Der Untergeher in Legendäre Länder

Jan 16, 2024 Peter rated it really liked it · review of another edition

Shelves: austria, deutsche-gegenwartsliteratur

157 Seiten und kein einziger Absatz, ja nicht einmal ein Luftholen. In einer einzigen langen Suade spricht sich der Ich-Erzähler seinen Frust von der Seele. Die Handlung ist denkbar karg. Der Ich-Erzähler erhält ein Telegramm mit der Einladung zur Beerdigung seines Studienfreundes Wertheimer, der Selbstmord begangen hat. Er nimmt an der freudlosen Prozedur teil und reist dann in Wertheimers „Jagdhaus“ in Oberösterreich, um nach hinterlassenen Dokumenten zu forschen.

In diesem Zeitraum erinnert si ...more

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Jan 14, 2024 Alexander Carmele rated it it was amazing · review of another edition

Shelves: owned-books, favorites

Schonungsloses Selbstzerfleischen führt zum humoristischen Befreiungsschlag. Lachen statt Untergangsstimmung.

Mit „Der Untergeher“ leitet Bernhard 1983 seine letzte Werkphase ein, die mit seinem Opus Magnum „Auslöschung. Ein Zerfall.“ ihren Höhepunkt 1986 findet. Dazwischen arbeitet er sich mit „Holzfällen“ (1984) am Theater, mit „Alte Meister“ (1985) an der Malerei ab, bevor er mit „Auslöschung“ die Kultur als Ganzes in das Räderwerk seiner Selbstgespräche zieht und zermalmt. Die Selbstzerfleisc Schonungsloses Selbstzerfleischen führt zum humoristischen Befreiungsschlag. Lachen statt Untergangsstimmung.

Mit „Der Untergeher“ leitet Bernhard 1983 seine letzte Werkphase ein, die mit seinem Opus Magnum „Auslöschung. Ein Zerfall.“ ihren Höhepunkt 1986 findet. Dazwischen arbeitet er sich mit „Holzfällen“ (1984) am Theater, mit „Alte Meister“ (1985) an der Malerei ab, bevor er mit „Auslöschung“ die Kultur als Ganzes in das Räderwerk seiner Selbstgespräche zieht und zermalmt. Die Selbstzerfleischung beginnt Bernhard in „Der Untergeher“ mit der Musik:

„Glenn und die Rücksichtslosigkeit, Glenn und das Alleinsein, Glenn und Bach, Glenn und die Goldbergvariationen, dachte ich. Glenn in seinem Studio im Wald, sein Haß auf die Menschen, sein Haß auf die Musik, sein Musikmenschenhaß, dachte ich. Glenn und die Einfachheit, dachte ich, das Gastzimmer betrachtend.“

Der Ich-Erzähler erreicht auf dem Weg zum Anwesen seines Freundes Wertheimers, von dessen Beerdigung er kommt, ein Gasthaus, die„Dichtelmühle“, und lässt seine Erinnerungen und Gedanken um das Musik-Genialische kreisen, das in der Gestalt Glenn Goulds personifiziert wird. Der Ich-Erzähler möchte die aphoristische Hinterlassenschaft seines Freundes besichtigen, bevor diese vernichtet wird, muss aber nach dem Eintreffen in Traich einsehen, dass er zu spät gekommen ist. Wertheimer hat selbst dafür gesorgt, dass von seinem schriftlichen Werk nichts mehr übrigbleibt:

„Er wisse nicht, was für Zettel ich meinte, sagte der Franz, um dann doch von der Tatsache zu berichten, daß Wertheimer an dem Tag, an welchem er sich in Salzburg, im Mozarteum, sagte er, das Klavier bestellt habe, also einen Tag, bevor die vielen Leute nach Traich gekommen sind, die Traich mehr oder weniger verwüstet haben, ganze Haufen von Zetteln im sogenannten unteren Ofen, also im Speisezimmerofen, verbrannt habe. Er, Franz, habe seinem Herrn dabei geholfen, denn die Zettelstöße seien so groß und schwer gewesen, daß Wertheimer selbst sie nicht hinunterschleppen habe können.“

Die Bernhardsche Selbstzerfleischung dreht sich um die Körperlosigkeit, die diaphane Anti-Präsenz der Intellektuellen, die sprechen und sprechen, schreiben und schreiben, um im Werk eine Dauerhaftigkeit zu erlangen, die leiblich gesehen unmöglich bleibt. Immer wieder wird über das Schwächliche Wertheimers, über die Verletzbarkeit des Ich-Erzählers, über das Dahinraffen des Körpers lamentiert, nur Glenn Gould, der einzig wirklich Erfolgreiche des Trios, besaß eine gewisse, sich selbst behauptende Körperlichkeit:

„[Glenn] war tatsächlich ein athletischer Typus, viel stärker als Wertheimer und ich zusammen, das hatten wir gleich wieder gesehen, als er daran gegangen war, eine ihm, wie er selbst sich ausdrückte, im Klavierspiel hinderliche Esche vor seinem Fenster umzuschneiden, eigenhändig. Er sägte die Esche, die einen Durchmesser von mindestens einem halben Meter hatte, allein um, ließ uns gar nicht an die Esche heran, zerkleinerte die Esche auch gleich und schichtete die Scheiter an der Hausmauer auf, der typische Amerikaner, hatte ich damals gedacht, dachte ich.“

Das thema probandum Bernhards, inwiefern Kunst die körperliche Tätigkeit ersetzt, zieht sich durch sein ganzes Werk. Das Ergebnis lautet: Kunst ersetzt nie die materielle, wechselwirkende Tätigkeit. Sie zerfleischt sich im Anspruch, Realität zu werden, und gibt sich der Lächerlichkeit und Vergeblichkeit preis. In „Der Untergeher“ wird dies anhand der Wirtin, dem Holzknecht und Tiraden auf den sozialistischen Materialismus ausexerziert – und doch zerstören sich die Schriftstücke wie von selbst und der Ich-Erzähler beginnt seinen Text über Glenn Gould immer wieder von neuem, da das Geschriebene als Geschriebenes nun einmal nicht ausreicht:

„Denn immer glauben wir, wir sind authentisch und sind es in Wirklichkeit nicht und glauben, wir sind konzentriert und sind es in Wirklichkeit nicht. Aber natürlich hat diese Erkenntnis bei mir immer dazu geführt, daß schließlich keine meiner Schriften erschienen ist, dachte ich, nicht eine einzige in achtundzwanzig Jahren, in welchen ich mich mit Schriften befasse, allein mit der Schrift über Glenn befasse ich mich seit neun Jahren, dachte ich.“

In sich selbst unterhöhlender Konsequenz rattert, schreibt, rädert der Ich-Erzähler gegen seinen eigenen Lebensentwurf, gegen seine Angst, Behäbigkeit, gegen seine Fremdgelenktheit und Fremdgesteuertheit, ohne sich jedoch befreien zu können. Er tritt auf der Stelle. Er kommt nicht vorwärts und hasst sich dafür. Der Roman „Der Untergeher“ wendet dies sprachlich durch slapstickartige Offensichtlichkeit ins Humoreske: In der schonungslosen Darstellung dieser ‚Sackgassenmenschen‘ invertiert sich das Thema zu einem Befreiungsschlag. Lachen ist möglich und Leben trotz oder gerade mit Kulturpessimismus auch. ...more

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Jan 13, 2024 Babette Ernst rated it really liked it · review of another edition

4,5*
Der Untergeher ist die scherz oder boshafte Beschreibung für den Musikstudenten Wertheimer, einen angehenden Pianisten, der mit dem Erzähler und mit Glenn Gould gemeinsam studiert. Durch die Begegnung mit dem Genie Gould erkennt Wertheimer die Unmöglichkeit der beste Klavierspieler zu werden und stellt sein ganzes Leben in Frage. In einem Gasthaus sinnt der Erzähler über seinen Freund und über das Streben eines Künstlers, der Beste zu sein, nach. Glenn Gould, hier eher als Symbol eines Musik 4,5*
Der Untergeher ist die scherz oder boshafte Beschreibung für den Musikstudenten Wertheimer, einen angehenden Pianisten, der mit dem Erzähler und mit Glenn Gould gemeinsam studiert. Durch die Begegnung mit dem Genie Gould erkennt Wertheimer die Unmöglichkeit der beste Klavierspieler zu werden und stellt sein ganzes Leben in Frage. In einem Gasthaus sinnt der Erzähler über seinen Freund und über das Streben eines Künstlers, der Beste zu sein, nach. Glenn Gould, hier eher als Symbol eines Musikgenies mit wenig Bezug zu seinem realen Leben, ist vor allem durch die Interpretation der Goldbergvariationen bekannt geworden. Als Wertheimer Gould dieses Stück während des Studiums spielen hört, hat er das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten verloren. Dem Erzähler geht es ganz ähnlich, ergibt wenig später das Klavierspielen auf.

Bernhard schreibt den Text im Stil eines barocken Musikstücks, benennt zu Beginn die Themen, die dann in zahlreichen Variationen immer wieder aufgegriffen werden. Die Gedanken des Erzählers kreisen um die Themen mit einer einzigartigen Sprachmelodie. Der Mittelteil ist z. B. mit den Ausdrücken „sagte ich, dachte ich“ wie in einem Rhythmus durchsetzt. Ich fand das ungeheuer beeindruckend, aber die Wiederholungen haben mich auch etwas genervt. Die Struktur des Buches lenkte vom Inhalt ab, außerdem konnte ich keiner der drei Personen wirklich nahe kommen. Über einiges habe ich jedoch nach der Lektüre noch lange nachgedacht. War Wertheimer nur deshalb so unglücklich, weil er nach Perfektion strebte, die er nicht erreichen konnte oder spielte seine Familiengeschichte die größer Rolle? War er so, wie ihn der Erzähler sieht, der sich mit seiner Erzählung manchmal von Schuldgefühlen reinwaschen will oder war er in Wirklichkeit ganz anders? Wirkte der Spitzname Untergeher wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung? Kann man Künstler sein und nicht nach den Sternen greifen wollen?

Nachdem ich Bernhards Biografie bei Wikipedia gelesen hatte, wurde mit klar, dass er im Buch eigene Erfahrungen mitverarbeitet hat. Er selbst hat am Mozarteum Gesang studiert, hat den Gesang aber wohl aufgegeben und sich dem Schreiben gewidmet. So ist dieses Buch eine persönliche Auseinandersetzung mit dem Perfektionsanspruch eines Künstlers, denke ich.
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Dec 28, 2023 Rudi rated it liked it · review of another edition

Ein typischer Bernhard-Text. Warum Glenn Gould Teil des Personals sein musste, ist mir nicht klar geworden.

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May 11, 2020 Markus rated it really liked it · review of another edition

Shelves: österreich, thomas-bernhard

"So gesehen, ist Wertheimer, indem er sich für den Horowitzkurs angemeldet hat, in seine Lebensfalle gegangen, dachte ich."

Der namenlose Erzähler öffnet gerade die Tür zum Gasthaus und tritt über die Schwelle. Wertheimer, sein ehemaliger Kommilitone im Horowitzkurs, den sie gemeinsam mit Glenn Gould im Mozarteum Salzburg vor vielen Jahren besucht haben, und der sich erst vor einigen Tagen in Zizers bei Chur in der Schweiz erhängt hat, nur wenige Meter entfernt vom Haus seiner Schwester, die ihn, "So gesehen, ist Wertheimer, indem er sich für den Horowitzkurs angemeldet hat, in seine Lebensfalle gegangen, dachte ich."

Der namenlose Erzähler öffnet gerade die Tür zum Gasthaus und tritt über die Schwelle. Wertheimer, sein ehemaliger Kommilitone im Horowitzkurs, den sie gemeinsam mit Glenn Gould im Mozarteum Salzburg vor vielen Jahren besucht haben, und der sich erst vor einigen Tagen in Zizers bei Chur in der Schweiz erhängt hat, nur wenige Meter entfernt vom Haus seiner Schwester, die ihn, nachdem er sie in Wien in der Kohlmarktwohnung jahrelang tyrannisiert und gedemütigt hat, von einem Tag auf den anderen verlassen hat, um einen reichen Schweizer Chemieindustriellen, Duttheimer, zu heiraten und zu diesem nach Zizers bei Chur in die Schweiz zu ziehen, und dessen (Wertheimers) Jagdhaus in Traich der Erzähler in einem spontanen Einfall, der ihm auf der Rückreise vom Begräbnis in Zizers bei Chur in der Schweiz gekommen ist, noch einmal besuchen wollte, ist der Untergeher und Sackgassenmensch, der, nachdem er Gould die Goldbergvariationen in der Goulds eigensten und genialsten Interpretation spielen gehört hat, nur mehr seinem ureigenen Untergeher- und Sackgassenmenschenmechanismus folgen konnte und sich geradezu naturgemäß aufhängen musste, dachte er.

(Man verzeihe mir mein stümperhaftes Plagiat Berhardscher Ausdrucksweise, aber das Wort Sackgassenmenschenmechanismus hat mich so fasziniert, dass ich es unbedingt und dieserart anbringen musste.)

Jedenfalls denkt er, während er gerade die Tür zum Gasthaus öffnet und über die Schwelle tritt, über Wertheimer und Gould, was diese gedacht haben, über seine eigenen Gedanken damals wie heute, und nach etwa einem Drittel des Buches tritt er dann tatsächlich in die Wirtsstube ein, wo er weiter über die, die Genannten betreffenden Umstände nachdenkt, während er lange auf die Wirtin wartet.

Ich lese die Romane Bernhards in chronologischer Abfolge. Dieser, der siebte Roman, ist vielleicht der Beginn seines Spätwerks. Jedenfalls fällt mir auf, wie hier die formale Gestaltung in einer unglaublichen Perfektion noch mehr als früher in den Vordergrund tritt. Der Sprachfluss ist streng durchkomponiert und erinnert mich an ein modernes minimalistisches Musikstück mit seinen monotonen, aber subtil variierten Wiederholungen, in dem man die Veränderung kaum wahrnimmt und das sich trotzdem in der Bewegung fortlaufend verändert.

Diese formale Betonung sorgt für gepflegten Kunstgenuss, geht jedoch auf Kosten des Kontexts, wie ich finde. Bernhards Tiraden auf die Abgründe der Bürgerlichkeit sowie des flachen Landes, auf die Brüchigkeit von Kunst und Kultur, läuft Gefahr, als Gestaltungselement attitüdenhaft zu werden. Die Radikalität der Aussage, die Wucht des Aufruhrs und die Unberechenbarkeit, die seine vorallem frühen Werke auszeichnen und Betroffenheit erzeugen, das geht mir ab, auch wenn diese Entwicklung ein Zeichen gewonnener Reife ist.
Die Matthäuspassion und die Goldbergvariationen zugleich, das kann man - naturgemäß - nicht haben. ...more

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