Fiktionalistik: wo lagert man erfundene Bücher?



in Bibliotheken, die es nicht gibt... Büchersammlungen sind ein faszinierender Topos in der Literatur, nämlich als Schauplatz von Morden, Intrigen und Recherchen, Geistererscheinungen, Erleuchtungen und - wenn man an Ross Geller aus Friends denkt - auch romantischer Verwicklungen, die (in seinem Fall "natürlich") schief gehen. Die Fiktionalistik, also die Wissenschaft vom Erfundenen, ist zutiefst mit diesem Topos verbunden. In fiktiven Bibliotheken stehen erfundene aber teilweise auch durchaus reale Bücher - denn dies sind die beiden Grundtypen erfundener Bibliotheken.

Die (vergleichsweise kleine) Bibliothek des Don Quijote gehört zur ersten Gruppe: Im Roman sind dort reale Bücher zu finden, jedoch nur solche, die ausgedachte Geschichten präsentieren, im Wortsinn Fantastische Literatur: Heldenmärchen von Rittern wie Amadis von Gallien, Lanzelot, Galahad und König Artus - über Riesen, magische Schwerter und Schätze, über Hexen und Liebestränke.

Zur zweiten Gruppe gehört das Archiv der Jedi Ritter auf dem Stadt-Planeten Coruscant: Die Vorstellung, dass es einen Ort im Universum gibt, an dem alles Wissen der Galaxie gespeichert ist, hat etwas Beruhigendes für alle Eskapisten unter den Lesern. Die Bibliothek von Hogwarts gehört ebenfalls zu dieser Gruppe. 

In Doctor Who taucht sogar eine planetengroße Bibliothek dieser Art auf, erschaffen von einem Vater, der seiner sterbenden Tochter Charlotte den letzten Wunsch erfüllte und ihren Geist digitalisierte und in die Bibliothek einspeiste, um damit den Tod zu überwinden. Nun kann das bibliophile Mädchen als digitaler Bücherwurm bis ans Ende aller Zeiten Bücher lesen. Bibliotheken sind in der Tat Orte, in denen man sich verlieren kann - und zwar gedanklich ebenso wie physisch. Über die Architektur der Bibliothek der Unseen University der Scheibenwelt heißt es:

The layout of the Library of Unseen University was a topographical nightmare, the sheer presence of so much stored magic twisting dimensions and gravity into the kind of spaghetti that would make M.C. Escher go for a good lie down, or possibly sideways.

Deutlich abstrakter als diese ist die Bibliothek des Lucien aus dem Comic "Sandman", wo sämtliche Bücher stehen, die jemals jemand zu schreiben beabsichtigte oder träumte. Man könnte sagen, dies ist Fiktionalistik des  zweiten Grades, die Erforschung einer erfundene Sammlung von Büchern, die nur möglicherweise einmal erfunden worden wären - aber niemals erfunden worden sind. Wird nämlich eines dieser erträumten Bücher tatsächlich einmal geschrieben, so geht das Exemplar in Luciens Sammlung in Flammen auf.

Das bringt uns zum nächsten Thema, nämlich den Brennenden Bibliotheken - seit dem Brand von Alexandria, eine reale aber verklärte Bibliothek, ist dies der Alptraum aller Bibliothekare und Archivare.

Berühmte brennende, erfundene Bibliotheken sind das Aedificium aus Umberto Ecos Der Name der Rose und die riesige Sammlung des wahnsinnig werdenden Sinologen Peter Kien aus Elias Canettis Roman Die Blendung. Auch Don Quijotes Bibliothek ist ein Ort des Wahnsinns, wie die Illustration Gustave Dorés zeigt. Da den Besuchern jeglicher Bibliotheken körperliche Langsamkeit und Ruhe auferlegt werden, erreicht der innere geistige Wahn umso stärkere Kontrastwirkung. 

In Ecos labyrinthischem Bücherturm sitzt ein uralter, blinder, psychopathischer Mönch (oder Sith-Lord?) mit den Namen Jorge von Burgos, der an (den ebenfalls blinden) Jorge Luis Borges anklingt, den Schöpfer der unendlich und daher entsetzlich großen Bibliothek von Babel, mit der sich der Kreis erfundener Bibliotheken schließt, denn dort, im Garten der Pfade, die sich verzweigen, sind alle vorstellbaren Bücher zu finden, alle möglichen Kombinationen aller Buchstaben, Symbole und Satzzeichen in jeder Länge - aber kein Katalog und keine Systematik.

 
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Published on May 02, 2013 03:43
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über Bücher, Filme und Publikationen

Albrecht Behmel
Albrecht hat in Heidelberg und Berlin Geschichte, Philosophie und Politik studiert. Seit 1999 ist er Autor für Film, Print, Radio und TV, unter anderem für UTB, SR, ARTE, Pro7Sat1 und den RBB. Er lebt ...more
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