Angst vor dem Online Mob - wenn eine Äußerung im Netz zur Gefahr wird

Für ihre Aussage auf Twitter sollte Justine Sacco gefoltert, erschossen und vergewaltigt werden, und zwar vorzugsweise von jemandem, der HIV-positiv ist. Der Meinung sind zumindest erschreckend viele Nutzer sozialer Netzwerke.



Solche Vorschläge waren deprimierend oft zu hören, nachdem die ehemalige Pressesprecherin des IAC-Konzerns vor einem Flug nach Südafrika ihren inzwischen berüchtigten Tweet absetzte: „Unterwegs nach Afrika. Hoffentlich kriege ich kein AIDS. Nur Spaß. Ich bin weiß!“ Dieser ignorante und geschmacklose Post kostete Sacco ihren Job und machte sie außerdem zum Ziel für den unaufhaltsamen Internet-Lynchmob. Im Internet wurden Unmengen äußerst plastischer, gemeiner Drohungen ausgesprochen: gegen Sacco, ihre Familie und sogar gegen Fremde, die einfach Mitleid mit ihr hatten.



sacco

Screenshot Twitter



Sacco hat ihre Konten bei Facebook, Twitter und Instagram inzwischen gelöscht und scheint sich vor der mistgabelschwingenden Meute zu verstecken, die sie gern „vergewaltigen und dir Aids ins Gesicht spritzen“ möchte, wie jemand auf Twitter schrieb.



My Africans gonn rape u n leave aids drippin down ya face RT @JustineSacco: Going to Africa. Hope I don't get AIDS. Just kidding. I'm white

— Dunkin Penderhughes (@DunkDa_G) 20. Dezember 2013








Die „Lynchmob-Mentalität“ sollte uns Angst machen



Die meisten von uns werden zwar niemals Ziel solcher Angriffe werden, dennoch sollte uns diese Lynchmob-Mentalität, die immer stärker, schneller und häufiger auftritt, zu denken geben. Die heftigen Reaktionen auf Sacco und viele andere vor ihr könnten zu einer Kultur der Selbstzensur führen, in der die freie Meinungsäußerung im Netz eingeschränkt wird und unkonventionelle Ansichten unterdrückt werden.



Wenn der allwissende Lynchmob stets bereitsteht, um jeden jederzeit zu denunzieren und anzugreifen, werden künftig keine unterschiedlichen Ideen mehr diskutiert werden, sondern nur noch harmlose Plattitüden ausgetauscht, denen jeder unbesorgt zustimmen kann.



Wer die Hetzkampagne gegen Sacco verurteilt, findet ihre Kommentare nicht automatisch gut. Die waren nicht nur ignorant, sondern für jemanden, der sein Geld mit Pressearbeit verdient, auch erstaunlich unbedarft.



Aber es gibt dennoch keine Rechtfertigung für dieses gewaltbereite, sexistische Feedback. (Tatsächlich halten Saccos Kritiker sich selbst wohl für über jede Kritik erhaben, solang sich ihr Zorn gegen jemanden richtet, den alle für böse halten.)



Die rücksichtslose Verurteilung von Menschen im Netz hält vielleicht andere künftig davon ab, eine Meinung auszusprechen, die auch nur leicht vom schlichten Schwarz-Weiß-Denken des Online-Mobs abweichen könnte. Claire Hardaker ist Dozentin an der Universität Lancaster und erforscht derartige emotionalen Wallungen im Internet. Sie erklärt, dass selbst ein „wohlmeinender“ Mob Fehler nach einfachen Regeln, inkonsequent und höchst emotional beurteilt.

Das Bauchgefühl gewinnt und führt dann zu extremen Reaktionen.



Mobbing oder freie Meinungsäußerung?



Diese Menschen behaupten zwar, sie würden einfach nur von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch machen, tatsächlich bringen sie aber jeden zum Schweigen, der ihre selbstgesetzten Grenzen überschreitet. Für die Opfer dieser brutalen Internetwächter kann die physische und digitale Bedrohung zu einer ernsten Gefahr werden.



Adria Richards, ehemalige Mitarbeiterin eines Unternehmens für E-Mail-Marketing, bezichtigte zwei Männer bei einer Konferenz, einen sexistischen Witz gemacht zu haben. Daraufhin rächten andere sich mit Morddrohungen und machten private Informationen über Richards öffentlich. Eine 22-Jährige, die sich zu Halloween als Opfer des Attentats beim Boston Marathon verkleidete, wurde gefeuert und erhielt Drohanrufe. Außerdem machten ihre persönlichen Daten und Nacktfotos online die Runde. Ein Fremder sagte ihrer besten Freundin, dass sie und ihr Kind sterben werden.



Die Einwohner von Steubenville in Ohio sagen, dass ihre Gemeinschaft von Online-Moralwächtern „zerstört“ wurde, die ihre eigene Form von Gerechtigkeit durchsetzen wollten, nachdem die Stadt nach Vergewaltigungsvorwürfen gegen zwei Teenager das Ziel von Internet-„Hacktivisten“ wurde. (Der Fall war, wie sich später herausstellte, deutlich komplizierter, als die Blogger das online wahrgenommen haben.) Vermummte versteckten sich im Gras und erschreckten die Kinder von Steubenville; Hacker knackten das E-Mail-Konto des Polizeichefs von Steubenville und posteten ein Foto von ihm im G-String; und eine anonyme Drohung hatte die vorübergehende Schließung aller Schulen in Steubenville zur Folge.



Online-Moralwächter zensieren das Netz



Die Moralwächter, die sich wegen rassistischer oder sexistischer Äußerungen in ihren Wahn hineinsteigern, könnten bald jeden so bedrohen, dessen Meinung von der des Mobs abweicht. Heutzutage kann man bereits durch einen geschmacklosen Witz zur Zielscheibe werden. Morgen reicht dazu vielleicht schon ein berechtigter, aber unpopulärer Vorschlag wie etwa eine Steuer auf zuckerige Limonaden oder eine Frauenquote für Aufsichtsräte.



Online-Moralwächter „sorgen wahrscheinlich für mehr Zensur im Netz – vor allem, weil alternative Stimmen und Meinungen verstummen werden“, schrieb Hardaker in einer E-Mail. „Es gibt Menschen, die andere einschüchtern, bedrohen und letztlich zum Schweigen bringen und das alles als "Freie Meinungsäußerung" rechtfertigen, ohne überhaupt zu merken, wie ironisch das ist, da sie ja aktiv Zensur betreiben.“



Schon heute bringen die Denunzianten ihre Opfer fast unmittelbar zum Schweigen. Sacco hat ihre Social-Media-Konten gelöscht und ist damit eher die Regel als die Ausnahme. Doch die Rachefeldzüge des Mobs bringen nicht nur jene zum Schweigen, die einen Fehler gemacht haben, sondern schüchtern auch andere so ein, dass sie es nicht mehr wagen, die Stimme zu erheben. Saccos Erlebnisse sind ein Warnsignal für alle anderen, dass Abweichungen von der diffusen, aber strikt verteidigten Moral des Mobs nicht toleriert werden. Jeder kann sagen, was er will, solang es der Masse gefällt.



Reaktionen im Netz wirken sich auf das reale Leben aus



„Anders als bei Abschreckungsmethoden außerhalb des Internets gibt das öffentliche Anprangern einzelnen Menschen oder Gruppen die Möglichkeit festzulegen, was innerhalb eines bestimmten (sub-)kulturellen Kontexts akzeptabel ist und was nicht“, erklärte Dr. Whitney Phillips, Mitarbeiterin der soziologischen Fakultät der Humboldt State University, die sich mit Internetkultur befasst, im Dezember für „The Awl“. „Doch sie legen nicht nur Standards fest – gleichzeitig werden auch alle bestraft oder mit Strafen bedroht, die von der zuvor festgelegten Norm abweichen.“



Die spontane Reaktion der selbsternannten Moralhüter wirkt sich auch offline aus, da die Meinung von Freunden, Arbeitgebern und sogar Richtern durch die Vorverurteilung durch die Masse geprägt wird. Die Moralapostel im Netz „untergraben letztendlich echte Gerichtsprozesse, da eine objektive Beurteilung so kaum noch möglich ist“, warnt Hardaker. Der Grundton des Massenzorns, egal ob rational oder irrational, kann sich auf die Festlegung der angemessenen Strafe auswirken.



Auch Firmen werden von den digital erhobenen Mistgabeln schnell beeinflusst. Sacco hatte zum Beispiel schon vor ihrem Kommentar über Afrika eine Reihe beleidigender Tweets gepostet, darunter auch ein Verweis auf einen „erotischen Traum mit einem Autisten“.



Auch wenn das nicht ganz so geschmacklos ist wie die Aussage, die sie letztlich den Job gekostet hat, hat sich ihr Arbeitgeber nicht um diese unangebrachten Kommentare gekümmert, bis einer davon schließlich überall öffentlich bekannt wurde.



Wenn nur ein paar Stunden lang Gerüchte und Beschimpfungen online kursieren, kann das schon dazu führen, dass ein Angestellter für eine Firma nicht mehr tragbar wird oder ein Angeklagter für den Richter zum Verbrecher wird. Statt „unschuldig bis zum Beweis der Schuld“ heißt es heute „unschuldig bis zum Zorn des Online-Mobs“.





Übersetzt aus der Huffington Post USA von Bettina Koch. Hier geht's zum Original.
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Published on January 08, 2014 01:03
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