“Dojczland” (2/2)

FUN FACT: Gestern vor 23 Jahren bin ich nach Deutschland emigriert. Das macht den heutigen Tag auch zum Jubiläum, war es doch der erste richtige Tag in RFN aka BRD, bei leicht bewölktem Himmel und vollem Bewusstsein. Vielleicht sollte ich an dieser Stelle erzählen, wie es wirklich war:

Der 3. September 1989 begann für mich in nebliger Frühe. Es war noch dunkel, als meine Eltern zum letzten Mal die Lichtschalter im Haus betätigten. Für die letzten Minuten war es noch “unser” Haus, nicht das Haus in Polen oder das Haus unserer Oma. Mama hatte uns “luxuriöse” Jogginganzüge im Pewex gekauft, die durften wir im Auto anziehen, denn wann sonst, wenn nicht auf der Reise unseres Lebens? Es waren aber keine MickyMaus-Anzüge wie im Buch, die lagen in den Koffern, Disney-Pyjamas, die mein Opa uns einmal aus Deutschland mitgebracht hatte. Mein Reise-Outfit war hellblau, mit bordeauxroten Gummizügen, mit einem Kegel und einer Bowlingkugel vorne drauf. Oma Greta begleitete uns nach draußen. Umarmungen, Küsse, Gute Reise, Gewinke, bevor sie das Tor aus dünnen schwarzen Brettern hinter uns schloss. Wir fuhren nicht allein, sondern mit Onkel Marek, der tatsächlich zwei Jahre vor uns ausgewandert war und den Weg gut kannte. Alle außer meinem Vater, der im Fiat 126p hinter ihm her fuhr, saßen im komfortablen Mercedes. Der erste Halt in Deutschland war für uns Hannover, wo meine Patentante, Onkel A. und Cousin P. wohnten. Wir kamen spät in der Nacht an, bekamen aber trotzdem noch ein festliches Mahl kredenzt. Am nächsten Morgen wandelte ich durch das Kinderzimmer meines Cousins und bewunderte sein Spielzeug. Mit Flüssigkeit gefüllte Kästchen, unten zwei Knöpfe, wenn man sie drückte, wurden Ringe nach oben geblasen die sich irgendwo zu sammeln hatten. Onkel Marek zeigte uns später einen Supermarkt und kaufte mir ein Kinderüberraschungs-Ei. Der Inhalt: eine Micky Maus mit Ghetto Blaster.


Danach fuhren wir auch schon nach Hamm, wo wir in einer Turnhalle unterkamen. Den ersten deutschen Spielplatz sah ich ebendort, im Maximilianpark. Viel mehr faszinierte mich aber der überdimensionale gläserne Elefant, in dem exotische Gewächse wucherten. Meine Eltern nannten das Tier “Eléfant”, mit Betonung auf der zweiten Silbe, und lange dachte ich, dass das sein Vorname wäre. Deutsche Spielplätze waren glatt, lautlos und sicher. Die Schaukelsitze aus Gummi, Ketten statt schiefer Stahlröhren, kein Rost, keine wackeligen Gerüste. Keine Chance, sich interessante Verletzungen zu holen. Hier eine typische sozialistische Schaukel:

einfach schön.


Im achten Kapitel heißt es über die ersten Eindrücke: Wie seltsam, dass alles, was in Polen überall gleich war, ob man nun in Krakau, Danzig oder Warschau lebte, in Deutschland andere Farben und Formen hatte. Gemeint sind die landesspezifischen Farben, derer man sich erst in der Fremde bewusst wird. Sie werden von Wegweisern, Straßenschildern, öffentlichen Einrichtungen und dergleichen mehr bestimmt. Have you ever noticed? In Deutschland dominiert Gelb, die sauberste aller Farben. Gelb ist die Post, sind Wegweiser, ist Lufthansa. Immer ist es das strahlende Gelb, dem Schmutz nichts anhaben kann. In Polen ist die Post rot. Krankenhäuser und Apotheken muten hellblaugrau an. Wegweiser sind dunkelgrün. Verkehrszeichen sind innen nicht weiß, sondern rotstichig-gelb. Ich glaube, dass auch Farben das Bewusstsein bestimmen.


Im Buch endet der erste Tag in Deutschland damit, dass Olas Mutter eine schockierende Entdeckung macht: Sie entdeckt einen Mann, der eine zerrissene Hose trägt. Bonus: ausgerechnet am Arsch verläuft der ärgste Riss. “Ich begreife das nicht. Deutschland ist doch ein reiches Land. Wie kann es sein, dass jemand in einer kaputten Hose auf die Straße gehen muss?” – Was Olas Mutter zum Zeitpunkt ihres mitleidigen Entsetzens noch nicht weiß, ist, dass zerrissene Jeans im Westen der letzte Schrei sind. Eine Mode auf dem Höhepunkt der Coolness. Interessanterweise ändert sich jedoch nichts an Mutters Irritation, als sie das erfährt. “Also, wenn das Mode sein soll, dann…” Nach 23 Jahren versteht meine Mutter diese Dinge immer noch nicht. Das Konzept “Vintage” z.B. ist ihr unzugänglich. Meine Vorliebe für Retro-Kleider und alles, was nach Flohmarkt aussieht, hält sie für weltfremdes Gebahren. “Wer trägt denn sowas?”, “Wer hat denn so etwas gesehen?”, “Das ist doch altmodisch!”, “So sahen alte Tanten aus, als ich klein war.” Die unerschütterbare Abneigung gegen alles Alte und Kaputte, alles Unzeitgemäße oder Anachronistische, lässt sich durch die Lebensumstände erklären, in denen meine Eltern aufgewachsen sind. Kleidung war kein Statement, sondern eine Notwendigkeit, und dazu knapp. Man trug die alten, mottenzerfressenen Klamotten der Tante, Sachen der Geschwister, in die man noch reinwachsen musste oder aus denen man schon rausgewachsen war, Umgenähtes und Selbstgestricktes. Doch wie minderwertig die Kleidung auch sein mochte, immer hatte sie “fein” zu sein. Eine Kunst, die jede Frau zu beherrschen hatte, war, selbst “stare szmaty” (alte Lappen) schick und ordentlich aussehen zu lassen. Daher das völlige Unverständnis, wie man FREIWILLIG etwas tragen kann, das das Gegenteil all dessen ist, um das man immer so emsig bemüht war. In einem Staat, in dem tatsächlich niemand mit zerrissener Hose rumlaufen muss, verliert das Kaputte jede Assoziation mit existenzieller Armut und kann zu “Mode” werden, zu einer neuen Hose, die ganz viel kostet, weil sie aussieht, wie eine alte Hose.


In der Nächsten Folge:  All about Katholizismus! *grusel*


 


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Published on September 04, 2012 07:53
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