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Ich stand vor dem Gebäude, das ich einst für das schönste in der ganzen Stadt gehalten und das den Mittelpunkt meines Lebens gebildet hatte: vor dem zerstörten Schauspielhaus am Gendarmenmarkt.
Von allen Theateraufführungen hat sich in meinem Gedächtnis am stärksten Lessings »Nathan« eingeprägt.
Mehr als drei Monate war ich damals in Berlin. Ich habe keinen meiner Schulfreunde gefunden – von meinen Angehörigen, die allesamt vertrieben oder vergast worden waren, ganz zu schweigen. Ich hatte keinerlei Kontakte, niemanden kannte ich in der Stadt meiner Jugend.
Nur: Wer sollte mir etwas anbieten, da mich niemand kannte?
Auf die Doppelaufgabe in London sollte ich in den beiden zuständigen Ministerien vorbereitet werden – im Sicherheitsministerium auf den Geheimdienst, im Außenministerium auf den Konsulardienst. In der Geheimdienst-Zentrale hatte ich einstweilen als Sektionsleiter und etwas später als stellvertretender Abteilungsleiter zu arbeiten.
Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß ich von dieser Materie keine Ahnung hätte. Das sei ihm keineswegs neu – meinte er nicht ohne Ironie –, doch seien wir alle in dieser Hinsicht Anfänger. Ob ich etwa meine, daß die Parteimitglieder, die unlängst Minister geworden seien, irgend jemand auf ihre Aufgabe vorbereitet hätte? In einer Pionierzeit müsse man improvisieren. Mit einiger Intelligenz könne man es schon schaffen; er habe volles Vertrauen zu mir.
Zehn Minuten später saß ich im Zimmer des sowjetischen Beraters. Er war ein freundlicher, ein liebenswürdiger Mensch und nicht ohne Humor.
So wurde ich vorübergehend zum Instrukteur des polnischen Geheimdiensts. Ich dachte mir einen kleinen Lehrgang aus, der, glaube ich, eher kurzweilig als nützlich war.
Besonders amüsant oder gar aufregend ist der Konsulardienst übrigens nicht.
Überdies haben mich die Ideen des Kommunismus schon sehr früh interessiert. Sie waren damals, kurz nach 1945, äußerst attraktiv, ja, sie hatten für mich, ähnlich wie für viele Intellektuelle nicht nur in Polen, sondern auch in Frankreich, in Italien und anderen west-europäischen Ländern, etwas Bestechendes. Sicher, für Aufmärsche, Kundgebungen und Demonstrationen war ich nie zu haben. Aber mich hat die Möglichkeit fasziniert, an einer weltweiten, einer universalen Bewegung teilzunehmen, einer Bewegung, von der sich unzählige Menschen die Lösung der großen Probleme der Menschheit versprachen.
Denn mich beeindruckte, mich begeisterte seit meiner Jugend ein Stück klassischer deutscher Prosa aus dem neunzehnten Jahrhundert, ein Aufruf, dessen Pathos, dessen Rhetorik, dessen Bilderreichtum mir imponierten, mich sogar bestrickten: das »Kommunistische Manifest« von Karl Marx und Friedrich Engels.
Ich sollte in London unter einem anderen Namen amtieren, da mein Familienname Reich für die Tätigkeit als Konsul nicht recht passend schien.
Daß ich möglichst schnell in London sein wollte, hatte auch mit meiner Arbeit in Warschau zu tun. Sie machte mir nicht viel Spaß, weil ich an ihrem Sinn und ihrer Nützlichkeit zweifelte:
Zunächst war ich Vize-Konsul, später wurde mir die Leitung des Generalkonsulats anvertraut, eines Amtes mit immerhin rund vierzig Angestellten.
Ich wurde zum Konsul ernannt. Mit meinen 28 Jahren war ich der jüngste Konsul in London. Das Amt funktionierte tadellos, zumal ich zwei tüchtige Stellvertreter hatte, zwei Juristen, die mir die Arbeit erleichterten.
Sie informierten uns regelmäßig über die polnische Emigration, deren Zentrum sich in London befand, dem Sitz der polnischen antikommunistischen Exilregierung.
Dort wurden ausgewählte deutsche Kriegsgefangene von englischen und deutschen Intellektuellen, die man als Lektoren oder Dozenten bezeichnete, geschult und umerzogen: Die Kriegsgefangenen sollten in ihre Heimat als möglichst gute Demokraten zurückkehren.
Doch mein weiterer beruflicher Weg hatte mit der Qualität meiner Arbeit so gut wie nichts zu tun.
So waren die Kommunisten jetzt offiziell die Alleinherrscher des Landes: Auf die relativ liberale Periode der ersten Nachkriegszeit folgte die Zeit des Stalinismus in Polen.
Mit meinen 29 Jahren hatte ich schon sehr viel erlebt, in meiner Biographie fehlte es nicht an Höhen und Tiefen, an Glanz und Elend. Meine politische Karriere war endgültig gescheitert – und mit gutem Grund.
Beinahe über Nacht war ich geworden, wovon ich in meiner Jugend geträumt hatte: ein Kritiker. Und ich war, obwohl ein Anfänger, doch schon ein freier Schriftsteller.
Hermann Hesse und Heinrich Mann,
mit ihr

