Langsam, locker, langweilig
Lieber Herr Strunz,
was ist Laufen "wie im Flow"? In diesen Flow
wollen Sie mir doch hineinhelfen mit dem ganzen dritten Teil des
Buches. Oder soll ich nur so tun als ob? Ist das vielleicht das ganze
Geheimnis dieses sogenannten Flow, grinsend so tun als ob?
Im ersten Drittel fangen wir zu laufen an. Auf einem Foto joggen Sie auf uns zu, mit einer hübschen Dame neben sich. Die Botschaft: Laufen ist sexy. Aber auch: Laufen ist künstlich, denn so gleichmäßig braun wie Sie werde ich draußen nicht. Blickdiagnose: Solarium. Vor dem Hautkrebs haben Sie keine Angst, dem laufen Sie davon. Laufen ist Ihre Wunderpille. Im Vorwort und immer wieder beten Sie es vor: Laufen schützt vor jeder Krankheit. Wissenschaft, schreiben Sie. Falsch, habe ich Ihnen vor zwei Wochen erklärt in der Rezension zu Ihrem anderen Buch "Der Schlüssel zur Gesundheit." Auf der Laufstrecke trifft man nur gesunde Leute, das stimmt - weil die Kranken daheim bleiben. Vorsortierte Stichprobe. Solche Studien sagen nichts über Ursache und Wirkung. Aber diesmal nennen Sie gar keine Studien oder Quellen. Was Sie an Zahlen behaupten, soll ich Ihnen einfach glauben.
Zwischen Ihren Texten haben Sie Seiten frei gelassen, wo der Leser ein Lauftagebuch anlegen kann. Vom eBuch führen Links zu Ihrer Internetseite, ich soll mir die Blätter ausdrucken. Ich habe stattdessen ein Notizbuch geführt. Wenn ich 28 Tage lang laufe, schreiben Sie, bekomme ich einen Lauf-Reflex, so wie viele Leute einen Frühstücksei-Reflex haben. Den Unterschied zwischen einem Reflex und einer Gewohnheit sollten Sie kennen, Herr Dr. med.
Während ich vier Wochen lang jeden Tag mitschreibe, ob ich gelaufen bin (17 Tage ja, 11 Tage nein), lese ich weiter: Läufer-Gene. Der Mensch ist zum Laufen gemacht. Sie vielleicht. Ich nicht, sonst bräuchte ich keinen Schwerlast-Sport-Bh. Sie schreiben es selbst: Das wichtigste Läufer-Gen liegt auf dem Y-Chromosom. Sie erzählen von unseren Vorfahren, die einer Gazelle nachliefen, bis sie umfiel. Das waren die Männer. Die Frauen sind höchstens gegangen, mit einem Baby auf der Hüfte. Die meiste Zeit waren sie schwanger oder stillten oder beides. Da läuft es sich schlecht. Ich habe selber eine kleine Tochter in der Wiege. Ich wache auf, wenn sie ihre Morgenmilch fordert. Dann springe ich ohne Frühstück in die Laufschuhe, wie Sie es vorschreiben, jogge los - und komme nicht weit. Blutzucker im Keller nach dem Stillen. Nach ein paar Metern wird mir schwarz vor Augen. Zwei Tage habe ich es probiert, dann habe ich die Laufschuhe umgeparkt. Sie stehen jetzt nicht mehr neben dem Bett, sondern draußen an der Tür. Erst wird gefrühstückt, dann laufe ich los.
Aber halt, Sie bringen ein Rezept für einen Läufer-Smoothie. Also doch nicht nüchtern loslaufen? Der Smoothie besteht aus Limette, Avocado, Arganöl, Kokoswasser, Stevia, Feldsalat, Eiweißpulver und Minze. Ohne zu probieren kann ich Ihnen sagen, dass ich davon brechen müsste. Avocados sind ekelhaft, und Stevia schmeckt scheußlich. Drückt als Süßstoff außerdem den Blutzucker noch weiter hinunter und macht Heißhunger. Nur Feldsalat und Minze kann ich selber anbauen, die anderen Zutaten kommen mindestens aus Italien, wenn nicht aus den Tropen.
Langsam, locker, lächelnd, schreiben Sie, jeden Morgen eine halbe Stunde. Langsam und locker geht, lächelnd - nicht so sehr. In einer halben Stunde komme ich aus dieser Kleinstadt nicht heraus. Asphalt, Bürgersteig, Schotter in einem kleinen Park, immer die gleichen Straßen und Gassen. Blass am Horizont die Sierra Guara, wo ich vor vier Jahren einen Trail gelaufen bin. Da will ich wieder hin. Vor allem will ich hier raus.
Muss ich laufen? Darf ich nicht Rad fahren? Da sehe ich mehr Landschaft in einer halben Stunde. Oder schwimmen, das schont die Gelenke. Oder tanzen, da darf ich hübsche Kleider tragen. Ich möchte wandern, oder Volleyball spielen, oder eine Kampfsportart lernen. Sie schreiben, ich muss laufen. Langsam, locker, langweilig. Deshalb nur 17 von 28 Tagen.
In der ersten Woche lief ich viermal und bekam Seitenstechen. Ich war außer Form. Bei dem Test, den Sie empfehlen, dem Harvard-Step-Test, hatte ich trotzdem hundert Punkte am ersten Tag, wie ein Spitzensportler. Was stimmt da nicht?
Vier Wochen sollte ich einfach bloß laufen. Jetzt geht es los: Zeit und Strecke messen, Puls aufschreiben, sonstige Biofaktoren mit ins Tagebuch, Technik verfeinern. Kleine Schritte soll ich machen. Hängte sich der Nurmi nicht an fahrende Züge, damit seine Schritte länger wurden?
Eine Pulsuhr soll ich mir kaufen. Gut, mit einem neuen Spielzeug habe ich die Motivation, wieder hinauszujoggen in die ewig gleiche Stadt. Vier Läufe dauert es, bis ich den geheimnisvollen Grenzpuls gefunden habe. Dann stelle ich meine Pulsuhr auf ein Intervall ein: 145-160 Schläge. Am nächsten Morgen laufe ich wieder los. An der Haustür schalte ich die Uhr ein. "Piep!", schallt es sofort: Lauf! Ich möchte mich gemütlich warmlaufen, aber: "Piep!" alle zehn Sekunden. Keuchend lege ich einen Gang zu. "Piep!" Erst, als es bergauf geht, ist die Uhr zufrieden. Ich biege rechts ab auf eine ebene Straße. Fünf Minuten lang darf ich in Ruhe laufen. Aber an der zweiten Steigung schallt es: "Piep piep!" Zu schnell! Ich bremse. "Piep piep!" Ich bremse weiter. Aber so langsam kann ich den Hügel nicht hinaufzockeln, dass die blöde Pulsuhr Ruhe gäbe. Ich drehe um, laufe gemütlich bergab, schon bin ich der Uhr zu langsam. Muss ich an der Ampel warten, piept sie. Sticht mich die Lebensfreude und ich hüpfe im Park mit Anlauf über einen Stein, piep-piept sie. Wenn es nach der Uhr ginge, liefe ich Runden um den Sportplatz. Zehn Runden kosten einen IQ-Punkt.
"Iss roh, dann wirst du froh. Iss kalt, dann wirst du alt." Ja, vorzeitig alt. Rohkost-Veganer sind so unterernährt, dass ein Drittel der Frauen nicht menstruiert. Schon nach 1-3 Wochen werden die Immunzellen im Blut weniger. Rohkostler haben geringere Knochendichte, essen zu wenig Eiweiß und ihnen fehlt Vitamin B12. (Quellen hier, hier, hier, hier und hier.) Vegan soll ich nicht werden, schreiben Sie, sondern rohes Fleisch und rohen Fisch essen. Salmonella lässt grüßen. Vor einer halben Million Jahren fing der Mensch zu kochen an. Daran dürfte sich unser Körper angepasst haben. Wir haben einen Teil der Verdauung in den Kochtopf ausgelagert. Mit ein Grund, warum wir uns ein so großes, energiefressendes Gehirn leisten können.
Wer so weit gekommen ist in Ihrem Buch, der braucht das Laufen wie die Luft zum Atmen, schreiben Sie. Sport-Sucht ist eine Krankheit, wussten Sie das? Oft geht sie mit einer Essstörung einher, Magersucht oder Orthorexie. Mit beidem scheinen Sie mich anstecken zu wollen. Mich langweilt es immer noch, das Joggen. Ich soll eine Liste machen, schreiben Sie, mit Argumenten dafür und dagegen. Meine dafür-Liste ist kurz, die dagegen-Liste hat auf dem Papier nicht Platz. Ich lese weiter.
Noch ein Rezept: Rohkost-Eiweißriegel aus teurem Lupinenschrot, ekelhafter Mandel-"Milch", künstlichem Eiweißpulver und teurem Kokosblütenzucker. War Zucker nicht böse? Der Riegel wird bei 160 Grad gebacken. Doch nicht roh.
Serotonin vom Laufen macht glücklich, Serotonin von Schokolade ist schädliches Pseudo-Glück. Klebt am Serotoninmolekül ein Etikett, auf dem steht, wo es herkommt?
Sie werben für Quinoa und Amarant, diese angeblichen Superkörner. Die südamerikanischen Indios pflanzten Quinoa früher auf die schlechten Böden, wo sonst nichts wuchs. Auf guten Boden pflanzten sie Mais und Kartoffeln, die geben zehnmal so viel Ertrag. Heute säen große Agrofirmen Quinoa auf die guten Böden. Die Ernte schippern sie zu uns ins Reformhaus. Und die kleinen Leute haben weder Quinoa noch Mais noch Kartoffeln. Fortschritt.
Sie trinken aus Pfützen, schreiben Sie, als Mini-Impfung fürs Immunsystem. Haben Sie dazu eine Studie für mich, Herr Strunz? Stärkt Dreck das Immunsystem, oder muss man ein gutes Immunsystem mitbringen, um davon keinen Durchfall zu bekommen?
Faszienrollen. Haben unsere Vorfahren in der Savanne das gemacht? Mit denen argumentieren Sie sonst immer, diesmal nicht. Ausführliche Studien zum sogenannten Faszientraining gips noch nicht, so weit ich weiß. Schicken Sie mir Links, wenn Sie welche haben.
Noch ein Kochrezept: Gemüsesuppe. Wie bringen Sie dafür so viel Enthusiasmus auf?
Ich soll beim Laufen meditieren, schreiben Sie. Warum? Millionen Jahre der Evolution haben mir ein Hirn gegeben, das denken kann. Und ich soll es abschalten? Meditation entstresst, schreiben Sie. Tut sie nicht, Metastudie hier. Die meisten Untersuchungen darüber sind schlecht gemacht, noch eine Meta-Analyse hier. Meinen Blutdruck senken will ich auf keinen Fall, ich habe 90/50, während ich diese Rezension schreibe.
Ich soll ein Unsinnswort vor mich hin denken, schreiben Sie: iamon, iamon, iamon. Mein Linguistenhirn sucht Ähnlichkeiten und findet jamón, das spanische Wort für Schinken. Jamón, jamón, jamón. Jetzt habe ich Hunger.
Es wird nichts mit dem Flow, Herr Strunz. Die Pulsuhr liegt in einer Schublade, und da wird sie vorerst bleiben. Ich gehe jetzt nicht mehr laufen, sondern zum Krav Maga. Das entstresst.
Hochachtungsvoll
Christina Widmann de Fran
Der kleine Laufcoach: Laufen wie im Flow von Dr. med. Ulrich Strunz
erschienen: 2017 bei Heyne
Ich danke für ein Rezensionsexemplar.
ISBN: 978-3-453-60441-4
Erhältlich auf Amazon.de.


