Der Ekel oder Wie das Buch von Julia Schramm mich berührte

Ich habe mit den Tränen gekämpft, als ich mit “Klick mich” fertig war. Mit klopfendem Herzen lag ich wach, obwohl ich seit Wochen ruhig schlafe. Abgestandene Erinnerungen rollten vorüber. Verstaubte Emotionen erblühten im Schatten meiner Verstimmung. Sollte ein Buch, das als Manifest der Belanglosigkeit gilt, nicht auch mir sang- und klanglos am featherbottom vorbeigehen? Als ich im Blog darauf hinwies, dass Neid eine große Rolle in diesem Shitstorm spielen könnte, hatte ich das Buch noch nicht gelesen und wusste über die Person Julia Schramm zu wenig, um beurteilen zu können, wie angemessen die Kritik oder wie nötig eine Verteidigung war. Das Shitstorm-Phänomen trieb mich um, nicht die Politikerin. Nach der Lektüre von “Klick mich” muss ich mein Interesse nun aber doch auf die Person richten, denn ich fühlte mich noch nie von einem Buch so missbraucht.


1999, als Julia Schramm die Masturbation am Computerbildschirm entdeckte, unterhielt ich eine Mailfreundschaft mit einem Mädchen aus dem Young Miss Forum. „Ich habe einen neuen Mantel“, schrieb sie mir. „Darin fühle ich mich stark und schön. Hart und zart, verspielt und klug. Meine roten Locken fallen über die Schultern, wenn ich so dahinwirble, ich spüre meine ganze Weiblichkeit.“ Vielleicht waren es meine dünnen Haare, Schuhgröße 42 und das Fehlen eines Selbstbildes als Schaumbadprinzessin, die meinem Missmut über diese Zeilen zugrunde lagen. Wahrscheinlich sogar, in den letzten Jahren einer Pubertät, die von Minderwertigkeitskomplexen bestimmt war. Aber da war noch was. Das Gefühl, ausgesaugt zu werden, ein leeres Gefäß für eine fremde Eitelkeit zu sein. Ein Moment der Selbstzufriedenheit vor dem Spiegel ist in meinen Augen eine sehr intime Sache, und eine sehr peinliche, wenn es ungebetene Zeugen gibt. Entsprechend unangenehm berührt es mich, wenn mir jemand diese Intimität als Mitteilung präsentiert. Ich will keine bloße Spiegelwand sein, in der sich einer bewundern kann. Das kann nur ein Vertrauensverhältnis legitimieren.


Julia Schramm sieht das anders. Auf jeder Seite lässt sie uns wissen, wie hübsch, intelligent und „special“ sie sich findet. Das wirkt alles noch ekelhafter, wenn sie die Komplimente an sich selbst anderen Figuren in den Mund legt, um ihnen einen Anstrich von Intersubjektivität zu verleihen. Ekelhaft wirken auch ihre Versuche, durch akademisches Namedropping Intellekt vorzutäuschen und durch Befindlichkeitsfloskeln Tiefe.  Mein Kopf entwirft ein Mädchen, das sich aus Mangel an beschissener Kindheit mit rotem Filzstift “ritzt”. Denn Weltschmerz ist “awesome!”, aber es soll nicht weh tun. „Ekelhaft“ ist ein Wort, das häufig fällt, wenn über dieses Buch geredet wird. Ich benutze es gerade in der Überzeugung, dass es das treffendste Wort ist, wie sehr es mich gestern noch befremdete. Exhibitionisten, die nachts im Gebüsch stehen und ihre kümmerlichen Pimmel allen zeigen, die sie nicht sehen wollen, lösen in mir einen ähnlichen Ekel aus wie eine Julia Schramm, die ihr Innerstes ungefiltert nach außen kehrt. Nun mag man einwenden, dass es ihr als post-privacy Enthusiastin gerade darum gehe, alles offen zu legen und hier von einer mit konservativen Werten argumentiert würde. Nichts dergleichen, ich bin selbst Fan von post-privacy. Aber anscheinend aus ganz anderen Gründen. Post-privacy bedeutet für mich eine größere Bereitschaft, wertvolle Erfahrungen mit anderen zu teilen. Das kann das Tagebuch einer Depression sein, das Betroffenen helfen kann, aber auch die Website einer jungen Hipster-Familie aus San Francisco, die ästhetisch ansprechend ihren Alltag dokumentiert. Die Menschen, die post-privacy auf die Weise leben, wie ich sie verstehen möchte, nutzen das Internet eben nicht zur bloßen Exhibition ihrer inneren Schamteile, statt dessen versuchen sie, einen Mehrwert für Andere zu schaffen. Ich habe nichts gegen Narzissten, die sich Mühe geben. Ich habe etwas gegen Menschen wie Julia Schramm, die – wie mir scheint – die Leser nie mitgedacht hat. Die sich nie die Frage gestellt hat, die sich jeder Autor mehrmals am Tag stellen sollte: “Who cares?” Welchen Wert hat mein Text für jemanden, der nicht ich ist?


Ein Freund aus alten Tagen wurde an die schmutzigen Ufern meiner Erinnerung gespült. Ein selbstverliebter, emotionaler Vampir, der mir im Verlauf unserer Bekanntschaft nicht eine persönliche Frage gestellt hat. Seine Vorstellungen von gelungener Kommunikation waren Grundlage für ein “Spiel”, das er eines Nachmittags erfand. Er scrollte sich durch die Kontakte in seinem Handy und erzählte mir, was er von jedem Aufgelisteten hielt. Ich musste mir Geschichten und Reflexionen über Menschen anhören, die ich noch nie im Leben getroffen hatte. Für ihn war das glänzende Unterhaltung. Dass mich das langweilen könnte, kam ihm nicht in den Sinn. Und ich verfluchte meine polnische Erziehung zur Höflichkeit. Nach jedem Treffen mit ihm war ich leer und kraftlos. Ich hätte nie gedacht, dass in der scheinbaren Sicherheit eines Buches dieselbe Wut, dieselbe Ohnmacht hochkochen könnten wie damals. Nun habe ich bei einem Buch den Vorteil, dass ich es jederzeit weglegen kann. Ich musste es überhaupt nicht lesen. Keine anerzogenen Hemmungen können mich an Ort und Stelle halten. Bin ich Masochistin? (Für “Shades of Grey” war ich’s nicht  genug. Nach zwanzig Seiten war die Schmerzgrenze erreicht.) Ich habe das Buch von Julia Schramm gelesen, weil ich nicht glauben konnte, dass die Kritiker fair argumentieren. Ich suchte nach etwas Gutem, nach dem Funken eines Bemühens vielleicht, aber ich fand nur schlechte Erinnerungen und dazwischen nichts als Ekel. Auf dem schleimigen Boden des Ekels ist auch dieser Blogpost entstanden, eine “Rezi”, mich zu entlasten und andere zu warnen. “Klick mich” ist nicht nur ein schlechtes Buch, es ist ein Buch, von dem einem schlecht wird. :’-(


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Published on September 18, 2012 05:27
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