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Der ehemalige Sohn
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Filipenko: Der ehemalige Sohn > ehem. Sohn 3. Abschnitt: "Die nächste Zeit kam die Großmutter…" bis 16.7.

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Babette Ernst | 1602 comments bis: ""Grüß dich, mein Freund, ich erkläre dir alles…"


message 2: by Peter (last edited Jul 10, 2021 10:00AM) (new) - rated it 5 stars

Peter (slawophilist) | 589 comments In diesem Abschnitt habe ich viele Textstellen angestrichen. Tatsächlich wird in Belarus immer wieder das mobile Internet (nicht WLAN, wie im Buch fälschlich behauptet, abgeschaltet. Dies soll Proteste erschweren, die häufig über die sozialen Netze organisiert werden.

Warum?
Versuch diese Wort zu vergessen. ... Gesunde Menschen stellen keine Fragen, und du solltest erst recht keine stellen. Anderenfalls kannst du verrückt werden.
oder für verrückt erklärt werden. Das war ja eine in der Sowjetunion geübte Praktik um Regimegegner mundtot zu machen. Dieses Zitat könnte auch aus einem Theaterstück von Mrożek stammen. Genauso wie Unser Fünfjahresplan katapultiert uns zurück ins Jahr 1980.

Wir leben im besten Land für erwachende Komapatienten. Hier ändert sich absolut gar nichts. Bei dieser Stelle musste ich an den Film "Good Bye, Lenin!" denken, in dem es genau um das Gegenteil ging, einer in der DDR im Koma versunkenen und im vereinten Deutschland wiedererwachten Komapatientin, die vor dem Schock des Wandels geschützt werden soll. Kennt ihr den Film? Absolut sehenswert.

Angesichts des Falls Protassewitsch ist die folgende Textstelle geradezu prophetisch (bzw. es hat sich in den letzten 7 Jahren seit Erscheinen des Buches wirklich nichts geändert): "Über die Präsidenten der anderen Länder kannst du sagen und schreiben, was du willst, aber nicht über unseren! Kapiert?" Und ich habe Angst! Ich weiß, dass ich schuldig bin und ich entschuldige mich ein um das andere Mal mal bei ihm und sage: "JA, ja ... ja ... Alles klar ... Sagen Sie mir nur, was man darf! ... ERlauben Sie mir nur, was man darf ... Sagen Sie mir, was ich darf, und ich werde es machen ..."

Und gänzlich absurdes Theater sind Kinder, die 'Proteste zerschlagen' spielen. Aber wer weiß, am Spiel der Kinder kann man vieles ablesen. Wir haben damals (in der Hochzeit von "Bonanza" und "Shiloh Ranch") immer Cowboy und Indianer gespielt, seltener Räuber und Gendarm. Meine erste Frau (Jahrgang 1964) hatte zu gleicher Zeit in Polen fast immer Krieg gespielt (inspiriert von Filmen wie "Sekunden entscheiden" - Stawka większa niż życie oder "Vier Panzersoldaten und ein Hund" - Czterej pancerni i pies) und da wollte natürlich niemand die Deutschen spielen, weil die verlieren mussten. Welche Rollen haben Kinder damals in der DDR gespielt?


Frank (cromus) | 942 comments Ich war immer Indianer (Tokei-ihto- nie Winnetou!) oder Janek! Dazu hatte ich sogar den Schäferhund meines Opas... ;-)


Peter (slawophilist) | 589 comments Frank wrote: "Ich war immer Indianer (Tokei-ihto- nie Winnetou!) oder Janek! Dazu hatte ich sogar den Schäferhund meines Opas... ;-)"

Bei Tokei-ihto musste ich in Wikipedia nachschlagen mit dem schönen Nebeneffekt, dass es mich daran erinnerte, dass auch ich als Kind mit Begeisterung den ersten Roman "Harka" der Reihe von Liselotte Welskopf-Henrich gelesen hatte. Ich fand sie viel besser als Winnetou. Bei Karl May hatten es mir eher die Romane im Nahen Osten angetan. Aber das ist nun schon zu sehr off topic.


Frank (cromus) | 942 comments Kein Wunder. Anders als der schwule Karl May, der seine knast- bedingte Freiheitssehnsucht in ziemlich simplen (und gute deutsche "Indianer- Literatur" wie die des leider zu Unrecht vergessenen Friedrich Gerstäcker trivialisierende) Fantasien auslebte, wusste Liselotte Welskopf- Henrich aufgrund eigener Recherchen und Feldstudien in Reservaten, wovon sie schrieb. Sie gilt nicht umsonst als der "Balzac der roten Völker". Den "Sagenkreis" ;-) um Kara ben Nemsi kenne ich leider gar nicht (von "Winnetou" habe ich mir erst sehr spät ein "Werk" angetan- allerdings kannte ich die West- Verfilmungen, die mich als Knabe durchaus beeinflusst und beeindruckt haben). Übrigens habe ich auch so ziemlich alle Folgen von "Bonanza" gesehen. Aber Revolverheld wollte ich einfach nicht werden. Ein bisschen Befreiungskampf musste schon dabei sein. ;-)


Babette Ernst | 1602 comments Du hast die wichtigsten Textstellen herausgesucht, Peter. Die Intention des Autors ist klar, er will den Lesern überall zeigen, wie es in Belarus zugeht. Dabei sind die Personen irgendwie nur Statisten. Der Chefarzt und Stiefvater z. B. Kann jemand wirklich so sein? Der ist doch sehr eindimensional dargestellt in seiner Gewissenlosigkeit. Interessant wäre, wie er so geworden ist.
Franzisks Gesundung klingt etwas märchenhaft, aber das kann ich akzeptieren, weil dadurch der Symbolgehalt gut erkennbar wird.
Die Mutter ist besser dargestellt, die sich in ihrem neuen Leben eingerichtet hat und plötzlich kommt ihr das alte Leben in Form von Franzisk in die Quere. Wie sie mit Gott verhandelt, war witzig.
Echte Witze haben in einer Diktatur Konjunktur, glaube ich. Mir gefiel am besten :"Und habt ihr gehört, dass in unserem Land jeder Präsident werden, der diesen Beruf mindestens fünf Jahre lang ausgeübt hat?"


message 7: by Tee&Tacheles (new)

Tee&Tacheles | 289 comments Für mich hat in diesem Abschnitt vor allem die Figur der Mutter etwas mehr Tiefe bekommen... und sie verkörpert ja durchaus einen Typus, den man - auch wenn man sich vielleicht gerne als heldischen Widerständler sehen würde - sehr gut nachvollziehen kann. Klar, wenn man Franzisk als Bild für Belarus sieht, ist klar, dass man sich daran klammern will, dass er wieder aufwacht... wenn man die Geschichte aber auf der reinen Erzählebene sieht, finde ich die Ansicht der Mutter fast die "Vernünftigste" - warum sich Hoffnung machen, die es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gibt und dafür sein ganzes Leben aufgeben? Das geht entweder mit der Leidenschaft der Jugend oder mit der "Ich-hab-mein-Leben-gelebt"-Einstellung des Alters. Aber so "mitten im Leben" erscheint mir das Aufbäumen schon schwer - einfach, weil das dafür notwendige Opfer möglicherweise zu groß ist. Im Verlauf fand ich die Reaktion aber dann auch wieder unpassend... dass ihr das Aufwachen ihres Sohnes so völlig gleichgültig ist, verstehe ich nicht - den ersten Moment der Überforderung kann ich nachvollziehen. Aber danach erscheint mir die "Verdrängung" unrealistisch.

Den Chefarzt fand ich auch unrealistisch. Ich halte nicht viel von Personen, die so plakativ das personifizierte Böse sind... solche Figuren finde ich aufgrund ihrer fehlenden Ambivalenz eher uninteressant... und irgendwie soll es ja auf der metaphorischen Ebene um Archetypen der Bevölkerung gehen und dafür ist mir diese Figur ein bisschen zu eindimensional.

Ich glaube auch, dass das die Schwäche der sehr häufig eingestreuten politischen Witze ist. Sie sind gleichzeitig plakativ und irgendwie resigniert, aber sie setzen eben auch nur ein Statement und erklären nichts und genauso wenig helfen sie irgendwie weiter, sondern machen einen eher traurig. Zumindest geht es mir damit so.

@Peter: Die von die genannten Zitate fand ich auch sehr beklemmend, vor allem deine Parallele zu Protassewitsch hat mich schlucken lassen...


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