Berlin Bashing-Week



Zur Zeit ist es en vogue, Berlin runterzumachen. Tyll Schönemann hat im Stern Panorama versucht, mehr oder weniger objektive Gründe dafür aufzulisten, warum er es in Berlin nach zehn Jahren nicht mehr "aushält". Mich hat kein einziger davon überzeugt:

Er nennt: Flughafen, ruppige Umgangsformen, unterentwickelten Bürgersinn, Haushaltsloch und die mangelnde Sauberkeit (schon mal in Bombai gewesen?) - Man muss nicht Quentin Tarantino sein, um in so einer Liste keine "Abrechnung" zu erkennen, sondern eine Reihe von Ausreden. Aber "Ausreden" wofür eigentlich?
Schließlich ist es doch ganz normal, ab und zu umzuziehen. In anderen Kulturen vielleicht etwas mehr als bei uns, aber trotzdem... Warum hacken alle auf Berlin rum? Weil die S-Bahn Verspätung hat? Ernsthaft?

Ich selber bin auch von Berlin weg gezogen, um mit meiner Familie in unserem Haus im Schwarzwald zu leben; wir sind schon zu fünft und werden irgendwie ständig mehr, aber das ist eine andere Geschichte. Sechzehn Jahre lang war ich zuvor in Berlin; habe Unternehmen mitgegründet, ein Netzwerk für Medienleute gestartet und mehr als ein halbes Dutzend Bücher über die Stadt geschrieben. Ich habe in Kreuzberg, Neukölln, Dahlem, Prenzlauer Berg, Charlottenburg und Mitte gewohnt und gearbeitet - und ich vermisse die Stadt nicht sehr. Nein, eigentlich überhaupt nicht. Aber das liegt nicht an Berlin, sondern an mir: Ich bin immer meine eigene Hauptstadt, egal wo ich grade wohne.

Die Frage bleibt, warum hacken zur Zeit alle auf Berlin rum? Ich glaube, es gibt fünf tiefere, ideengeschichtliche Gründe dafür:

1.) Generationenwechsel
Vielleicht tritt jetzt einfach eine Generation von Pionieren ab, die in der harten/wilden Zeit der Neunziger Jahre, die Nach-Wende-Phase mitgestaltet hat, eine Generation, zu der ich mich auch zähle. Wir haben gegründet, renoviert, investiert, viele Erfolge und noch mehr Misserfolge gehabt - aber vor allem haben wir stets improvisiert, weil wir mussten. Wir Pioniere und Trapper sind fertig; jetzt sind die von uns verachteten Siedler, Verwalter und Berater dran - Kulturfolger. Die Roaring Nineties sind vorbei. Wir Pioniere ziehen weiter in die nächste Wildnis.

2.) Historische Normalisierung
Deutschland war ein "Land", das über tausend Jahre hinweg keine gemeinsame Hauptstadt hatte. Als Berlin nach dem überaus turbulenten, hysterischen Jahrhundert 1870-1968 einigermaßen zur Normalität zurückfand und 1990 eine stabile Staatlichkeit gewann, wurde die neue Hauptstadt zum Star. Der Ruhm verblasste, wie er es immer zu tun pflegt, und die Deutschen erinnern sich jetzt daran, dass es noch andere Städte gibt, und dass bei uns - im Gegensatz zu Frankreich oder England - das Land jenseits der Hauptstadt nun einmal nicht automatisch Provinz ist. Daher müssen "objektive Gründe" (= Ausreden) gefunden werden, die die Rückbesinnung auf das Erbe rational und individuell erscheinen lassen. Kein Wunder, dass diese Gründe nicht überzeugen.

3.) Publizistische Marktlücke
Nachdem es lange schick war, Berlin zu hypen, es mit London, New York und Paris zu vergleichen (was für ein Schwachsinn), bzw. diesen Städten nachzueifern (schon eher sinnvoll), gibt es jetzt kaum noch Chancen, diese unrealistischen Hymnen zu übertreffen. Deswegen muss sich ein Publizist, der etwas Neues über Berlin berichten will, im Feld des Negativen tummeln. Da gibt es noch jede Menge Spielraum.

4.) Deutsche Staatsgläubigkeit 
Schönemann beschwert sich über die Bauvorhaben, die nicht funktionieren, die Unfähigkeit der Regierung und die chronische Pleite des Haushalts. Ich frage mich: Was erwartet er denn? Enttäuschung darüber, dass Regierungen und Verwaltungen Städte nicht "in den Griff kriegen" (um was eigentlich danach zu tun?) ist doch genau ein Ausdruck des mangelnden Bürgersinns, den Schönemann den Berlinern vorwirft. Genau wie der Rest der Republik auch braucht Berlin weniger Regierung - und nicht mehr.

5.) Unsere "Entweder-Oder-Kultur"
In Deutschland sind wir immer dann am glücklichsten, wenn wir mit etwas unglücklich sein dürfen: Dem Länderfinanzausgleich, BER, der FDP, der GEZ, Stuttgart21, etc. Wir Deutschen drücken mit Gemecker Zuneigung, Anteilnahme oder Besorgnis aus. Diese nationale Eigenschaft führt dazu, dass wir häufig überaus langweilige Debatten führen, die nach dem Motto "Pro und Contra" geführt werden. Warum sollte man sich denn "für oder gegen" Berlin entscheiden, wenn man doch ohne Probleme beides haben kann - Land und Stadt...



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Published on January 23, 2013 16:51
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über Bücher, Filme und Publikationen

Albrecht Behmel
Albrecht hat in Heidelberg und Berlin Geschichte, Philosophie und Politik studiert. Seit 1999 ist er Autor für Film, Print, Radio und TV, unter anderem für UTB, SR, ARTE, Pro7Sat1 und den RBB. Er lebt ...more
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