Wem hilft Mitleid eigentlich? Mir oder dem Menschen, der es empfindet?

Bahnsitze

Neulich im Zug. Die Leute stiegen ein, eine Dame setzte sich auf den Platz mir gegenüber und musterte mich minutenlang. Nach einer Weile traute sie sich dann endlich und fragte: „Was haben Sie denn, wenn ich fragen darf?“


Standardfrage, dachte ich und antwortete: „Ich habe Glasknochen.“ Doch mit dem, was dann passierte, hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Die Dame hielt sich die Hand vor den Mund und bekam ein Gesicht als hätte sie den Schock ihres Lebens.


Oh mein Gott! Das tut mir aber sehr Leid für Sie, wie schrecklich! Das ist ja wirklich schlimm! Geht das irgendwann wieder weg? Kann man dagegen etwas machen? Eine Therapie oder so etwas? Na, hoffentlich! Bei wem sind Sie in Behandlung?


Eigentlich sollte ich solche Reaktionen mittlerweile gewöhnt sein, aber diesmal war es anders. Ich versuchte der Dame zu erklären, dass ich kein Mitleid brauche und dass es mir gut geht – auch mit meiner Behinderung – aber es half nichts. Sie blieb dabei, dass es schrecklich war, behindert zu sein und dass es ihr unendlich Leid tue.


Aber für wen sagt sie das?

Natürlich ist ein Leben mit Behinderung hin und wieder anstrengender als ohne, aber es ist auch schön. Und ein „Normal“ gibt es sowieso nicht. Jeder von uns hat sein Päckchen, mit dem er oder sie durch’s Leben geht, und das ist okay so. Dabei brauche ich kein Mitleid. Ich begegne jeden Tag Herausforderungen –  so wie jeder andere auch – ich lache, ärgere mich – und gleichzeitig bin ich meistens gut drauf, ein bisschen verrückt. Leben eben!


Ein Leben mit Behinderung bringt mir und manchmal auch anderen schlicht und einfach eine andere Sicht auf die Welt. Statt Mitleid oder Heilung hätte ich einfach gerne weniger Barrieren im Alltag und genau so viel Respekt und Anerkennung wie man anderen fremden Menschen eben entgegen bringt. Ich weiß, manchmal wissen die Leute nicht, wie sie es am besten sagen sollen, wenn sie mich ansprechen. Aber das ist kein Freifahrtschein. In solchen Momenten wünsche ich mir, dass die Leute sich endlich mehr mit dem Thema „Behinderung“ auseinandersetzen und erkennen, dass es kein Weltuntergang ist, eine zu haben. Christiane Link von behindertenparkplatz.de hat einmal einen Text dazu geschrieben, der meine Gedanken ziemlich gut widerspiegelt.


Als ich der Dame sagte, dass ich so gut wie nie zum Arzt gehe, realisierte sie, glaube ich, langsam, dass ihre Frage als Einstieg merkwürdig war. Wie ich heiße, wohin ich fahre, schien für sie zuerst gar nicht interessant zu sein. Die restliche Zugfahrt schwieg sie, aber ich konnte förmlich hören, wie es in ihrem Kopf arbeitete und sie über unsere Begegnung nachdachte.


Der Beitrag Wem hilft Mitleid eigentlich? Mir oder dem Menschen, der es empfindet? erschien zuerst auf Raul Krauthausen - Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit..


flattr this!

 •  0 comments  •  flag
Share on Twitter
Published on June 11, 2014 12:01
No comments have been added yet.