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Der ehemalige Sohn
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Filipenko: Der ehemalige Sohn > ehem. Sohn Resümee

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Babette Ernst | 1602 comments Schlussbetrachtungen


Semjon (semjon22) Tut mir leid, ich habe heute etwas gemacht, was man in Leserunden eigentlich nicht gerne sieht: ich habe das Buch in einem Rutsch heute durchgelesen. Es war einfach ein Tag, an dem außer etwas Hausarbeit nichts anstand und ich auch zu nichts anderes Lust hatte. Meine anderen Parallel-Lektüren sind gerade schwere Kost, daher konnte ich mich nicht durchringen, nach dem ersten Abschnitt aufzuhören.

Trotz schnellem Lesen bin ich nur mittelmäßig begeistert und vergebe drei Sterne. Die Handlung wird ja bereits im Klappentext komplett verraten, daher enthält mein Review auch keinen Spoiler:

Ein Roman über die aktuelle politische und gesellschaftliche Situation in Weißrussland, geschrieben von ein Debütanten im Jahr 2014 und im eigenen Land verboten, da äußerst regimekritisch. Ein Roman, so leicht und locker zu konsumieren, dass ich ihn an einem Tag durchgelesen habe. Ein Roman, wie ein Märchen, eine Parabel, vollgepackt mit Symbolik und eindimensionalen Figuren.

Die Handlung wird eigentlich schon im Klappentext verraten: der 16jährige Franzisk gerät in Minsk in eine Massenpanik, fällt ins Koma und wacht erst nach 10 Jahren wieder auf. Rein medizinisch sind Krankheits- und vor allem Heilungsverlauf fragwürdig, aber das Koma steht ja quasi für eine im Tiefschlaf befindende Gesellschaft, in der sich keine Veränderungen ergeben, in einer Welt, in der der stetige Wandel in immer kürzeren Zyklen verläuft. Wenn schon Koma, dann bitte in Belarus, denn da kann man für ein paar Jahre auf Stand-By gehen, ohne das man etwas verpasst.

Die Grundidee des Romans gefiel mir, aber die Umsetzung ist dann schon sehr im Schwarz-Weiß-Stil gemalt. Ambivalente Figuren gibt es gar nicht. Gut sind allenfalls Zisk und seine Großmutter, alle anderen Personen, ob Mutter, Stiefvater, Freundin, Kumpel oder Arzt sind schwach, lemminghaft oder schlichtweg niederträchtig. Ihre Gedanken bekommt man in Form von langen Monologen präsentiert. Der Schreibstil ist nicht gerade raffiniert. Am Ende bleibt bei mir das Gefühl, dass ich die 7 Stunden Lesezeit effektiver mit einem Sachbuch oder einer Doku über Belarus verbracht hätte. Insgesamt ein Leseerlebnis, dass ich noch als zufriedenstellend bezeichnen würde.


Ich werde natürlich die weitere Diskussion hier verfolgen und meinen Senf noch dazugeben, wenn ich etwas zu sagen habe. Wünsch euch noch viel Spaß beim Lesen.


Nina (ninette42) | 70 comments Hallo, ich habe das Buch ebenfalls in einem Rutsch schon gelesen und mich wie immer über Babettes gelungene Auswahl sehr gefreut. Christiane, ich habe die Darstellung der Figuren ähnlich wie Du empfunden- als eine Reaktion auf die Umstände. Die kauzige, liebende und sture Großmutter habe ich absolut ins Herz geschlossen.


Nina (ninette42) | 70 comments Ja, so geht es mir auch. Vor dem Lesen war ich ehrlich gesagt auch skeptisch, ob die Idee des Buches wirklich tragen würde und das hat für mich auf jeden Fall funktioniert.


Frank (cromus) | 942 comments Was noch schreiben? "Infodumping", finde ich, trifft das Problem des Textes ganz gut. Der junge Autor wollte halt all seinen Frust und die Probleme des Landes in dem Text unterbringen - und da war die Koma- Idee nicht einmal die schlechteste. Sie motiviert das "Referat" über Politik als künstlerische Strategie. Deren Dürftigkeit zeigt sich jedoch in den Passagen, die so etwas wie "Handlung" nahe legten, also in dem Teil vor und dem nach dem Koma. Mal abgesehen von den medizinischen Merkwürdigkeiten, die sind zu vernachlässigen, wenn's der Sache hilft, fällt dem Autor hier nichts ein. In der Toilette wird ein Referat gehalten und dann wiederholt sich die Koma- Strategie am Grab der Großmutter. Wie sollen da die Personen, von denen ja nur aus jeweils einer Perspektive - meist der von Stass - berichtet wird, "Leben" bekommen? Ambivalenzen wären nur möglich, wenn die Perspektive gebrochen, oder wenn ein paar das Bild verstörende Handlungen hinzu gekommen wären. Daran fehlt es... - Und dennoch: Ich habe das Buch gelesen, als würde ich jemandem zuhören, der etwas auf dem Herzen hat und versucht, es mir, dem Nicht- Belarussen, zu erklären. Und als jemand, der fast alle Nachbarländer gut kennt und wenigstens zwei Mal in Minsk war, kommt mir da nichts fremd und schon gar nichts übertrieben vor. Lachen musste ich, als Stass auf S. 191 dazu auffordert, die Frage nach dem "Warum?" zu vergessen. Das ist 2014. Das erste, was mir ein Kumpel 1990, als ich ihn in Kiew besuchte, riet, war: "Die Frage nach dem 'Warum' ist hier verboten. Nimm zur Kenntnis, dass es so ist und lebe weiter." (Lutz Kuntzsch) - Auch ich kenne viele Tschernobyl- Kinder, die von ihren deutschen Gasteltern als den zweiten Eltern sprachen, in einem Falle, da sie älter waren, von "Ömchen und Öpchen" (Olga). Mag sein, dass es sowohl die westliche Konsumgesellschaft als auch die andersartigen (Freiheits?)Werte waren, die viele von den Mädchen so handeln ließen, wie es das Buch beschreibt. Auch die Reaktionen der Eltern sind authentisch. Ich fragte einmal eine Schülerin, mit der ich im Auto zu einem Bosch- Seminar nach Berlin fuhr, warum ihre Eltern sie nicht mit mir reisen lassen wollten, da es doch unmöglich sei, dass ich in solch einer Situation als ihr Lehrer übergriffig werden könnte. Die Antwort: "Ach, Herr Steffen, nun sind sie schon so lange in der Ukraine und haben immer noch nichts verstanden. Mein Vater hat mich gefragt: 'Wenn er nicht mit dir schlafen will, wozu willst du dann mit ihm nach Deutschland fahren?" Kontext: Sie wird nach der Fahrt so oder so als "Hure" eines Deutschen angesehen und wenn das schon so sein soll, dann will der Vater wenigstens einen Gegenwert sehen. Das Mädel lebt nun in Heidelberg und lässt sich gerade von einem anderen Deutschen scheiden. Die "drei Jahre" sind rum; aber die waren für sie verglichen mit einem Leben in der Ukraine nur das "kleinere Übel". - Dass Stass sich wegen der Rückgabe des Adoptiv- Kindes ins Heim umbringt, scheint schwach motiviert (und ist es im literarischen Kontext auch). Aber wer die Verhältnisse in solchen Heimen kennt und weiß, dass der Mann ohne Frau kein weiteres Recht gehabt hat, das Kind zu behalten, versteht die Dramatik des "Verrats" an dem Kind. Schläge, mangelhafte Versorgung, Lieblosigkeit, Eingesperrt- Sein und unmögliche hygienische Verhältnisse... - dem Kind wird es nicht gut gehen, selbst wenn es einigermaßen normal das 18. Lebensjahr erreicht. Ich hatte in Czernowitz einen Direktor, der Heimkind war, aber das kann ich hier unmöglich erzählen. Es würde den Rahmen sprengen. Zwangspsychosen ohne Ende, die, wenn man sie "rückwärts liest", alles über seine Kindheit verraten, auch wenn er nie davon erzählt hat. Kurz: Ich war von der Lektüre ergriffen und kann also kaum noch "objektiv" über das Gelesene urteilen. Wenn es anderen Lesern auch so geht, und die Preise verraten, dass das womöglich der Fall war und ist, dann hat das Buch auf jeden Fall einen Zweck von Literatur erreicht: Aufrütteln! Das ist gerade jetzt, wo sich wieder das allgemeine Schweigen über Belarus ausbreitet, gar nicht zu verachten. Für mich ist am Schlimmsten, das Claudia Müller von den Grünen als Abgeordnete des BTs die Patenschaft über eine unschuldig Inhaftierte übernommen hat, ohne dass ihr Beispiel bei den Linken der PdL oder den identitätspolitischen und antirassistischen Schreihälsen Nachahmer gefunden hätte. Bloß weil Belarussen nicht schwarz sind? Das ist eine Schande! Für "unsere" Politik und ihre Träger (oder Darsteller?) sowieso! Danke für die Auswahl des Buches, das sonst an mir vorbei gegangen wäre!


Peter (slawophilist) | 589 comments Seit vorgestern bin ich auch durch. Das Buch ist mir sehr nahe gegangen. Ich habe Freunde in Belarus bzw. aus Belarus und habe das Land mehrmals besucht, beruflich, wie auch touristisch. Bei meinem letzten Besuch im Sommer 2019 schien das Land auf einem guten Weg: eine erfolgreiche IT-Industrie gab jungen Leuten eine Perspektive, Öffnung für den Tourismus, visafreier Verkehr in der Grenzregion zu Polen, Besinnung auf die eigene Geschichte und Kultur im Rahmen der litauisch-polnischen Konföderation. Und dann die gleiche Geschichte wie 2010, nur in anderer Dimension, sowohl was die Proteste als auch die Reaktionen des Regimes angeht. Gibt es noch Hoffnung.

Wenn man die Interviews mit dem Autor in der Berliner Zeitung und im Magazin Buchkultur liest eher nicht. Vielleicht muss Filipenko sogar Russland verlassen, weil man dort begonnen hat unliebsame Kritiker nach Belarus auszuliefern.


message 7: by Tee&Tacheles (new)

Tee&Tacheles | 289 comments Insgesamt teile ich eure Einschätzung - wie schon bei "Gerta" von Katerina Tuckova hat mich die Informationsdichte über die ein oder andere stilistische Schwäche hinweggetäuscht. Ich bin froh, dass Buch gelesen zu haben. Allerdings hätte ich mir - aber auch das habe ich bei vielen Büchern - noch ein paar Seiten mehr gewünscht, um die Charaktere mit ihren Hinter- und Beweggründen noch etwas besser zu verstehen (@Christiane: Deine Interpretationsansätze diesbezüglich fand ich sehr spannend, vielen Dank!). Insbesondere den Stiefvater fand ich sehr schwach - aber das ist wahrscheinlich auch die Figur, zu der der Autor selbst die größte Distanz hat und die er deshalb am wenigsten greifen kann. Stass fand ich im Gegensatz dazu gar nicht so undifferenziert, aber auch hier hätte es für mich gut getan, ihn ein bisschen mehr zu vertiefen und zu entfalten.

Aber auf jeden Fall ein sehr lesenswertes Buch, danke für die Auswahl! :)


Babette Ernst | 1602 comments Heute geht diese Leserunde zu Ende, und ich will wenigstens noch ein paar Zeilen zum Abschluss schreiben. Im Wanderurlaub nur mit Handy tue ich mich mit den Kommentaren etwas schwer.
Meine Meinung weicht im Grunde nicht von euren Beurteilungen ab. Das Buch liest sich schnell und vermittelt einen Eindruck der Situation in Belarus mit einer Fülle von Details (das Wort Informationsdumping gefällt mir dabei sehr). Ich sehe einige Schwächen des Buches, bin mir aber nicht sicher, inwieweit es dem Debüt geschuldet ist oder sich sogar um stilistische Mittel handelt. Sind die vielen Monologe, die sich aus der Koma-Situation ergeben, Mittel, um die vielen Informationen unterzubringen (so erscheint es mir) oder sind sie auch ein Symbol für das Aneinander-Vorbeireden, das Sich-nicht-Zuhören, was wiederum die Spaltung der Gesellschaft zum Ausdruck bringt?
Angesichts des erneuten Misserfolgs der Proteste in Belarus, hat das Buch eine große Aktualität, aber ist auch enorm bedrückend in der Hoffnungslosigkeit. Das Buch hat mir geholfen, diese Ereignisse zu verstehen. Ich habe es gerne mit euch gelesen.
Wahrscheinlich werden wir in unseren erweiterten Familienkreis eine junge Frau aus Belarus aufnehmen. Ich werde sie unbedingt zu dem Buch befragen und evtl. dann noch einen Nachtrag schreiben.


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