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Stalins Kühe
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Oksanen: Stalins Kühe > Kühe: 5. Abschnitt bis einschl. Kapitel MUTTER RIEF IN... (bis ca. 21.2.)

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Babette Ernst | 1610 comments (bis S. 360) "...unsere Anna wird selbst die ganze Welt erobern."


message 2: by Peter (last edited Feb 16, 2022 08:30AM) (new) - rated it 4 stars

Peter (slawophilist) | 595 comments Auf Seite 324 tauchen sie endlich auf, die Stalin-Kühe, keine Metapher, sondern eine zu Ehren des großen Diktators gezüchtete Kuhrasse.

Versteht ihr wofür das Bilder der "Kleinen Katze" steht? Ihr finde es erschreckend, wie sehr sich Anna von "ihrem Herrn" dominieren lässt. So sehr, dass sie keine eigenen Wünsche mehr formulieren kann, weder in sexueller noch anderer Hinsicht. Erfüllung findet sie nur noch im Erbrechen. Ihre Abhängigkeit macht sie zugleich extrem selbstbezogen. Kein Wunder das die Beziehung mit Hukka in die Brüche geht.

Erschreckend auch - und durch die lakonische Kürze noch betont - die "Säuberungen" in Estland 1949, wie Karla seinen Umgebung ins offene Messer laufen lässt und seine Tochter sich wortwörtlich ins gemachte Nest setzt.


Peter (slawophilist) | 595 comments Der letzte Satz gefällt mir eigentlich gut als Motto. Vielleicht hätte er früher auch in eine Poesiealbum gepasst: Niemand wird unsere Anna erobern, unsere Anna wird selbst die ganze Welt erobern. Andererseits, was ist, wenn Anna das nicht will oder nicht dazu fähig ist.


Babette Ernst | 1610 comments Ich las diesen Abschnitt, als ich in Vorbereitung auf einen kleinen Eingriff zwei Tage nichts essen durfte. Dadurch wurde die Beschreibung der Fressorgien besonders krass. Überhaupt fiel mir dadurch auf, welchen Anteil an der Entstehung der Bulimie die Konsumgesellschaft mir ihrem gewaltigen Überfluss ausmacht. Auch wenn der Hauptgrund offensichtlich in fehlender Nähe und Liebe, besonders körperlicher Nähe, begründet ist. Irgendwo las ich, dass der Roman für die realistische Darstellung der Bulimie gelobt wurde. Gerade in diesem Abschnitt wurde mir klar, wie schwerwiegend die Krankheit ist und wie nahezu aussichtslos die Umkehr. Anna definiert sich ja über die Körperkontrolle, es ist die einzige Quelle von Selbstsicherheit, die sie überhaupt hat. Auch wenn es einzelne Momente gab, bei denen sie sich mit Hukka wohl fühlte, in denen man auch merkte, was ihr fehlte, so war mir doch klar, dass sie diese Nähe auf Dauer nicht aushalten kann. Sie war gerade dabei, sich etwas zu öffnen, ein wenig die Kontrolle abzugeben, als er sie mit Fragen nach ihren Wünschen nervte. Aber er konnte schließlich die Krankheit nicht begreifen, war kein Therapeut. Trotzdem war letztendlich sie es, die sich zurückzog, da sie die Fragen nicht mehr aushielt, die so sehr ihr Dilemma verdeutlichten. Diese Szenen fand ich ganz stark.

Gerne hätte ich mehr über den Vater erfahren. Er bleibt irgendwie ohne Umrisse. Warum ist er so geworden? Welche Hintergründe mögen dabei eine Rolle gespielt haben?

Die Ereignisse in Annas Familie am Ende und nach dem 2. WK sind natürlich tragisch. Gut fand ich, dass nicht nur die Russen die Bösen darstellten, sondern der eigene Bruder (Karla) der Denunziant war, der ohne Gewissensbisse von den Verbannungen profitierte.


Babette Ernst | 1610 comments Peter wrote: "Auf Seite 324 tauchen sie endlich auf, die Stalin-Kühe, keine Metapher, sondern eine zu Ehren des großen Diktators gezüchtete Kuhrasse.

Versteht ihr wofür das Bilder der "Kleinen Katze" steht? Ihr..."


Hukka hat Anna immer "meine kleine Katze" genannt. Vielleicht eine Anspielung auf ihre geringe Körpergröße und ihr Gewicht, das ihm offenbar gefiel. Auch ein Bild für Nähe, für Sich-anschmiegen, denke ich.


Peter (slawophilist) | 595 comments @Christiane. Da habe ich mich tatsächlich sehr missverständlich ausgedrückt. Diese Kuhart ist eine urban legend der damaligen Sowjetunion, obwohl man nie ausschließen kann, dass tatsächlich eine Kuh- oder andere Tierart nach Stalin benannt wurde, so wie der Personenkult betrieben wurde. Ich habe einmal von einem Parfüm gelesen, dass „Stalins Atem“ (Отдех Сталина) hießen. In mir bis heute nicht sicher, ob das Realität oder Satire war. Aber dieses Inunklarenlassen ist ja ein typisches Zeichen totalitärer Herrschaft.

Deine Interpretation von Hukkas Verhalten öffnet mir eine ganz neue und stimmige Einsicht. Ich hatte mich die ganze Zeit gefragt, warum er nicht wahrnimmt, dass seine Freundin an Bulimie leidet und nichts wirklich dagegen tut.


message 7: by Tee&Tacheles (new)

Tee&Tacheles | 294 comments Ich fand die Szenen, in denen die Bulimie geschildert wird, auch sehr eindrücklich und gerade deshalb schmerzhaft. Die ganze Widersinnigkeit der Erkrankung ist gut eingefangen - schon allein, dass sie fast gleichzeitig Aufputschmittel und sedierende Medikamente nimmt und glaubt, damit irgendwie die Kontrolle wiederzuerlangen... und dass sie ständig merkt, dass ihr Körper das nicht lange durchhält und trotzdem keine Möglichkeit sieht, davon loszukommen. Und dann der Kontrast zwischen der Tatsache, dass sie ihre Erkrankung in der Theorie und auf der Meta-Ebene komplett verstanden hat, und der völligen Unfähigkeit, Zugang zu den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen zu bekommen.

Ich habe Hukka tatsächlich sehr viel weniger negativ gelesen. Ich glaube, dass es für Angehörige von Essgestörten wirklich schwierig ist, damit umzugehen. Ich meine, wie hätte er sich denn richtig verhalten sollen? Und es ist ja keineswegs so, dass er sofort ihre Grenzen missachtet hat. Immerhin waren sie über ein Jahr ein Paar, ehe der Konflikt manifest geworden ist. Und in dieser Zeit hat er ihr offenbar so viel Sicherheit gegeben, dass sie sich zumindest ein Stück weit öffnen konnte. Ich konnte seine Überforderung sehr gut nachvollziehen und stelle es mir sehr schwer vor, mit einem Menschen zusammenzuleben, der keine Nähe zulassen kann. Wie soll man denn auf die Bedürfnisse eines Menschen eingehen, wer er sie selbst nicht formulieren kann?


message 8: by Tee&Tacheles (new)

Tee&Tacheles | 294 comments Ah, was mir zu der "kleinen Katze" noch eingefallen ist - die Katzen, die ich bisher erlebt habe, waren eigentlich eher eigensinnig und haben Nähe nur dann zugelassen, wenn sie es gerade gewollt haben - ansonsten wurden da durchaus auch mal ziemlich schnell die Krallen ausgefahren...


Frank (cromus) | 951 comments Das sehe ich genauso wie @Tee&Tacheles. Anna äußert sich über weite Strecken absolut positiv über Hukka, wenn man das bisschen Ironie wegnimmt, da sie ja besser weiß, was los ist, als er. Und sie wird freier im Umgang mit ihm und vergisst sogar ein bisschen ihre strengen (Fr)Essriten. Für mich war interessant zu lesen, wie wenig die Medizin offensichtlich ausrichten kann, wenn sie die Patienten als Menschen nicht erreicht. Anna fr(isst) ihre Tabletten und sonst passiert weiter nichts. Aber insgesamt bin ich immer noch nicht wirklich von dem Buch angesprochen. Kann sein, dass ich in letzter Zeit zu viel deprimierende Russland- und Ostblock- Bilder an mich heran gelassen habe. Ich bin irgendwie satt und kann vielleicht wegen dieses Kontextes die Story um Annas Bulimie etc. nicht wirklich an mich heran lassen. Aber ich lese tapfer weiter. ;-)


Peter (slawophilist) | 595 comments Sind Leseflashes eigentlich ansteckend? Auch mich hält jetzt nichts mehr. Ja, Hukka tut Anna anfangs gut, aber das steht nicht einer toxischen Beziehung nicht entgegen. Ganz im Gegenteil. Ich kann es mir einfach nicht vorstellen einfach darüber hinwegzugehen, dass meine Partnerin nur 40-45 kg wiegt und Aauch andere Anzeichen physischer und psychischer Krankheit zeigt.


Babette Ernst | 1610 comments Peter wrote: " Ja, Hukka tut Anna anfangs gut, aber das steht nicht einer toxischen Beziehung nicht entgegen. Ganz im Gegenteil. Ich kann ..."

Wenn Hukka auf das Geständnis Annas, dass sie nicht essen könne, anders als mit Gleichgültigkeit reagiert hätte, wäre die Beziehung vermutlich sofort vorbei gewesen. Ich glaube, dass Anna alle Hilfsangebote ausgeschlagen und die Flucht ergriffen hätte.

Wahrscheinlich muss sie erstmal begreifen, dass sie schwer krank ist, diesen Prozess verhindert Hukka eher als er ihn befördert.


message 12: by Tee&Tacheles (new)

Tee&Tacheles | 294 comments Ich hab das Buch auch schon zu Ende gelesen… ;)


Babette Ernst | 1610 comments Jetzt muss ich mich wohl beeilen, damit ich noch mitreden kann.
Ich lasse mich zurzeit so sehr von anderen Büchern ablenken, aber in "Ein erhabenes Königreich" von Yaa Gyasi geht es um eine Neurowissenschaftlerin, die über das Belohnungssystem des Gehirns bei einer Sucht forscht. Das passt doch wunderbar zusammen. ;-)


Babette Ernst | 1610 comments Frank wrote: "Das sehe ich genauso wie @Tee&Tacheles. Anna äußert sich über weite Strecken absolut positiv über Hukka, wenn man das bisschen Ironie wegnimmt, da sie ja besser weiß, was los ist, als er. Und sie w..."

Ich kann verstehen, dass der historische Hintergrund, der im Osten immer wieder Ähnlichkeiten aufweist, auch mal nervt. Deswegen gefällt mir der vordergründige Blick auf die Sucht. aber manche Bücher passen vom Inhalt oder Stil einfach nicht, erreichen keine persönlichen Berührungspunkte. Umso erfreulicher, dass du uns tapfer weiter begleitest.


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