Mein Leben (German Edition)
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Read between April 15, 2020 - September 6, 2021
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Damals, wahrscheinlich im März, hörte ich zum ersten Mal, daß Deutsche irgendwo in Polen Juden mit Hilfe von Autoabgasen, die in kleine Räume geleitet wurden, umbrachten.
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Als Höfle das Diktat beendet hatte, fragte ein Mitglied des
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Sie haben mich, als ich sie nach 1945 lesen konnte, gewiß interessiert, doch nicht gerade begeistert.
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Wir sprachen vor allem über Franzosen und Russen, über Flaubert und Proust, über Tolstoj.
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Sie war nicht nur älter als Tosia, sie war auch reifer und selbständiger. Unbewußt fand ich bei ihr jenen Beistand, den meine Mutter mir nicht mehr bieten konnte – und Tosia noch nicht.
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Am 2. Januar 1962 hat mich das Amtsgericht Hamburg als Zeuge in der Ermittlung gegen Höfle vorgeladen. Ich sollte auch im Prozeß gegen ihn aussagen. Aber er fand nicht statt: Nach seiner Verlegung nach Wien hat Hermann Höfle in der Untersuchungshaft Selbstmord verübt.
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Denn schon damals, am zweiten Tag der »Umsiedlung«, am 23. Juli, entstand der Verdacht, daß die Deportierten ermordet wurden.
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In den dreißiger Jahren bekleidete Czerniaków in Warschau ein ziemlich hohes Amt in der polnischen Finanzverwaltung.
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Erst als sein Tagebuch veröffentlicht wurde (1968 die hebräische Übersetzung, 1972 der polnische Originaltext), ließen sich die Leiden und Leistungen dieses Obmanns des »Judenrates« ermessen.
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Seine etwas ärgerliche Schwäche für Repräsentation mußte im Getto besonders auffallen. Er liebte pathetische Ansprachen, feierliche Eröffnungen und allerlei festliche Veranstaltungen.
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die deutschen Klassiker, Schiller zumal.
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während des Krieges
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Daher drangen ins Getto schwerbewaffnete Kampfgruppen in SS-Uniformen – keine Deutschen, vielmehr Letten, Litauer und Ukrainer. Sie eröffneten sogleich das Feuer aus Maschinengewehren und trieben ausnahmslos alle Bewohner der in der Nähe des »Umschlagplatzes« gelegenen Mietskasernen zusammen.
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die Zahl der für diesen Tag vom Stab »Einsatz Reinhard« für den »Umschlagplatz« angeforderten 6000 Juden erreicht.
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Er öffnete die Tür und sah die Leiche des Obmanns des »Judenrates« in Warschau. Auf seinem Schreibtisch standen: ein leeres Zyankali-Fläschchen und ein halbvolles Glas Wasser.
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Auf dem Tisch fanden sich auch zwei kurze Briefe. Der eine, für Czerniakóws Frau bestimmt, lautet: »Sie verlangen von mir, mit eigenen Händen die Kinder meines Volkes umzubringen. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als zu sterben.« Der andere Brief ist an den Judenrat in Warschau gerichtet.
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War er auch ein Held? Jedenfalls handelte er, als er sich am 23. Juli 1942 in seinem Amtszimmer entschlossen hatte, dem Leben ein Ende zu setzen, in Übereinstimmung mit seinen Idealen. Kann man von einem Menschen mehr verlangen?
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Eine Hochzeitsreise haben wir nicht gemacht, sie blieb uns, Tosia und mir, erspart – sie hätte ja nur ein einziges Ziel haben können: die Gaskammer.
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Trotz ihrer Todesangst waren nicht alle Milizionäre bereit zu tun, was ihnen die Deutschen befohlen hatten.
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Die Frage, wohin die Transporte gingen, ließ sich schon Anfang August beantworten.
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Die jüdischen Wachtposten auf dem »Umschlagplatz« hatten die Nummern der Waggons notiert und mußten zu ihrer Verblüffung feststellen, daß die Züge keinen weiten Weg zurücklegten, daß sie keineswegs nach Minsk oder Smolensk gingen. Denn die Waggons waren schon nach wenigen Stunden, höchstens vier oder fünf, wieder in Warschau.
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Wer wie ich schwarzhaarig war, hat sich in jener Zeit zweimal täglich rasiert. Ich habe mir das bis heute nicht abgewöhnen können, ich rasiere mich immer noch zweimal täglich.
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Unbegreifliches konnte man damals, also während der »Großen Aktion«, auf den Straßen des Gettos sehen: lange Menschenzüge, die, von niemandem bewacht oder getrieben, mit schwerem und, wie sich meist noch am selben Tag erwies, völlig überflüssigem Gepäck zum »Umschlagplatz« gingen. Sie folgten einer Bekanntmachung der jüdischen Miliz, die unter Berufung auf die deutschen Behörden allen, die sich freiwillig zur »Umsiedlung« meldeten, eine Lebensmittelzuteilung versprach: pro Person drei Kilogramm Brot und ein Kilogramm Marmelade.
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Was jetzt stattfand, nannte man die »große Selektion«: 35000 Juden, somit weniger als zehn Prozent der Bewohnerzahl des Gettos vor Beginn der »Umsiedlung«, erhielten gelbe »Lebensnummern«, die auf der Brust zu tragen waren – es waren vorwiegend die »nützlichen« Juden, diejenigen, die in den deutschen Betrieben arbeiteten oder im »Judenrat«.
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Tosia und ich hatten, da ich als Übersetzer noch gebraucht wurde, die begehrten »Lebensnummern« erhalten – ob die Deutschen diese Nummern auch wirklich honorieren würden, dessen waren wir nicht sicher, das mußte sich bald zeigen: Wir wurden auf den Platz geführt, auf dem sich heute das 1947 errichtete Warschauer Getto-Denkmal befindet, und dort gab es, wie nun schon üblich, einen etwas gelangweilten jungen Mann mit einer offenbar nagelneuen Reitpeitsche.
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Jetzt, im Herbst 1942, gab es im Restgetto 35000 Juden mit »Lebensnummern« und rund 25000, die der Deportation irgendwie entgangen waren, doch keine »Lebensnummer« hatten; sie wurden die »Wilden« genannt.
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Unheimlich war es im Getto immer, doch die Zeit, die uns im Herbst 1942 bevorstand, unterschied sich von der vorangegangenen vor allem dadurch, daß im kleinen Restgetto vorerst nichts geschah. Die einst überfüllten Straßen waren den ganzen Tag über leer, es blieb ganz still, freilich war es eine gespannte, eine, wenn man so sagen darf, schrille Stille.
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Ich flüsterte Tosia ins Ohr: »Denk an die Dostojewski-Anekdote.« Sie wußte genau, was ich meinte.
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Am 19. April 1943 brach im Getto der Aufstand aus, eine heroische und hoffnungslose Rebellion gegen die Unmenschlichkeit. Nachdem er von einem beträchtlichen deutschen Militäraufgebot, einschließlich Panzern, am 16. Mai endgültig niedergeschlagen worden war, gelang es manchen, aus dem Getto zu fliehen – vor allem durch die Kanalisation. Für die Erpresser und Denunzianten bedeutete dies Hochkonjunktur.
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Kaum hatten wir uns eine Viertelstunde unterhalten, da verblüffte mich Bolek mit einem ganz schlichten und ganz ohne Nachdruck gesprochenen Satz: »Es wäre doch so schön, wenn Sie diesen schrecklichen Krieg hier bei uns überleben könnten.« Er sagte es im Juni 1943 – und so ist es auch geschehen:
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Aber schrecklicher als der Hunger war die Todesangst, schrecklicher als die Todesangst war die dauernde Demütigung.
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Ich konnte mich davon überzeugen, welche literarischen Figuren und welche Motive auf einfache Menschen wirkten.
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Aber ist es möglich, ist es vorstellbar, auf eine angemessene Weise das Risiko zu vergelten, das die beiden eingegangen sind, um unser Leben zu retten? Nein, es war nicht die Aussicht auf Geld, die Bolek und Genia veranlaßte, so zu handeln, wie sie gehandelt haben. Es war etwas ganz anderes – und ich kann es nur mit großen längst abgegriffenen Worten sagen: Mitleid, Güte, Menschlichkeit.
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Zigaretten erhielten nur die Offiziere, die gewöhnlichen Soldaten bekamen Tabak und drehten sich Pfeifen aus Zeitungspapier. Besonders geeignet war hierzu das Papier der »Prawda«; damit hing, wie man hörte, die gigantische Auflage dieser Zeitung zusammen.
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Mein Alter schätzte er auf knapp fünfzig. Ich war damals 24.
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Ein Frankfurter Taxifahrer überrascht mich mit der Frage: »Kennen Sie Herrn Isaak Goldblum?« Ich verneine, er sagt: »Sie sehen ihm ähnlich.« Ich steige am Hamburger Flughafen in ein Taxi ein. Der Fahrer, ein Deutscher, fragt mich (nicht unfreundlich) »Kommen Sie aus Tel-Aviv?« Als mir diese Frage wiederholt gestellt wurde, habe ich mich nicht mehr mit der Antwort begnügt, ich käme aus München oder Stuttgart, aus Wien oder Stockholm, sondern gleich hinzugefügt: »Aber Sie haben schon recht, ich bin ein Jude.« Auf der Straße in Wiesbaden hält mich eine Frau an, sie wünscht ein Autogramm. Sie ...more
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Wir beide, Lec und ich, wir waren, dessen bin ich beinahe sicher, die einzigen in der ganzen polnischen Armee, die den Namen Brecht kannten.
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Die Übersetzung war sehr gut. Um ihm aber zu beweisen, daß ich mich der Sache gewissenhaft annehme und mir die Materie nicht fremd sei, machte ich ihn auf zwei oder drei Stellen des gar nicht kurzen Gedichts aufmerksam.
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Sie seien zwar vorzüglich übersetzt, doch könne man sie vielleicht noch eine Spur besser machen; natürlich handle es sich bloß um Kleinigkeiten. Die Reaktion von Lec hat mich enttäuscht: Er war an meinen schüchternen Vorschlägen überhaupt nicht interessiert, er hörte mir kaum zu. Die Audienz wurde rasch beendet. Erst viel später habe ich begriffen, welches Mißverständnis hier vorgefallen war: Er wollte nicht, daß ich seinen Text kontrolliere oder gar korrigiere, sondern daß ich ihn lobe und bewundere, rühme und preise. 1944 hatte ich noch keine Erfahrungen im Umgang mit Schriftstellern.
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Als Lec mit einem Kollegen von Warschau nach Wien flog, fragte ihn dieser nach der Ankunft, ob ihm nicht aufgefallen sei, daß er während des ganzen Fluges nur über sich selbst gesprochen habe. Lec antwortete mit einer kurzen Gegenfrage: »Kennst du ein besseres Thema?«
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»Das geht nicht so weiter. Wir reden ja immer nur über mich. Jetzt wollen wir über Sie reden. Sagen Sie mal, wie hat denn Ihnen mein letztes Buch gefallen?«
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Das schien uns eine überaus reizvolle Aufgabe. Später habe ich erfahren, daß bekannte Schriftsteller während des Krieges an Feldpostbriefen interessiert waren und gelegentlich die Zusammenarbeit mit der militärischen Zensur suchten – so in der habsburgischen Armee Robert Musil, so in der Wehrmacht Ernst Jünger.
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Dunkle Formulierungen, die die Zensoren auf den Plan riefen, fanden sich besonders oft in Briefen weiblicher Angehöriger der Armee. Da las man: »Mein Indianer kommt nicht.« Oder: »Ich bin sehr unruhig, denn der Chinese läßt sich nicht blicken.« Ferner: »Alle meine Anstrengungen sind vergeblich. Weißt Du nicht, wie man die Sache in Schwung bringen könnte?« Nach langwierigen Bemühungen wurde das Rätsel gelöst: Es ging immer um die ausbleibende Periode. Man konnte meinen, das größte Geheimnis der polnischen Armee sei die Menstruation.
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wo ich die Zensur zu organisieren hatte. Ich tat dies zum Entzücken meiner Vorgesetzten so schnell, daß sie bald arbeitsfähig war, doch vorerst ohne Arbeit – denn die Post funktionierte noch nicht.
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Je näher jetzt das Ende des Krieges kam, desto schwerer lastete auf uns, den Befreiten, eine einfache Frage: Warum? Warum durften gerade wir überleben?
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Warum, frage ich noch einmal, mußte er sterben, warum durfte ich am Leben bleiben? Ich weiß, daß es hierauf nur eine einzige Antwort gibt: Es war purer Zufall, nichts anderes. Doch kann ich nicht aufhören, diese Frage zu stellen.
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Einen Augenblick später richtete auch ich meine Pistole auf den blauen und sonnigen, den unbarmherzigen und grausamen Himmel, und dann drückte ich ab. Es war mein erster und letzter Schuß im Zweiten Weltkrieg, der erste und letzte in meinem Leben.
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Er interessierte sich für mich, und zwar im Namen der Institution, in der er arbei-tete: des polnischen Geheimdiensts, genauer: der Auslandsabteilung des Nachrichtendiensts.
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Hätte man mich mit Rom oder Madrid zu locken versucht, ich hätte wohl gezögert und mir alles genau überlegt. Aber das Angebot lautete: Berlin. Da war’s um mich geschehn. Um Berlin wiederzusehen – wer weiß, vielleicht hätte ich einen Pakt auch mit dem Teufel geschlossen. Der polnische Geheimdienst hat meinen dringendsten Wunsch erfüllt: Das be-siegte, das in die Knie gezwungene Deutschland faszinierte mich mehr als irgendein Land auf Erden, ja, ich wollte unbedingt nach Berlin fahren.
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Als ich im Januar 1946 zusammen mit drei anderen Angestellten der Militärmission mit einem Auto gegen Abend in das ganz dunkle, das zerstörte, das so trostlose Berlin kam, hatte ich schon allen Anlaß, Schadenfreude, ja, tödlichen Haß zu empfinden. Aber davon konnte keine Rede sein, ich war zum Haß nicht imstande – und ein klein wenig wundert mich das noch heute. Bedarf es vielleicht einer Rechtfertigung? Trotz allem war mir Haß immer schon fremd, und er ist mir fremd geblieben. Ich kann mich furchtbar aufregen, erhitzen und ereifern, ich kann aus der Haut fahren und in Harnisch geraten. Aber ...more