Behindert, aber nicht genug?
Über das Leben mit einer unsichtbaren Behinderung.
Ich ergattere in der U-Bahn einen der drei ausgeschilderten Plätze für Menschen mit Behinderungen und setze mich erleichtert. Endlich kann ich durchatmen, weil ich weiß, dass ich die Fahrt über nicht wieder stehen muss – wie so oft. Rechts neben mir sitzt eine nett lächelnde Frau mit einem kurzen, braunen Bob, die wohl rund 40 sein wird. Links von mir ist ein älterer Herr mit einer Gehhilfe.
Wie immer bin ich die jüngste Person, die einen der grellen roten Sitze nutzt, die manchmal ein Minenfeld an Kaugummi widerspiegeln. Über mir hängt ein Schild mit einem Mensch in einem Rollstuhl. Ich nutze aber nur seltenen einen Rollstuhl. Und ich kann gehen. Das einzige Hilfsmittel, das meine Mitmenschen wahrnehmen könnten, wenn sie genau hinschauen würden, ist meine Halskrause, die ich immer trage, wenn ich in ruckelnden Fortbewegungsmitteln fahren muss.
Seit mittlerweile fast zehn Jahren lebe ich mit mehreren unsichtbaren chronischen Krankheiten – eine angeborene Bindegewebserkrankung, das Ehlers-Danlos-Syndrom, hat in meinem Fall zu einer Vielzahl an anderen Erkrankungen geführt – die zu einer genauso wenig sichtbaren Behinderung führen. Da ich wie viele andere Menschen mit Behinderungen nicht unbedingt in Geld schwimme, nutze ich so oft ich kann öffentliche Verkehrsmittel, um z. B. zu Arztterminen, zum Supermarkt oder zu anderen kleinen Notwendigkeiten zu gelangen, die für meine gesunden Mitmenschen selbstverständlich sind.
Doch U-Bahn oder Bus zu nutzen, stellt mich vor große Herausforderungen, denn ich kann aufgrund starker chronischer Schmerzen und diverser neurologischer Probleme nicht lange Stehen – zumindest nicht ohne zu kollabieren, was für mich und alle Beteiligten ganz schön nervig ist. Und deshalb tanze ich in mir drin vor Freude, als ich an diesem Tag einen Sitzplatz finde.
Wenige Stops nachdem ich eingestiegen war, betritt ein älterer Mann die Bahn. Er zittert leicht aber merklich mit beiden Armen und nutzt einen Gehstock. Nachdem er einen Schritt in meine Richtung macht, schaut er jeden von uns dreien, die wir auf den Sitzen für Menschen mit Behinderungen sitzen, an und bleibt vor mir stehen. Er fordert mich auf den Platz freizumachen und sagt: ”Ich bin behindert und brauche diesen Sitz.”
Ich kann verstehen, warum er ausgerechnet mich fragt. Ich sehe fit aus, doch eigentlich bin ich das nicht. Anstatt dass ich jemanden anderen von den unzähligen Menschen im Zug gefragt hätte, ob sie nicht aufstehen könnten, weil ich – obwohl es nicht so aussieht – auch auf einen Sitz angewiesen bin, stehe ich wortlos auf und suche mir einen Stehplatz an der Wand neben der Tür, wickele meinen Körper um eine der Stangen zum festhalten und befürchte, dass ich gleich wie eine Pole-Tänzerin mit dem Gesicht voraus die Stange abwärts rutschen werde. Während der ganzen Bahnfahrt habe ich nur eines im Kopf: Die kommenden Tage verbringst du mit starken Schmerzen auf deinem Sofa, starrst aus dem Fenster und ärgerst dich über deine Dummheit.
Obwohl ich mein Leben mit meiner chronischen Krankheit und Behinderung mittlerweile akzeptiert habe, passieren mir solche Situationen trotzdem recht häufig. Das liegt vor allem daran, dass meine Mitmenschen kein Konzept von unsichtbaren Behinderungen haben. Sie nehmen mich als junge, gesunde Frau wahr, die auf zwei Beinen stehen und gehen kann. Selbst wenn ich mehrfach erkläre, dass ich chronisch Krank bin und mit einer unsichtbaren Behinderung lebe, glauben sie mir nicht. Im besten Fall denken sie nur, ich würde übertreiben. Im schlimmsten Fall werfen sie mir Begriffe wie ”Sozialschmarotzer” oder ”Lügner” an den Kopf.
Außerdem führt das Unwissen zu meiner Behinderung oft auch dazu, dass mir von meinem Umfeld vermittelt wird, dass ich gar kein Recht darauf habe, Leistungen für Menschen mit Behinderungen zu nutzen oder gar zu einzufordern, weil ich ”nicht behindert genug bin”. Immer und immer wieder muss ich mich für meine Bedürfnisse rechtfertigen und ständig stoße ich trotz aller Erklärungen auf nur noch mehr Ignoranz. Irgendwann schweigt man lieber.
In meinem Herzen weiß ich, dass es mir egal sein sollte, was andere von mir denken – vor allem, wenn es um meine Lebensqualität, um meine Gesundheit geht. Doch die vielen Kommentare und verurteilenden Blicke, die man als Mensch mit einer unsichtbaren Behinderung bekommt, können einen tief verletzen und an manchen Tagen lassen sich diese mental nur schwer ertragen. Dann weicht man aus und vermeidet lieber jede Konfrontation.
Und so stehe ich dann halt da, in der U-Bahn mit dem Gesicht an eine Stange gelehnt, von der ich hoffe, dass ihr nicht zu viele Fäkalkeime anhaften, beiße meine Zähne zusammen, riskiere dabei mich zu verletzen und lebe – wieder unsichtbar für meine Mitmenschen – mit den Konsequenzen heimlich und alleine in meinen vier Wänden. Denn die emotionalen Wunden durch die Ignoranz meiner Mitmenschen sind häufig deutlich schwerer zu ertragen, als die körperlichen Schmerzen.