Das visualisierte Lesen kommt


Darstellungen des Lesens am Bildschirm

Dass Geschichten einen Höhepunkt haben, merkt man besonders bei dicken Taschenbüchern, wenn man sie in einem Zuge durchliest. Der Höhepunkt ist derjenige Punkt, an dem die Hälfte auf der rechten Hand auf einmal merklich kleiner wird. 

Das liegt daran, dass man, wenn das Ende absehbar ist, Zeit hat, den Blick auf die Konstruktion der Handlung zu werfen und sich fragen kann, welche Überraschungen der Autor noch bringen dürfte. Je langsamer die zweite Hälfte der Seiten vergeht, desto flacher ist die Spannungskurve.

Was bei manchen Geschichten ein Gefühl der Erleichterung mit sich bringt, kann bei anderen eine Art Wehmut auslösen. Beim Kindle gibt es dieses Gefühl der wandelnden Balance nicht - wenn man einmal von dem Prozent-Balken absieht, der den Lesefluss symbolisiert.

Konstruktion, Punkt, Kurve, Hälfte - dies sind alles Begriffe aus der Statistik.

Hier gibt es für E-Reader noch einiges an Raum für Verbesserungen, nicht allein, was die Praktikabilität betrifft (Zitationen, korrektes Bibliographieren, etc. also alles, was professionelle Leser benötigen), sondern auch, was das Lesegefühl an sich betrifft. Lesen sollte eine Form des Reisens sein - mit Ausgangspunkt, Überraschungen und einem Ziel. Deswegen sollten künftige E-Reader nicht allein auf den Lesekomfort gemünzt sein, sondern auch auf das Umfeld des Lesens, die Erfolgserlebnisse, die gedanklichen Umwege und die Interaktion des Lesers mit der Geschichte, oder, wenn es ein guter Leser ist, mit dem Autor selbst.

Kaum eine Geschichte oder Handlung ist wirklich linear. Zwar folgt Buchstabe auf Buchstabe, doch die Verbindungen von Kapiteln und die Beziehungen zwischen Wörtern und auch Inhalten lassen sich immer auch mehrdimensional darstellen. Welches Medium ist hierfür besser geeignet als der Computer? Mehrdimensionales Lesen wird kommen. Wer hierfür ein gutes technisches Konzept entwickelt, wird viel Geld verdienen können.

Ist es wie bei einem guten Navigationsgerät im Auto? Es geht nicht allein um die Reise, sondern auch um die Route, Zahl der Kurven, Daten, Statistiken und die Visualisierung der Route durch verschiedenste Gadgets. Mit integrierten Wörterbüchern ist ein allererster Schritt getan, weitere werden folgen: Zitat-Datenbanken, Zusammenfassungen, Hilfen zum Schnell-Lesen durch optische Hervorhebungen von Schlüsselbegriffen und Eigen-Namen... Die nächsten Jahre am Bildschirm werden nicht nur für Profis faszinierend sein.




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Published on October 12, 2013 08:30
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über Bücher, Filme und Publikationen

Albrecht Behmel
Albrecht hat in Heidelberg und Berlin Geschichte, Philosophie und Politik studiert. Seit 1999 ist er Autor für Film, Print, Radio und TV, unter anderem für UTB, SR, ARTE, Pro7Sat1 und den RBB. Er lebt ...more
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