Er hatte einmal Liebesinsel gesagt, aber das erinnerte sie an Möbelhausprospekte aus den Achtzigern, als sich alle auf einmal diese monströsen Doppelbetten in rundlicher Form kauften, in denen Stereoanlagen und dezente Beleuchtung und manchmal sogar Massagevorrichtungen verbaut waren. Mit großen Kissen in Raubtiermustern und Tagesdecken aus Kunstpelz. Liebesinsel, nein, das ging nicht. Aber Startinsel, das klang gut, fand Miriam. Rolf dachte, dass Startinsel so klang, als müsse es auch ein entsprechendes Ende geben, als würde man ein Rennen über das Meer starten und die Beziehung irgendwann auf Borkum oder so enden lassen, ein paar Inseln weiter eben, auf der Zielinsel. Jede Insel dazwischen ein Kapitel oder ein Level, wie in einem Adventuregame. Und wenn man ein Level nicht schaffte, konnte man vorne wieder einsteigen, reset to Helgoland. Startinsel, das klang komisch, fand er. Aber es lohnte nicht, sich mit Miriam über Vokabeln zu streiten, sie fanden da eh nicht zusammen.
Sie blieben immer ein ganzes Wochenende auf Helgoland, sie schliefen immer im gleichen Hotel, sie machten das immer gleiche Programm. Das Programm war kurz, denn das war das Gute an Helgoland, fanden sie, dass das Programm einfach nicht länger wurde, jedenfalls, wenn man keine Sonderinteressen entwickelte und Hobbyornithologe oder so etwas wurde. Und das musste man ja nicht. Unterland, Oberland, Düne, ein Fischbrötchen, ein Kaffee, ein Bier, Essen. Das Programm war so kurz, dass sie danach viel Zeit hatten, lange im Bett zu liegen und von da auf die Nordsee zu sehen, denn der Blick war der beste, der allerbeste. Vom Bett aus sahen sie den Himmel und die Nordsee und ein wenig von der Düne. Sie sahen ungeheuer viel über und vor sich, sie sahen mehr Himmel, als in der Stadt überhaupt verfügbar war. Den Teil des Himmels, den die beiden tagelang vom Hotelbett aus sehen konnten, hätten sie in der Stadt mit Hunderttausenden anderer Menschen teilen müssen, es war wirklich viel Himmel für zwei Personen. Eine enorme Weite in immer neuen Variationen von Blau sahen sie da. Rolf hatte während eines Juliwochenendes einmal auf dem Balkon gesessen und eine Liste mit Blaunamen angelegt, Dunkelblau, Hellbau, Pastellblau, Taubenblau, Azurblau, Wasserblau, Aquamarinblau, Mitternachtsblau, Heidelbeerblau, es standen auch Unglaublichblau und Überblau auf der Liste, er mochte so etwas. Miriam hatte gesagt, wenn man einfach Blau sagt, dann wird man aber auch verstanden. Rolf hatte auf das Meer gesehen und nach weiteren Begriffen gesucht. Er hatte gerade wieder überlegt, doch einmal Tagebuch zu führen, da hätte er mit diesem Ausblick beginnen können. Er stand am Fenster, sah hinaus und murmelte noch mehr Farbnamen. Er hatte noch nie ein Tagebuch geführt, aber es könnte doch interessant sein, sich selbst zu lesen, dachte er. Miriam saß auf dem Bett und sah auch hinaus, sie konnte sich das da draußen alles ansehen, ohne es zu beschreiben.
Am unteren Bildrand ihres Ausblicks, wo die Wellen an den Strand der Düne schlugen, verlor sich das Blaue des Himmels im Blaugrau der Nordsee, das allmählich ins Graubraune überging, wie Rolf immer weiter murmelnd aufzählte. Dann verlief es weiter ins Braune, fast Schwarze, und wenn es sich bewegte, dann war es eine Robbe. So war der Blick aus diesem Zimmer, und darauf freuten sie sich schon wochenlang vorher. Da konnten sie stundenlang nebeneinander auf dem Bett liegen und gucken, einfach nur gucken. Einmal hatte er sich in den Wochen der Vorfreude vorgestellt, wie schön es sein müsste, bei diesem Blick aufs Meer Sex zu haben und sich dabei passend zum Rhythmus des Meeres zu bewegen. Als sie dann da waren, hatte er gemerkt, dass das Meer gar keinen Rhythmus hat, wenn man es von oben aus einem hochgelegenen Hotelzimmer betrachtet. Es liegt dann einfach nur und strömt vielleicht, wenn man genau hinsieht, langsam etwas zur Seite, aber auch das sieht man manchmal kaum. Da hatte er sich einfach bewegungslos auf Miriam gelegt, ganz ohne Rhythmus und Brandung und Wellengang, und er hatte gesagt, er würde jetzt wie die Nordsee langsam, wirklich ganz langsam nach rechts driften, und zwar genau gemäß der Angaben im Gezeitenkalender auf dem Nachttisch. Das war schön, so zu liegen und langsam zu driften und Miriam lag unter ihm und dachte, dass das seine besten Einfälle waren, diese Einfälle, die so ein stilles Glück ergaben. Ein Glück, das nicht besprochen werden musste und bei dem man sehr nah zusammen war.
Aber erst bei der letzten Reise, als zwischen ihnen nichts mehr in Ordnung war, als er bei jedem Gespräch mit dem Wort Trennung rechnete und sich nicht sicher war, ob es Miriam auch so ging und ob sie deswegen nicht mehr miteinander sprachen, erst bei dieser Reise stieß er auf das zweite Helgoland. Das war, als er zum ersten Mal das kleine James-Krüss-Museum besuchte. Da erst hat er das Helgoland von Miriam und ihm mit dem Geschichtenhelgoland in Verbindung gebracht, mit dem er als Kind vertraut gewesen war. Da erst fielen ihm die Bücher von James Krüss wieder ein, die damals in der Bibliothek der Grundschule standen. All die Geschichten von der Insel, die er mehrmals gelesen hatte. Und er hat gleich dort in den nachgebauten Hummerbuden des Museums in den Büchern etwas quergelesen, weil er sich genauer erinnern wollte. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass die Insel, die er sich als Kind beim Lesen vorgestellt hatte, real war, dass er sie jetzt kannte, gut kannte sogar. Er hatte lange nicht mehr an diese Bücher gedacht. Er stand und las, war gerührt und schüttelte den Kopf beim Blättern.
Als er aus dem Museum kam, konnte er zwischen den Inseln hin- und herwechseln. Er konnte die Zeichnungen aus den alten Büchern mit den Geschichten von Boy und seine Familie über die neuen bunten Bilder direkt vor ihm legen, das ging wie in einem Kinofilm, es wurde einfach übergeblendet. Der Blick über die Nordsee war auf einmal kein Blick über die Nordsee seines Erwachsenenlebens mehr, der Blick war ein anderer als der oben aus dem Hotelzimmer, in dem er immer noch alle paar Monate mit Miriam lag, wenn sie mittlerweile auch nur noch schweigend lagen und lasen.
Er sah jetzt nicht mehr die Nordsee von heute mit Fährschiffen darauf und Windparks darin. Er sah wieder ein größeres, gefährlicheres Kindheitsmeer, an dessen Ufer er klein und voller Erwartungen stand. Er ging in die Hocke, um wieder auf Kinderhöhe zu sein. Und da war dieses Meer da vor ihm für einen Moment wieder voller Abenteuer, voller Möglichkeiten und Geschichten, es war wild, rätselhaft und spannend. Alles konnte über dieses Meer kommen. Sprechende Möwen und ungeheuerliche Stürme und seltsame Menschen in kleinen Booten und Klabautermännner und Hoffnungen und Ahnungen von noch mehr von allem. Die Leute um ihn herum waren nicht mehr irgendwelche Tagestouristen. Das waren Menschen, mit denen man, wer weiß, ganze Abende lang über den Buchstaben M hätte reden können. So ging das doch in den Kinderbüchern, warum sollte es eigentlich nicht mehr gehen.
Geschichten über den Buchstaben M, das war eine Erinnerung an eine Szene bei Krüss. Da saß man abends in einer Hummerbude beisammen und erzählte sich etwas, es ging um das Alphabet. Vermutlich war Boy wegen einer Krankheit bei seinem Urgroßvater untergebracht, oder er war dort, weil sein Schiff zum Festland wegen eines Sturms nicht fuhr, so war das doch immer bei Krüss. Jemand hing irgendwo fest und dann wurde eben erzählt, das war auch bei anderen Autoren so. Es gab einen Fehler im geordneten Ablauf des Lebens, der führte zu all den Geschichten, und am Ende wurde alles richtig und sinnvoll. Und ein Buch wurde dann auch noch daraus. Rolf dachte, dass es immer noch so sein müsste, dass man das doch vom Leben erwartet. Etwas passiert und der ganze Rest wird dadurch erst anders, dann spannender, dann besser. Aber in letzter Zeit lief bei ihm etwas falsch, und alles wurde dadurch immer noch falscher. Und wenn es noch einige Monate so weitergehen würde, dachte er, dann ergibt sich aus all dem auch keine Geschichte mit einem anständigen Ende mehr. Zumindest nicht, was Miriam und ihn betraf, das dann sicher nicht. Und eine Liebesgeschichte ohne Happy-End, so etwas gehörte in finnische Filme, die er nicht sehen wollte, es gehörte aber nicht in sein Leben. Er musste bei seiner Geschichte auf die Wendung zum Besseren kommen. Er dachte sich die letzten Wochen und diese vielleicht schon letzte gemeinsame Fahrt nach Helgoland als Kapitel in einem Buch und fand, er hatte vermutlich nur noch ein paar Seiten Zeit, um etwas zu drehen. Er war wohl schon im letzten Kapitel, nur noch ein paarmal Blättern und dann. Er hatte überhaupt keine Ahnung, wie er vorgehen sollte. Er stand nachmittags am Hotelfenster und sah zum Horizont, von wo überhaupt nichts zu kommen schien.
Als er früher am Tag in dem Museum stand und die Bücher durchblätterte, erschien es ihm so anziehend und schön, sich ganze Abend lang Geschichten zu erzählen. Aber das macht man ja nicht mehr, dachte er, man setzt sich nicht mehr hin und erzählt sich etwas. Man führt doch nur noch kurze Dialoge über Alltagszeug auf, dachte er. Wenn jemand mehr als drei Sätze am Stück redet, dann ist das schon anmaßend, dann lässt er die anderen nicht zu Wort kommen. Dann ist er nicht spannend, dann ist er dominant. Niemand sagt: Komm, erzähl uns die ganze Geschichte, lass dir ruhig Zeit, warte, ich hole dir ein Bier. Nein, man erzählt sich nichts mehr. Man holt nicht mehr aus, man legt sich nichts zurecht. Und vielleicht macht auch das alles schneller, dachte Rolf.
Er wollte am liebsten augenblicklich losschreiben, und bei seiner eigenen Geschichte ganz am Anfang beginnen, wie in einem großen Roman. Er hätte gerne alles aufgeschrieben, er hatte auf einmal tausend Ideen, was dringend aufgeschrieben werden musste. Er hätte ganze Bände konzipieren können, „Mein Leben“, Band I bis V. Dann würde er vielleicht auch keine Therapie brauchen, um seine Problem zu lösen, dann würde er selbst auf alles kommen, das konnte doch sein, er war ja nicht dumm. Miriam stand neben ihm und sah ihn ungeduldig an. Sie fand die Ausstellung im Museum nicht spannend, sie fand James Krüss nicht spannend, sie kannte James Krüss auch gar nicht. Sie hatte Hunger.
Er fing vor Aufregung wieder an zu zittern, wie er in letzter Zeit immer zitterte, wenn er etwas interessant oder aufregend fand, das geriet immer mehr außer Kontrolle. Miriam merkte das natürlich. Sie merkte es, weil sie immer alles merkte, und wenn sie etwas merkte, dann fragte sie auch danach, weil sie subtil nun einmal nicht konnte. Als er sie kennenlernte, kam ihm das frisch und unverbaut vor, mittlerweile hielt es eher für Brutalität. Eine dezente Form von Brutalität, aber es war doch eine. „Was meinst du“, fragte Miriam, nachdem er am Strand versucht hatte, ihr seine Gedanken zu erklären, „du bist keine richtige Geschichte? Was hast du jetzt schon wieder? Und warum hockst du dich dauernd hin?“
Er hat es ihr geschildert, was ihm alles eingefallen war, so gut er es eben konnte. Sehr gut war das nicht. Er hat es ihr noch einmal erklärt, und dann hat er versucht, es ihr anders zu erklären. Er redete und ließ die Hände in den Jackentaschen, damit sein Zittern nicht weiter auffiel. Er sah sie nicht an, er wollte ihren Blick nicht sehen. Sie sagte, sie hätte jetzt wirklich Hunger.
Später saßen sie im Aquariumcafé. Es regnete nicht und es stürmte nicht, es war nicht warm und nicht kalt, es war einfach nur grau und ein wenig frisch. Rolf hatte sich noch nie im Leben so sehr gewünscht, dass das Wetter sich verschlechtern würde, richtig übel verschlechtern, wie in einer Geschichte. Er wollte James-Krüss-Geschichtenwetter mit Orkan und das Schiff fährt heute nicht und wer weiß, ob es morgen fährt, es sieht nicht so aus. Er wollte in die Stimmung von damals zurück und wieder alles für möglich halten. Es wurde schon dunkel, man konnte den Horizont gerade noch sehen, und von da kam keine Wolke, keine einzige schwarze Wolke. Die Nordsee lag ruhig, viel zu ruhig.
Miriam sagte, sie würde ihr Leben durchaus als Geschichte mit Bogen sehen und wo denn das Problem sei. Dann zählte sie ihre Stationen auf, von der Grundschule über das Abitur und den ersten Freund, das erste Auto und den Umzug nach Hamburg und den ersten Job, bis hin zu ihm. Flüssig sagte sie ihm das auf, ohne auch nur über eine Jahreszahl länger nachzudenken. „Du siehst dein Leben nicht als Geschichte“, sagte Rolf, „du siehst dein Leben als tabellarischen Lebenslauf. Und das erklärt auch sonst so einiges, denn ein Excelblatt ist nun einmal keine Romantik, weißt du.“ Dann stritten sie eine Weile, weil ihm ihr Wille zum Profanen auf die Nerven ging, und weil sie ihm vorwarf, er würde wieder in sinnlose Wolkenkuckucksheime abdrehen. Das war einer ihrer Kampfbegriffe, wenn es darum ging, dass er sich zu viele Gedanken über irgendwas machte, das Wort machte ihn seit Jahren wahnsinnig. Man konnte neben oder mit ihr keinen Traum und keinen Wunsch haben, ohne im Wolkenkuckucksheim zu sitzen. Miriam hatte keine Träume, Miriam hatte Pläne, weil Miriam vernünftig war. So vernünftig, dass sie nie etwas erreichen wird, dachte er schon seit Jahren, aber das sagte er lieber nicht. Sie saßen und stritten, das war ganz routiniert. Sie stritten über Geschichten und Lebenseinstellungen und Träume und Erinnerungen, sie stritten über alles, worüber man sich nicht streiten sollte. Es gibt vielleicht gar keine gemeinsamen Geschichten, dachte er irgendwann. Es gibt nur Geschichten, die nebeneinander herlaufen. „Was ist denn unsere Geschichte?“
Er stellte Miriam die Frage in etwas zu aggressivem Tonfall, weil er Lust bekam, immer noch mehr kaputt zu machen, weil es ihm egal war, wie der Abend enden würde und weil er schon ein paar Bier getrunken hatte. „Wie würde man die denn erzählen? Wie fängt sie an, wie kann sie enden? Was für eine Geschichte ist das mit uns?“
„Fang einfach vorne an“, sagte sie, „so etwas fängt beim Kennenlernen an. Die Vorgeschichten schaffen wir heute nicht, besonders deine nicht. Die ist bestimmt sehr komplex, ungeheuer komplex. Im wahrsten Sinne des Wortes.“ Dann hat sie gelacht und das Gespräch verlief etwas friedlicher. Nach einem vorsichtigen und schon gefährlich ungewohnten Kuss und nach der Bestellung von mehr Alkohol. „Alkohol und Erzählen, das passt immer gut zusammen. Also fangen wir einfach vorne an und basteln das zusammen. Wir haben uns jedenfalls in einer Kneipe kennengelernt“, sagte Rolf. „Es war ein Restaurant“, sagte Miriam.
Er sagte nichts, sah in sein Glas und dachte nach. Und nachdem er eine Weile nachgedacht hatte, konnte er sich nicht mehr erinnern, wie das Lokal ausgesehen hatte. Der Name des Lokals entfiel ihm in derselben Sekunde. Er sah die Leuchtschrift an der Fassade von einem Augenblick zum anderen nicht mehr vor sich. Die Kellner waren weg, die Jahreszeit, alles. Er wusste nur noch, es war ein Lokal in der Sternschanze. Er wusste, sie waren mit Freunden da, zu denen sie längst keinen Kontakt mehr hatten. „Wir waren in einer großen Runde“, sagte er. „Du bist mir erst aufgefallen, als du mich immer wieder angesehen hast.“ Das war ein ganz guter Satz, dachte er, so konnte es weitergehen. Er erinnerte sich tatsächlich gerade nur noch an ihre Blicke an diesem Abend, an irritierende Blicke, die nie auswichen, die immer standhielten, ganz klar, ganz offen, ganz lange.
So sah sie ihn jetzt wieder an. Er ärgerte sich, dass er sich nach über zehn Jahren noch von diesem Blick irritieren ließ. Gleich korrigiert sie mich, dachte er, gleich kommt irgendwas. Weil es zu einfach wäre, wenn er jetzt weiterreden könnte, weil er dann Recht hätte. Weil es dann seine Geschichte wäre und nicht ihre und schon gar nicht unsere. „Du willst etwas sagen“, sagte er, „da sehe ich doch. Lass mich raten, du hast mich gar nicht angesehen, du hast dich nur gewundert, was ich dich so anstarre, ja? Gut. Schon gut. Ich habe gestarrt, weil du gestarrt hast, wir haben uns angestarrt. So haben wir uns kennengelernt. Oder so. Oder was?“
Miriam sagte, dass sie das gar nicht habe sagen wollen, sie würde doch einfach nur gucken. Weil man irgendwie eben gucken müsse, das habe nicht immer eine Bedeutung. „Es kann so gewesen sein“, sagte sie „warum auch nicht. Offen gestanden kann ich mich nicht an Blicke erinnern. Aber wir haben über Nudelrezepte geredet, das weiß ich noch. Sonst hätten wir uns nämlich nicht wiedergesehen, das nächste Treffen war doch eine Einladung zum Essen.“ Rolf sagte, man könne nicht gegen andere anerzählen, er jedenfalls könne das nicht. Man könne vermutlich überhaupt nicht zu zweit erzählen und dass aber in jedem Fall seine Version, in der es um irritierende, rätselhafte und schwer zu deutende Blicke, nicht aber um Nudelrezepte ging, die schönere, die romantischere Variante eines Kennenlernens sei. Und ob sie sich nicht vielleicht seiner Version anschließen könne, sie könnten dann die Nudelrezepte – alleine das Wort schon! – später irgendwo unterbringen. Miriam fand, dass man auch Romantik wahrheitsgemäß erzählen müsse, und am ersten Abend sei da eben keine gewesen, aber so was von gar nicht. Sondern eben Nudelrezepte. Romantik, richtige Romantik gab es ihrer Meinung nach nicht einmal beim Nudelessen, sondern erst Wochen später auf dem Schiff, beim ersten Ausflug nach Helgoland, denn da hätten sie sich doch verliebt. Oder zumindest er sich. Sie habe ja eher nachgezogen.
„Ja“, sagte er, „da habe ich mich verliebt. Weil dir schlecht wurde. Weil dir auf diesem Schiff so fürchterlich schlecht geworden ist, und weil du dabei sensationell gut ausgesehen hast, so schneewittchenblass und ätherisch und etwas hinfällig, wie du da wie drapiert auf diesem Schiffsboden gelegen hast, weil es angeblich gegen Übelkeit helfen sollte, ganz flach zu liegen, das hatte die Kellnerin gesagt.“
„Du hast dich also in mich verliebt, weil ich kotzen musste“, sagte Miriam. „Und du meinst, ich habe ein Problem mit Romantik.“
September 26, 2017
Zwischendurch ein Dank …
… an den Leser D. Ein großer Dank für ein großes Paket, er hat uns tatsächlich einen Komposter geschickt, den ich zu einem Hochbeet fürs Gemüse im nächsten Jahr umbauen werde und ja, da standen gerade tatsächlich “bauen” und “ich” in einem Satz, ich staune auch. Wo der Ehrgeiz hinfällt!
Für die Kinder lag noch so eine Spielkugel dabei, die Begeisterung ist groß. Das war wirklich sehr großzügig, ich danke herzlich.
Beifang vom 26.09.2017
In Hamburg wird ein Platz nach einem Straßenfeger benannt. Das ist die einzige Meldung heute, die mir als neu und interessant auffiel, dafür ist sie so nett, die reicht dann auch. Denn nett, das gibt es ja kaum noch.
Aus dem Altbestand poste ich hier ab und zu Meldungen, die ich drüben bei der GLS Bank (da hatte ich übrigens noch drei Links zu Fragen der Haltung) einfach nicht sinnig eingebaut bekomme, aber dennoch nicht löschen möchte. Etwa die hier, etwas makaber vielleicht, über bepflanzbare Urnen und wertvolle Mineralien in den lieben Verstorbenen. Je nachdem, um welchen Typen es geht – ist diese Bepflanzung dann vielleicht so etwas wie Upcycling?
Der Musiktipp wird heute wieder einmal von Sohn I zugeliefert, der Text zum Stück kommt manchen vielleicht bekannt vor: Der Erlkönig von den “Jungen Dichtern und Denkern.”
September 25, 2017
Die Herzdame geht auf Tour: Auf Magical Mystery Tour
Ein Text von Maret Buddenbohm, auch bekannt als die Herzdame, die seit langem mal wieder im Kino war.
Eigentlich hatte ich gar nicht vor ins Kino zu gehen, aber der Gatte war kurz vorher in dem Film Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt und so begeistert, dass er drauf bestanden hat, dass ich den Film auch unbedingt sehen müsste. Er hat mir sogar gleich die geeignete Begleitung mitvorgeschlagen, meinen alten Freund M. Eine phantastische Idee, denn den hatte ich auch schon lange nicht mehr gesehen.
Wir hatten uns tatsächlich so lange nicht mehr gesehen, dass wir die komplette Werbung und die Trailer (wenn es überhaupt welche gab) verpasst haben, weil wir uns so viel zu erzählen hatten. Vom eigentlichen Film haben wir dann aber doch alles mitbekommen und uns köstlich amüsiert.
Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt ist eine Verfilmung des gleichnamigen Romans von Sven Regener, von dem ich auch bisher nur genau dieses Buch gelesen hatte. Keine Ahnung, warum ich nicht mehr von ihm gelesen habe, wenn davon doch alle immer schwärmen. Aber die anderen Verfilmungen kenne ich alle schon, da muss ich nun auch die Bücher nicht mehr lesen.
Der Film spielt in der Techno-Szene Anfang der 90er. Karl Schmidt, der auch schon früher im Buch bzw. Film als Freund von Herrn Lehmann dabei war, war wegen Drogen und Nervenzusammenbruch in der Psychiatrie und lebt nun in einer Ex-Drogen-WG. Zufällig trifft er auf alte Freunde aus seiner Zeit in Berlin, die mittlerweile ein erfolgreiches Techno-Label aufgebaut haben.
Sie heuern ihn als Fahrer und Aufpasser für ihre Magical Mystery Tour an. Karl geht mit einem Haufen ständig zugedröhnter DJs auf Deutschland-Tour und muss zusehen, dass sie rechtzeitig zum nächsten Auftritt an den Plattentellern stehen, was ungefähr so einfach ist wie einen Sack Flöhe zu hüten. Zudem wird er immer wieder von psychotischen Rückfällen geplagt und durch die Drogenabstürze um ihn herum auf eine harte Probe gestellt.
Normalerweise müsste ich ja nicht unbedingt ins Kino, nur weil der Gatte sagt, dass es ein lustiger Film ist. Oder weil es eine Sven Regener Verfilmung ist. Oder ich das Buch schon gelesen habe. Irgendwann kommt das ja eh alles auf DVD, im Fernsehen oder bei Netflix.
Aber die Schauspieler… Ich stehe ja total auf Charly Hübner, der den Karl Schmidt spielt. Ich stehe so auf Charly Hübner, dass ich sogar mit Begeisterung sämtliche Bibi & Tina-Filme gesehen habe. Und Bjarne Mädel, der den Sozialarbeiter von Karl Schmidt spielt, auf den stehe ich auch so. Und Detlef Buck ist auch toll, ach und die anderen auch. Bei dem Aufgebot und dann noch unter der Regie von Arne Feldhusen (der mit dem Tatortreiniger), da musste ich mir den Film ansehen.
Und es hat sich echt gelohnt. Ich fand die Schauspieler super und ich habe mich durchgehend kringelig gelacht.
Nicht ganz stilecht ist die Filmmusik. Viele Songs waren eher aus den späten 90ern, statt den frühen, was ich allerdings nicht schlimm fand, da ich mit Whirlpool Productions, Egoexpress oder Jimi Tenor mehr anfangen kann als mit WestBam und Co.
Und wenn man gut aufpasst, kann man noch das ein oder andere bekannte Gesicht entdecken, dass sich als Cameo in die Szenen geschmuggelt hat. Wenn man sie denn erkennt. Ich erkenne grundsätzlich nie irgendwelche Stars, und mein Begleiter musste mir ständig in die Rippen stoßen: „Da, da, guck mal da …“.
Die Playlist zum Film bei Spotify:
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