Das „Ein Tag im Rollstuhl“-Problem

Foto: Andi Weiland

Foto: Andi Weiland


In meinem Beruf als Aktivist, werde ich oft zu Auftaktveranstaltungen, Kongressen und Podiumsrunden zum Thema Inklusion eingeladen. Es dauert dann meist keine 30 Minuten, bis irgendjemand ohne Behinderung in der Runde über die eigenen Erfahrungen im Rollstuhl berichtet. Sei es, durch ein gebrochenes Bein oder durch ein sogenanntes „Ein Tag im Rollstuhl“-Projekt.


Die meisten Befürworter des „Ein Tag im Rollstuhl“-Experiments und auch ich, denken, dass die Unkenntnis der Menschen, was das Leben mit Behinderung angeht, der zentrale Grund für die Benachteiligung von Menschen mit Behinderung ist. Die Welt ist eben für Nichtbehinderte gebaut. Abweichende Bedürfnisse werden oft gar nicht mitgedacht. Seit Jahren werden deshalb „Ein Tag im Rollstuhl“-Experimente veranstaltet, bei denen Nichtbehinderte eine bestimmte Behinderung zugeordnet bekommen und verschiedene Aufgaben erfüllen sollen. Sie bekommen die Augen verbunden, schlüpfen in einen Alterssimulationsanzug oder setzen sich in einen Rollstuhl. Die Idee dahinter ist, dass durch dieses Ausprobieren Nichtbehinderte sich in ein Leben mit Behinderung hineinversetzen und auch aufkommenden Probleme besser verstehen können.


Je mehr ich solche Experimente erlebt und begleitet habe, desto weniger kann ich sie ohne weitere Konzeption empfehlen. Solche Experimente können unreflektiert, mehr Schaden anrichten, als dass sie Gutes bringen. Aber wieso eigentlich?


So zu tun als ob, zeigt nicht das wirkliche Leben mit Behinderung!

Der zentrale Grund, aus dem diese Experimente meiner Meinung nach zum Scheitern verurteilt sind, ist, dass sie das Leben mit Behinderung nur simulieren können, aber nie zeigen, wie es wirklich ist. Letztendlich ist es frustrierend für die Teilnehmer, wenn sie durch Stufen aufgehalten werden, aber die wahren Ängste und die Isolation, die permanent durch fehlende Barrierefreiheit entstehen, können nie in seiner gesamten Tiefe vermittelt werden. Während des ganzen Experiments wissen die Menschen, ob bewusst oder unbewusst, dass ihre Einschränkungen nur temporär sind und sie den Rollstuhl (zum Glück) bald verlassen oder die Augenbinde bald ablegen können. Deswegen spielen sie eben nur behindert und sehen das Experiment als Herausforderung, die es zu gewinnen gilt. Das ist problematisch, weil es für die Zuschauer nichts als eine Art Challenge ist, bei der sich die Teilnehmer beim Schwitzen beobachten. Am schlimmsten ist, dass aus diesem Spiel Gewinner und Verlierer hervorgehen. Dadurch kann der Eindruck entstehen, dass Menschen mit Behinderungen sich nur mehr anstrengen müssen, um über ihre Behinderung hinwegzukommen.

Hinzu kommt, dass das Wissen über das Ende des Experiments den Effekt extrem verringert, da die Teilnehmer Barrieren nur in Hinblick auf das Spiel wahrnehmen und sich ansonsten nicht weiter über andere Barrieren des Alltags Gedanken machen.


Das Experiment ist zu kurz.

In seltenen Fällen dauern solche Simulationen einen ganzen Tag. Im Normalfall beschränkt sich die Teilnahme auf eine kurze, organisierte Veranstaltung oder eine kleine Fläche. Ein Rollstuhl-Parcours zum Beispiel. Aber ein paar Minuten im Rollstuhl können nicht die wahre Benachteiligung und vor allem nicht die einstellungsbezogenen oder politischen Barrieren aufzeigen. Einigen Stufen, Steigungen oder Kopfsteinpflaster ausgesetzt zu sein sind nichts im Vergleich dazu, gegen Vorurteile bei der Arbeitsplatzsuche zu kämpfen, sich der Zerreißprobe namens Amt zu stellen oder den Tag zu planen, wenn im Alltag ein Netz aus verschiedenen Unterstützungen oder Assistenten benötigt wird. Die Planung ist wahrscheinlich eines der anstrengendsten Aufgaben, die das Leben mit permanenter Behinderung mit sich bringt – und das kann nicht innerhalb einiger Minuten (oder eines Tages) im Rollstuhl simuliert werden!


Das Ergebnis der Experimente?

Das Problem mit den „Ein Tag im Rollstuhl“-Experimenten sind ihre Ergebnisse. Die Organisatoren solcher Simulationen wünschen sich, dass die Teilnehmer sehen, wie wenig barrierefrei unsere Welt ist und, dass sie etwas daran ändern wollen. Doch meistens ist das nicht, was die Teilnehmer von diesen Experimenten lernen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Teilnehmer nach dem „Tag im Rollstuhl“ feststellen wie schwer das Leben mit Behinderung ist. Sie merken, dass nicht alles erreichbar ist, dass es anstrengend ist, sich im Rollstuhl fortzubewegen und, dass Fremde sie in der Öffentlichkeit anstarren. Satt mehr Verständnis zu schaffen, bestätigen solche Experimente oft nur das Vorurteil von Mitleid und lösen gleichzeitig das Gefühl aus, es gäbe einfach zu viele Barrieren, um Barrierefreiheit jemals verwirklichen zu können. In diesem Sinne macht „ein Tag im Rollstuhl“ nichtbehinderte Menschen einfach dankbar, dass sie keine Behinderung haben und verstärkt sogar die Trennung zwischen denen mit und denen ohne Behinderung. Hinzu kommt, dass diese Experimente die Situation von 0 auf 100 simulieren. Vor Allem bei den Alterssimulationsanzügen. Der Effekt der Gewöhnung, dass ein Leben mit Behinderung / im Alter auch Spaß und Glück heißen kann, wird hier nicht vermittelt.


Was ist also die Lösung?

Foto: Andi Weiland

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Ich fürchte, es gibt keine eindeutige Lösung. Man könnte versuchen, in die Experimente auch das Positive einzubauen. z.B., wieviel Spaß es machen kann, Rollstuhlbasketball zu spielen (angeleitet von einem Profi) oder einen kleinen Berg herunterzufahren. Man könnte versuchen, den Rollstuhl als etwas zu vermitteln, dass befreit, statt einschränkt. Aber auch das wäre natürlich nicht die ganze Wahrheit.

Vielleicht wäre es besser, anstatt Menschen dazu zu bringen, die Welt durch unsere Augen zu sehen, ihnen zu zeigen, wie die Nichtbehinderten in unserer Welt behindert werden. Am besten man zeigt ihnen die Barrieren auf, die sie tagtäglich erleben und spricht dabei das Eigeninteresse der Nichtbehinderten an. Sie haben schon Interesse an der Barrierefreiheit – sie wissen es nur noch nicht!

Ein Beispiel dafür findet man in den Klassenzimmern. Es werden in Schulen standardisierte Tests genutzt, bei denen Fähigkeiten wie Auswendiglernen oder Problemlösungsstrategien wichtiger sind, als beispielsweise Kreativität oder Zusammenarbeit. Man könnte den Nichtbehinderten zeigen, dass wir alle durch solche Standardtestverfahren begrenzt werden, da wir alle unsere Eigenarten haben. Auf diese Weise werden Einschränkungen menschlich und Barrierefreiheit wird nicht zum Privileg, sondern zum Grundrecht.



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Published on August 17, 2015 05:10
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