Osteuropa-Literatur discussion

This topic is about
Der ehemalige Sohn
Filipenko: Der ehemalige Sohn
>
ehem. Sohn Resümee
date
newest »

message 1:
by
Babette
(new)
-
rated it 4 stars
Jun 23, 2021 09:05AM

reply
|
flag

Trotz schnellem Lesen bin ich nur mittelmäßig begeistert und vergebe drei Sterne. Die Handlung wird ja bereits im Klappentext komplett verraten, daher enthält mein Review auch keinen Spoiler:
Ein Roman über die aktuelle politische und gesellschaftliche Situation in Weißrussland, geschrieben von ein Debütanten im Jahr 2014 und im eigenen Land verboten, da äußerst regimekritisch. Ein Roman, so leicht und locker zu konsumieren, dass ich ihn an einem Tag durchgelesen habe. Ein Roman, wie ein Märchen, eine Parabel, vollgepackt mit Symbolik und eindimensionalen Figuren.
Die Handlung wird eigentlich schon im Klappentext verraten: der 16jährige Franzisk gerät in Minsk in eine Massenpanik, fällt ins Koma und wacht erst nach 10 Jahren wieder auf. Rein medizinisch sind Krankheits- und vor allem Heilungsverlauf fragwürdig, aber das Koma steht ja quasi für eine im Tiefschlaf befindende Gesellschaft, in der sich keine Veränderungen ergeben, in einer Welt, in der der stetige Wandel in immer kürzeren Zyklen verläuft. Wenn schon Koma, dann bitte in Belarus, denn da kann man für ein paar Jahre auf Stand-By gehen, ohne das man etwas verpasst.
Die Grundidee des Romans gefiel mir, aber die Umsetzung ist dann schon sehr im Schwarz-Weiß-Stil gemalt. Ambivalente Figuren gibt es gar nicht. Gut sind allenfalls Zisk und seine Großmutter, alle anderen Personen, ob Mutter, Stiefvater, Freundin, Kumpel oder Arzt sind schwach, lemminghaft oder schlichtweg niederträchtig. Ihre Gedanken bekommt man in Form von langen Monologen präsentiert. Der Schreibstil ist nicht gerade raffiniert. Am Ende bleibt bei mir das Gefühl, dass ich die 7 Stunden Lesezeit effektiver mit einem Sachbuch oder einer Doku über Belarus verbracht hätte. Insgesamt ein Leseerlebnis, dass ich noch als zufriedenstellend bezeichnen würde.
Ich werde natürlich die weitere Diskussion hier verfolgen und meinen Senf noch dazugeben, wenn ich etwas zu sagen habe. Wünsch euch noch viel Spaß beim Lesen.




Wenn man die Interviews mit dem Autor in der Berliner Zeitung und im Magazin Buchkultur liest eher nicht. Vielleicht muss Filipenko sogar Russland verlassen, weil man dort begonnen hat unliebsame Kritiker nach Belarus auszuliefern.

Aber auf jeden Fall ein sehr lesenswertes Buch, danke für die Auswahl! :)

Meine Meinung weicht im Grunde nicht von euren Beurteilungen ab. Das Buch liest sich schnell und vermittelt einen Eindruck der Situation in Belarus mit einer Fülle von Details (das Wort Informationsdumping gefällt mir dabei sehr). Ich sehe einige Schwächen des Buches, bin mir aber nicht sicher, inwieweit es dem Debüt geschuldet ist oder sich sogar um stilistische Mittel handelt. Sind die vielen Monologe, die sich aus der Koma-Situation ergeben, Mittel, um die vielen Informationen unterzubringen (so erscheint es mir) oder sind sie auch ein Symbol für das Aneinander-Vorbeireden, das Sich-nicht-Zuhören, was wiederum die Spaltung der Gesellschaft zum Ausdruck bringt?
Angesichts des erneuten Misserfolgs der Proteste in Belarus, hat das Buch eine große Aktualität, aber ist auch enorm bedrückend in der Hoffnungslosigkeit. Das Buch hat mir geholfen, diese Ereignisse zu verstehen. Ich habe es gerne mit euch gelesen.
Wahrscheinlich werden wir in unseren erweiterten Familienkreis eine junge Frau aus Belarus aufnehmen. Ich werde sie unbedingt zu dem Buch befragen und evtl. dann noch einen Nachtrag schreiben.