The same procedure
Wir folgen der in diesem Blog hinlänglich etablierten Tradition: Kein Silvester ohne diese Bilder. Es handelt sich beim Folgenden also um die Erinnerung an eine norddeutsch-ausgelassene Silvesterparty in einem kleinen Ort bei Hamburg. Der Abend ist mittlerweile bereits zwei Jahrzehnte her und längst nicht mehr wahr. Deutlich erkennt man die sogenannte Hanseaten-Ekstase in meinem Blick.
Denn man muss gerade die süddeutschen und besonders die rheinländischen Leserinnen und Leser gelegentlich daran erinnern: wir hier oben im Norden, wir sind gar nicht so. Wir können auch ganz anders:
Gleicher Abend, nur einen Meter weiter: Die Herzdame, liebreizend wie stets und dabei auf diese einmalige nordostwestfälische Weise in strahlender Herzlichkeit gut gelaunt:
So viel zur Tradition.
„Nun starb ein Jahr. – Man lästre nicht am Grabe!
Doch: Wenn das Leben einer Schule gleicht
Dann war dies Jahr ein schwachbegabter Knabe
Und hat das Ziel der Klasse nicht erreicht.“
(Mascha Kaléko, Nekrolog auf ein Jahr)
Nein, es war, wie es hier hin und wieder anklang, kein gutes Jahr für mich, auch nicht für uns. Ich glaube nicht, dass ich jemals so desolat an einem Silvesterabend angekommen bin, so erschöpft, gestresst, ausgelaugt und innerlich gealtert. Nein, es war kein gutes Jahr.
Neulich sah ich auf Twitter wiederholt die Frage, was denn nun gut gewesen sei in diesem Jahr, da haben viele Menschen findige Antworten geschrieben, sogar erfrischend einfache und direkte, denn natürlich passieren weiterhin dauernd gute Dinge. Ich habe bemüht wie stets darüber nachgedacht, hatte aber spontan keine einzige gute Idee. Also keine jedenfalls, die auch in erlebbarer Zeit beschreibbar und überhaupt mitteilbar war. Bei einigen gute Entwicklungen muss ich – ich habe mir das Wort hier drüben ausgeliehen – ungewohnt intimitätskleinlich sein und mich leise und verhalten freuen.
Allerdings bin ich vermutlich sowieso eher für das Beobachten von Kleinigkeiten bekannt, nicht für die großen Knallernachrichten. Also nenne ich zwei Marginalien, sie sind beide aus der letzten Zeit. Ich nehme sie symbolisch für das, was gut war und ist, trotz allem. Zum einen schickte mir da gerade eine Leserin einen kurzen Brief, handgeschrieben, sehr gute Handschrift, und zwar war das keine Blogleserin. Sondern eine, die meine Kolumne in den Lübecker Nachrichten mag. Eine, ich bin da recht sicher, ältere Dame, und sie schrieb da, ich darf das hoffentlich wiedergeben, sie würde die Texte ab und zu ausschneiden und weiterreichen. Was mich daran erinnerte, dass ich im Heimatdorf der Herzdame vor langer Zeit einmal Blogtexte von mir auf einem Klo gefunden habe, die lagen da zur Unterhaltung bereit. Das eine war zur Anfangszeit der Geschichten und Notate hier, das andere war in der letzten Woche. Ich freue mich enorm über so etwas, lange und gründlich und ganz untypisch für mich. So etwas trägt und hält und treibt an, wie auch die eingeworfenen Münzen im virtuellen Hut, die Geschenksendungen, die netten Zeilen dabei, die freundlichen Verlinkungen, eventuell auch die Rückmeldungen von Kunden nach eingesandten Texten. Also kurz, das Schreiben, das war und ist das Gute. Immer wieder, immer weiterschreiben. Vielen Dank für all die positiven Reaktionen und Kommentare, auch wenn die Inhalte hier nicht immer erbaulich waren.
Zum anderen war ich mit der Herzdame gestern im Garten. Wir waren schon länger nicht mehr da, denn es ist Winter und wir kommen sowieso zu nichts. Wir wollten aber doch einmal Laub harken, nachdem der Rasen jetzt in der etwas widerlich anmutenden Zwischenwärme zum Jahreswechsel nicht mehr gefroren ist. „Laub harken“ ist bei uns ein Ausdruck mit magischen Folgen, wir können das als Formel aussprechen und damit die Söhne augenblicklich verschwinden lassen. Sie haben sofort andere Verabredungen, sie entdecken auf einmal längst vergessen geglaubte soziale Verpflichtungen neben den Bildschirmen, sie fliehen dahin, sie verblassen aus dem Bild, in wenigen Minuten vollzieht sich das.
Wir fuhren also nur zu zweit in die winterlich verlassenen Gärten auf der Insel. Die sie umfließende Bille lag noch unter einer Eisschicht, Gänse und Enten saßen vereinzelt darauf. Spätnachmittägliches Nebelgewölk wehte sachte wie Hauch darüber hin, am Ufer standen die unbelebten Lauben neben den leeren Beeten und kahlen Hecken in der frühen Dämmerung, es war ein fantastischer Anblick. Die alte Trauerweide am Ufer zupfte mit dürren Fingern Watte aus den wabernden Schwaden. Niemand war da, nur wir waren in der weitläufigen Kolonie. Das stimmt sicher nicht, es ist immer noch jemand da, es werkelt immer noch jemand irgendwo, es sitzt immer noch jemand irgendwo in einer Hütte, aber wir sahen niemanden. Es gab da nur uns beide auf dem Rasen vor der Laube. Hauchfeiner Sprühregen in der Luft, es war nass und kalt und wintertrüb. Eine große Horde Krähen zog über uns marodierend von Baum zu Baum, krähend und kakelnd und kreischend. Es gab enorm viel zu besprechen bei denen und dauernd musste dabei der Standort gewechselt werden. Die Fichte, die Eiche, die Birke, fünfzig oder hundert Vögel gar zogen alle Viertelstunde einen Baum und eine Parzelle weiter, stritten sich wieder und wieder um die besten Plätze auf den Ästen und waren infernalisch laut dabei, sie hatten viel Grund, sich anzuschreien. Wenn sie zwischendurch doch einmal weit genug weg waren, weil ein Baum ganz hinten in der Anlage oder am anderen Ufer der Bille sie plötzlich interessierte, hörten wir die leere Stille des Winterabends, in der die Tropfen aus der Dachrinne an der Laube in die Regentonne fielen, wo sie mit einem endlos wiederholtem und dezembrig dezenten Pling ein Loch in das Eis schlugen. Dann doch wieder die krachmachende Krähenhorde.
Die Herzdame harkte Laub, ich ging herum und suchte nach Fotomotiven, man muss sich Arbeit auch sinnig aufteilen. Die Krähen fielen in die mächtige Eiche auf der brachliegenden Nachbarparzelle ein, nein, sie erschienen dort dramatisch und düster drohend wie in einem Horrorfilm, das beschreibt es besser. Wir sahen hoch und sahen dabei auch diesen anderen Vogel auf einem der unteren Äste. Ein großer Vogel, eine ungewöhnlich breite Statur. Ich dachte erst, da sei eine Katze in den Baum geklettert, eine ziemlich große Katze allerdings. Aber es war eine Eule, die dort aß, eine Waldohreule vermutlich, wir haben das später nachgelesen. Weder die Herzdame noch ich haben bisher jemals in freier Wildbahn eine Eule gesehen, wir standen staunend. Große Eulen sind ein erhabener Anblick. Unbewegt saß sie da im Krähenkrawall. Dann flogen die Krähen auch schon wieder rastlos weiter, und die Eule flog ohne zu zögern gleichzeitig ab und unter ihnen her, als sei dieser Krähenschwarm ihre übliche Begleitung, ein routiniertes Arrangement. Sie gingen auch alle genau gleichzeitig in die Kurve um die Pappeln herum … wie geht das zu. Wie unfassbar elegant sie flog, was für ein Bild das war, diese riesige, geräuschlose Eule unter den lärmenden Krähen. Als ich vor Monaten bei uns über dem Spielplatz den Bussard gesehen habe, da flog der auch unter den Krähen herum, ist das ein Zufall? Was machen die da, die großen Greifvögel, haben die ein Abkommen mit dem Gelichter?
Diese Eule dort im Baum jedenfalls. Man geht in den Garten, man erwartet absolut nichts, nur das Wintergrau, die Leere, den Regen, die frühe Dämmerung, die Kälte, die Nässe, die Ödnis, den Rasen, das welke Laub und den Kompost. Und dann sitzt da diese riesige Eule. Das war auch sehr gut. Auch über so etwas kann ich mich lange freuen. Immer überall genau hinsehen.
Kommen Sie gut rüber, bewahren Sie unbedingt Haltung, denken Sie geradeaus, ich schließe mit den besten Wünschen zum Neuen Jahr. Wir sehen uns drüben, wenn Sie mögen.
***
Sie können hier Geld in den allerdings nur virtuell vorhandenen Hut werfen, ganz herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber ganz klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch, die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel. Merci!
Maximilian Buddenbohm's Blog
- Maximilian Buddenbohm's profile
- 2 followers
