Polyphem oder die Naivität


Ein Auge auf die Gäste...

Die Zyklopen sind uralte, mächtige und einäugige Riesen, die sich angeblich nichts aus Göttern oder Menschen und deren Gesetzen machen. Einer von ihnen, der naive Polyphem, lebt selbstbestimmt auf einer Insel, ähnlich wie Peter Pan, ein anderes tödliches Kind, doch er züchtet Schafe und stellt Käse her. Im Grunde ist er ein Bauer.
Eines Tages trifft Polyphem bei sich zuhause eine Truppe von fremden Kriegsheimkehrern an, zynische Veteranen des Trojanischen Krieges, die sich nicht nur an seinen Käse-Vorräten gütlich tun sondern sein Heim auch noch nach verborgenen Schätzen durchsuchen und sein Vieh stehlen wollen. Er sperrt die Eindringlinge in seiner Höhle ein und verspeist sie der Reihe nach. Jeden Tag fällt ein Gefährte dem Hunger des Riesen zum Opfer. Da er sich nicht an die Gesetze der Götter gebunden fühlt, ist der Verzehr von Menschenfleisch für ihn kein Frevel.

Der Anführer der Veteranen, der sich “Udeis” nennt, “Niemand” bietet ihm Wein an, den Polyphem gutgläubig annimmt. Betrunken schläft er ein und wird von den Soldaten geblendet, die ihm einen glühenden Holzpfahl ins Auge rammen, bevor sie die Flucht ergreifen, wobei sie die Schafe des Riesen ebenfalls rauben - denn das war ja ihr Plan.

Polyphem, ein Sohn des Meergottes Poseidon, ist ein legendäres Monster, dessen herausragende Eigenschaft weder seine Einäugigkeit noch seine Körperkraft sind, sondern seine Naivität, mit der er daher gesagte Namen für bare Münze nimmt und mit der er Geschenke akzeptiert - genau wie ein Kind stopft er sich voll, nimmt dabei keine Rücksicht auf Menschen, ist dabei aber vollendet tierlieb. 

Ebenfalls wie ein Kind, ruft er nach seiner Verletzung den Vater um Rache zur Hilfe. Poseidon, einer jener Götter, die Polyphem verachtet (wie sehr muss Sigmund Freud diese Geschichte geliebt haben!) verfolgt Odysseus und verwehrt ihm für viele Jahre die Heimkehr nach Ithaka. Auch die (keineswegs naiven) Trojaner nahmen übrigens ein todbringendes Geschenk des Odysseus an und verloren damit den Krieg. 

Es ist dieser gemischte und gegensätzliche Hintergrund, der Polyphem für mich zu einem der wichtigsten Monster der Weltliteratur macht, ein Hinterwäldler mit direktem Draht in die Götterwelt, ein Menschenfresser und Tierfreund, ein Riese mit kindlichem Verstand. Seine Niederlage gegen Odysseus verbindet ihn mit der Zauberin Kirke, den Kikonen, König Priamus und sogar dem Gott der Unterwelt Hades, denn Odysseus ist angeblich ein Nachkomme des Gottes Hermes, Schutzherr der Kaufleute und der Diebe...



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Published on February 01, 2013 10:07
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über Bücher, Filme und Publikationen

Albrecht Behmel
Albrecht hat in Heidelberg und Berlin Geschichte, Philosophie und Politik studiert. Seit 1999 ist er Autor für Film, Print, Radio und TV, unter anderem für UTB, SR, ARTE, Pro7Sat1 und den RBB. Er lebt ...more
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