Prolog – Der ertrunkene Gott

Meine Freundin Maria ärgerte sich wohl ein wenig über den Cliffhanger, den ich ihr mit dem Ende von “Die versunkene Stadt” zumuten musste. Deswegen möchte ich ihr und anderen hiermit eine Freude machen. Das ist der Prolog, den ich für “Der ertrunkene Gott” geplant habe. Bitte erinnert euch daran, dass der Text weder lektoriert noch korrigiert worden ist – er soll lediglich einen Einblick in Band 2 geben und dem einen oder anderen eine Freude machen und das Ende von Band 1 erinnern. Ich hoffe, ihr habt eure Freude damit. Alles Liebe


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Inspiration der Bibliothek – von Pinterest



1    Prolog


Alex riss das Kinn in die Höhe, als die Straßenbahn ein elektronisches Quäken ausstieß. Sie klammerte sich an die Mittelstange, schielte schlaftrunken aus dem Fenster und stellte erleichtert fest, dass sie ihre Station noch nicht verpasst hatte. Ihre Finger glitten automatisch zu den schmerzenden Schläfen, hinter denen der Kopfschmerz pumpte. In den letzten Wochen fand sie kaum Schlaf, die andauernde Müdigkeit betäubte ihre Sinne und brachte sie noch um den Verstand.

Die Straßenbahn zog einen Bogen und kündigte den Parlamentsplatz an. Eine Zeit lang hatte Neobadhre versucht, ein unterirdisches öffentliches Verkehrsnetz zu etablieren, doch das Projekt hatte aufgegeben werden müssen. Die Erdverschiebungen im darunterliegenden Niemandsland hatten Stromverbindungen gekappt und Tunnel einsinken lassen – es verhielt sich seit der Götterdämmerung wie ein eigenständiger Organismus mit einer Art Metabewusstsein.

Die Straßenbahn hielt mit einem Ruck. Alex erkannte die Rückseite der Soverscher Nationalbibliothek. Sie eilte zum Wagonausstieg, der lautlos auseinanderglitt. Schneeregen fiel aus der grauen Wolkendecke und überzog den Parlamentsplatz mit einer gräulichbraunen Masse. Die inneren Bezirke Neobadhres waren ein Inbild der Moderne, umgeben von einem Ring aus Wolkenkratzern, so hoch, dass ihre schimmernden Spitzen den Himmel durchstoßen zu schienen. Der Parlamentsplatz im Stadtzentrum bildete eine Mulde, um den sich die wichtigsten Verwaltungsgebäude und Museen wie glänzende Klötze reihten.

Alex erklomm die Treppe zum Bibliothekstor. Vereinzelte Gestalten eilten mit hochgeschlagenen Krägen an ihr vorbei, um vor dem harschen Wetter in die Straßenbahn oder ein anderes Gebäude zu fliehen.

Warme Luft schlug Alex entgegen, als sie die Nationalbibliothek betrat. Über den spiegelnden Boden zog sich eine matschige Spur zum Einlassbereich. Sie fummelte die Magnetkarte aus der Tasche und reihte sich nervös in die Schlange, die vor den Drehkreuzen wartete. Ihre Brille beschlug, der Versuch, sie abzuwischen, hinterließ schmierige Fingerabdrücke. Die Perücke juckte, doch sie wagte es nicht, sich zu kratzen. Langsam rückte die Schlange voran.

Weiter vorne erklang ein Piepen, das Drehrad rotierte und ließ einen Besucher ein. Alex tippte angespannt mit der Schuhspitze auf den Boden, als ein süßlicher Geruch in ihre Nase kroch. Verwirrt sog sie die Luft ein und rümpfte die Nase. Vor ihr wartete ein älterer Herr, der nach abgestandenem Zigarettenrauch roch. Er spähte über die Schulter eines Studenten, der sich über Earplugs mit Musik beschallte. Befremdet drehte Alex den Kopf.

Sie erspähte einen kirschroten Haarschopf – und erstarrte. Einige Personen hinter ihr hatte sich ihre Arbeitskollegin Alma Klaster eingereiht. An ihrem Arm hing ein Korb voller Liebesromane. Ihre Frisur saß perfekt, ein rosa Häkelschal lag adrett drapiert um ihren Hals.

Alex rückte steif vor und zog die Jacke enger. Die Kopfschmerzen, die sie seit ihrer Rückkehr plagten, verstärkten sich. Vorsichtig schielte sie zur Seite. Über eine spiegelnde Glasfläche konnte sie Almas rote Turmfrisur im Auge behalten. Es war Sonntag, und Sonntag war Almas freier Tag. Alex hätte daran denken müssen. Sie leckte sich angespannt über die Lippen und betete zu Rehlt, dass Alma sie nicht erkennen würde.

Der alte Herr vor Alex steckte die Magnetstreifenkarte in den vorhergesehenen Schlitz und trat durch das rotierende Rad. Der Zigarettengeruch verschwand und machte gänzlich Almas Parfum Platz, das sich wie Kandiszucker in Alex’ Mund legte. Rasch fummelte sie nach dem Ausweis und drückte ihn an den Apparat. Dieser blinkte rot und gab ein Trotzgeräusch von sich. Nicht das auch noch …! Sie versuchte es erneut, doch der Durchgang wurde ihr verweigert. Alex bemerkte, wie die Menschen hinter ihr unruhig wurden. Jemand trat an ihre Seite. Sie fror fest.

»Madame«, sagte ein Mann mit Nickelbrille und über den Scheitel gekämmtem Haar. Er versuchte, ihren Blick durch die beschlagene Brille einzufangen. »Sie halten die Zugangskarte verkehrt!« Sie ließ sich die Magnetkarte aus den Fingern ziehen, er drehte sie und zog sie durch den Schlitz.

Unter grünem Licht konnte Alex das Drehrad durchschreiten. Sie floh und beeilte sich zur Fachabteilung für Gilebretologie, der sich in einem Seitenflügel befand. Dabei passierte sie wie üblich den Zugang zu einem ausgelagerten Teil der Sonderausstellung, die momentan im Kunstmuseum zu sehen war. Schrift und Schriftbild auf Mumienkartonagen betitelte das Banner über dem Zugang. Alex wollte wie üblich daran vorbeilaufen, als sie ein kühler Hauch streifte. Sie blieb stehen, lehnte sich zurück, warf einen Blick in die Ausstellungsräumlichkeiten. Almas Duft machte dem Geruch von Stein und vergilbten Papyri Platz.

Dieser Ort war ihr unheimlich. Fröstelnd schlang Alex die Arme ineinander. »Sei kein Feigling«, schalt sie sich selbst. Zögerlich setzte sie einen Schritt durch den Eingang. Die Ausstellung war wie ausgestorben, kein Mitarbeiter zu sehen. Sie vergrub die Hände in den Jackentaschen und sah sich beklommen um, durchwanderte die Halle, ihre Schritte warfen ein Echo zurück.

Vor einer mannshohen Statue blieb sie stehen, die ein humanoides Wesen mit Hundekopf darstellte, ein schwarzer Wächter längst vergangener Zeiten. Dahinter reihten sich Mumiensarkophage. Respektvoll trat sie an die Glasquader heran, die die antiken Mumien schützten.


Priestermumien des Ereshkianischen Kults


betitelte eine Tafel.

Alex schluckte und beugte sich darüber. Die Mumie wirkte dürr, in vergilbtes Leinen gewickelt wie eine verdorrte Insektenpuppe. Alex’ Atem ging flach, ihre Finger glitten über das kalte Glas. Diese Priester waren im Namen ihres Gottes mumifiziert worden, in der Hoffnung, dadurch zur Wiedergeburt zu gelangen.

Gedankenverloren sah Alex auf. Ist es das?, fragte sie sich. Bin ich einer von ihnen? Einer dieser Götter, von den Menschen angebetet – aufgestiegen und gefallen, in einem menschlichen Körper wiedergeboren?

Der Gedanke schien so absurd. Sie war ein Mensch! Gleichzeitig hatte sich etwas verändert, seitdem sie zurückgekehrt war. Die Kopfschmerzen arbeiteten hinter ihren Schläfen, schienen sich Platz zu schaffen – Platz für seltsame Fähigkeiten, die sie zuvor nicht besessen hatte.

Ihre Hand streichelte die Glaskante, als sie glaubte, etwas in ihrem Nacken zupfen zu spüren. Erschrocken warf sie sich herum.

Ihre Augen glitten über die Umgebung. Wandtafeln, Plastiken, Prachtsarkophage – alles schlief in stiller Ehrfurcht. Ich drehe noch durch! Sie versuchte, das Gefühl abzuschütteln.

Gedankenverloren betrachtete sie die Priestermumie. Der Kopf war eng umwickelt, sodass die Konturen hervorstachen. Der Stoff senkte sich über die Augenhöhlen, warf satte Schatten. Sie beugte sich nieder, ihre Augenbrauen bildeten eine steile Stirnfalte.

Etwas flüsterte ihr zu. Erschrocken drehte sie sich um. Sie war allein, doch das Wispern verschwand nicht. Es säuselte hinter ihrem rechten Ohr, ließ sie im Kreis rotieren – niemand tauchte dabei in ihr Blickfeld.

Alex griff sich ans Ohr und streifte die Halsschlagader. Ihr Puls pumpte kräftig. Kälte kroch an ihr empor, hinter ihren Schläfen rumorte der Schmerz.

Ihre Augen glitten zur Mumie herab. Reglos harrte diese in ihrem Steinsarkophag. Furchterfüllt bückte sich Alex. Sie konnte ihr eigenes Spiegelbild sehen, vertraut und doch fremd mit Brille und Perücke. Das Flüstern nahm an Intensität an. Stammte es etwa aus dem Sarkophag? Befand sich dort drinnen ein kaputter Lautsprecher, und sie machte sich vollkommen umsonst verrückt?

Das Glas beschlug unter ihrem Atem. Alex legte vorsichtig das Ohr daran. Die Oberfläche war kalt und feucht, schmiegte sich glatt und hart an ihre Ohrmuschel.

In diesem Moment war es ihr, als setzte sich etwas auf ihre Schultern. Ihre Sinne flimmerten, spielten ihr Streiche. Ein grauenhaftes Stöhnen drang an ihr Ohr.

Erschrocken stieß sich Alex vom Glasschrein ab. Sie krallte die Finger um den Taschenhenkel und versuchte, sich zur Ruhe zu zwingen. Ich drehe durch! Rasch beeilte sie sich, den Ausstellungsbereich zu verlassen. Sie hatte einige Schritte hinter sich gebracht, als ein reißendes Geräusch ertönte. Zuerst dachte sie, ihre Tasche könne das Gewicht der Bücher nicht länger tragen, doch dann fühlte es sich an, als würde ihre Jacke um zwei Nummern schrumpfen. Etwas knackte – es waren ihre Rippen – ein scharfer Schmerz durchzuckte sie. »Scheiße!« Unter ihrer Daunenjacke fuhr das zweite Armpaar hevor. Nicht schon wieder! Hastig suchte sie hinter der Hundestatue Schutz. Die Aufregung über ihre zusätzlichen Arme überdeckte für einen Moment die Angst vor den unheimlichen Geräuschen. »Ich werde verrückt«, flüsterte sie und rieb sich das untere Armpaar. »Ich drehe komplett durch!« Den Armen waren ihre Sorgen egal. Sie tauchten auf, wann es ihnen beliebte, bevorzugt in Situationen, in denen sie sie überhaupt nicht brauchen konnte.

„Bitte“, flehte sie. „Das ist der denkbar ungünstigste Zeitpunkt für euch!“ Sie leckte sich die Lippen und sah sich um. Bibbernd rieb sie sich die Hände. Tief einatmen, ausatmen, die Gedanken ordnen …

Es war, als würde eine schmierige Substanz über ihren Nacken laufen.

Alex unterdrückte einen Aufschrei und fasste sich unter die Perücke. War Schneewasser durch die künstlichen Haare gesickert? Ihre Augen glitten hinüber zu den Mumien. Unterhalb der Steppjacke schlang sie das Armpaar um die Hüfte, sodass sie niemand sehen konnte, und beeilte sich, die Ausstellung zu verlassen. Für fremde Augen musste es so aussehen, als würde sie aus der Nationalbibliothek fliehen.


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Published on July 09, 2015 08:24
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