Corpus Delicti: Ein Prozess in Legendäre Länder

May 03, 2020 Hendrik rated it it was ok

Juli Zeh entwirft in Corpus Delicti das dystopische Szenario eines diktatorischen Hygienestaats. Eine Gesellschaft in der Gesundheit zum absoluten Wert erklärt und als Normalzustand des Lebens definiert wird. Das Primat der Gesundheit bestimmt das gesamte gesellschaftliche Leben, sowohl im Verhältnis Bürger-Staat als auch im höchstprivaten Bereich des Individuums. Der Staat ist jeglicher Rechenschaftspflicht enthoben, gewährt dafür im Gegenzug seinen Bürgern Schutz vor Krankheit, Schmerz und Lei Juli Zeh entwirft in Corpus Delicti das dystopische Szenario eines diktatorischen Hygienestaats. Eine Gesellschaft in der Gesundheit zum absoluten Wert erklärt und als Normalzustand des Lebens definiert wird. Das Primat der Gesundheit bestimmt das gesamte gesellschaftliche Leben, sowohl im Verhältnis Bürger-Staat als auch im höchstprivaten Bereich des Individuums. Der Staat ist jeglicher Rechenschaftspflicht enthoben, gewährt dafür im Gegenzug seinen Bürgern Schutz vor Krankheit, Schmerz und Leid. Das Buch erfährt im Zuge der aktuellen COVID-19-Krise neue Popularität. Allerdings sehe ich trotz einiger Parallelen (Abstandsgebote oder das Tragen von Mundschutz) weniger Gemeinsamkeiten als Unterschiede. In der Gesellschaft von "Corpus Delicti" ist Gesundheit reiner Selbstzweck. Es gibt darin zum Beispiel keine akute Gefahrenlage einer Pandemie, aufgrund welcher ein staatliches Handeln zur Gefahrenabwehr geboten wäre. Zwar werden Freiheitsrechte momentan eingeschränkt, aber von einer Diktatur oder einer Aushebelung der Demokratie kann (zumindest bei uns in Deutschland) kein Rede sein. Gleichwohl berührt der Roman wichtige grundsätzliche Fragen, wie zum Verhältnis von Allgemeinwohl gegenüber dem Eigeninteresse, oder zur Abwägung zwischen Freiheit und Sicherheit. Gedanken, die auch in der aktuellen Situation von Interesse sind.

Problematisch finde ich allerdings die literarische Umsetzung des Themas. Die ist meiner Meinung nach völlig misslungen. Die Figuren und Dialoge wirken holzschnittartig und wenig überzeugend. Der Autorin war es offenkundig ein wichtiges Anliegen ihre Thesen zu vermitteln. Das merkt man. Leider hat sie darüber das Erzählen vergessen. Als Schüler hätte ich mich über so ein Buch gefreut. Alle Argumente werde einem wie auf dem Präsentierteller angeboten. Keine Schwierigkeiten daraus eine Interpretation zu basteln, die jeden Deutschlehrer glücklich machen würde. Mir war das einfach insgesamt zu platt, wovon auch die wenig subtilen Anspielungen zeugen. So gibt es eine terroristische Vereinigung RAK (=RAF), Antimethodismus (=Antikapitalismus), den Tod eines 27-jährigen Studenten Moritz Holt = (Benno Ohnesorg), um nur einige zu nennen. Am Ende wurde noch ein bisschen bei Heinrich Bölls "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" abgekupfert. Die pädagogische Intention dahinter ist eindeutig, was aber zulasten der Erzählqualität geht. Juli Zeh kann mit Sicherheit besser schreiben. Das hat sie mit dem großen Erfolg von Unterleuten bewiesen. Dagegen bietet "Corpus Delicti" zwar einige interessante Diskussionsanregungen, aber keine gute Geschichte.
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Feb 17, 2025 Sana rated it liked it

Shelves: dystopia, female-authors, adult, philosophical, in-german-language, audio-book, drama

,,Das Leben ist ein Angebot, das man auch ablehnen kann.”

Corpus Delicti dürfte wohl eines der interessantesten Bücher dieses Jahres sein, und das nicht unbedingt wegen seiner Prosa-Form, die von den Dialogen her eher an ein Theaterstück erinnert, sondern wegen seines grundsätzlichen Themas.
In diesem Buch lebt die Protagonistin Mia Holl nämlich in einem Deutschland, das gemäß ,,der Methode'' regiert wird. Hierbei ist die Gesundheit des Bürgers das höchste Gut, und alles wird daran gesetzt, di ,,Das Leben ist ein Angebot, das man auch ablehnen kann.”

Corpus Delicti dürfte wohl eines der interessantesten Bücher dieses Jahres sein, und das nicht unbedingt wegen seiner Prosa-Form, die von den Dialogen her eher an ein Theaterstück erinnert, sondern wegen seines grundsätzlichen Themas.
In diesem Buch lebt die Protagonistin Mia Holl nämlich in einem Deutschland, das gemäß ,,der Methode'' regiert wird. Hierbei ist die Gesundheit des Bürgers das höchste Gut, und alles wird daran gesetzt, diese regelmäßig zu überprüfen und zu optimieren. Alkohol zu konsumieren oder sein Kind fahrlässig draußen in der Kälte spielen zu lassen, gilt sogar als Straftat. Jeder ist dazu angehalten, Sport zu treiben und sich gesund zu ernähren. Eigentlich eine utopische Vorstellung, müsste man meinen, und diese Ansicht vertritt Mia auch. Doch als ihr Bruder Moritz eines Verbrechens angeklagt wird, dessen er nicht schuldig ist, und sich deswegen das Leben nimmt, beginnt sie, ,,die Methode'' anzuzweifeln: Kann ein von Menschen entwickeltes System überhaupt fehlerlos sein? Und wie richtig ist es, jemandem seinen Lebensstil vorzuschreiben, auch wenn die Intention eine gute ist?

Wäre das Buch zuzeitend des Corona-Ausbruchs 2020 erschienen, hätte es sicherlich sehr hohe Wellen geschlagen, denn Juli Zeh entwirft in ihrer utopischen Dystopie eben genau so eine Gesundheitsdiktatur, wie sie von Querdenkern in der verpflichtenden Impfung gesehen wurde. Denn es sind schließlich auch dieselben Argumentationsketten, die in dem Buch immer wieder aufbereitet werden: Ein System, was daraus ausgelegt ist, den Menschen vor jeglichen Krankheiten zu beschützen, kann rational gesehen doch gar nicht schlecht sein. Ganz im Gegenteil, besonders in Zeiten von Populismus und emotionalisierenden Worten wäre eine von Vernunft geprägte Politik doch das beste, was uns passieren könnte. Warum sonst, wenn nicht aus Unvernunft und Geldgier, sind Tabak und Alkohol immer noch verfügbar? Schließlich schaden sie uns. Und das einzige Gegenargument bis auf die millardenfachen Einnahmen ist die Aussage ,,Weil ich das eben so will!'' vom Konsumenten. Ein trotziger Ausruf, dem trotz aller Vernunft stattgegeben wird.
Von daher bewegt sich Zeh in eine wirklich interessante Utopie/Dystopie, in der zugunsten der Informationssammlung der Mensch natürlich gläsern ist, es allerdings eben dafür sorgt, dass die Gesellschaft alles in allem gesund ist. Kaum jemand durch Krankheiten stirbt. Und man eigentlich den Kopf schütteln müsste bei dem trotzigen Gegenargument, was auch Mias Bruder Moritz vorbringt, als er noch lebt und Mia ihn dafür rügt, eine Zigarette zu rauchen: ,,Ich will es aber eben so!''. Selbstbestimmung, die so weit reicht, dass man sich krankmacht? Ist diese Irrationalität nicht eigentlich etwas, dem nicht nachgegeben werden müsste?

Juli Zeh geht dieser Frage in vielen philosophischen Dialogen auf den Grund, und lässt dabei sehr schnell durchschauen, dass ihre Charaktere nicht wirklich solche sind, sondern als Stellvertreter für spezifische Meinungen in so einer Welt dienen. Mia Holl macht dabei noch die größte Entwicklung durch als eine anfängliche Befürworterin der Methode (kein Wunder, schließlich ist sie Biologin), die jedoch durch den Tod ihres Bruders Dinge beginnt infrage zu stellen und die sich auch dagegen sträubt, in ihrer Trauer Hilfsangebote anzunehmen. Sie möchte einfach nur in Ruhe gelassen werden, und alleine das gilt schon als Auflehnung, sodass der Staat sie eher ins Auge fasst. Dabei lässt Juli Zeh dem Leser offen, ob er Mia dabei als vernünftig interpretiert oder ob auch Gefühle und Irrationalitäten als Argumente gelten können. Ich selbst muss gestehen, dass ich vielfach daran gescheitert bin, ihre Widerspenstigkeit zu verstehen, wenn man davon ausgeht, dass der Staat ihr lediglich helfen möchte, und sie vielleicht sogar vor ihr selbst schützen möchte. Doch in unserer Zeit, der Realität, gilt schließlich immer noch das ,,Recht auf Verwahrlosung''. Darf ein Mensch sich selbst zerstören, wenn es sein freier Wille ist?
In vielen, sehr ausschweifenden Gesprächen demonstriert die Autorin dabei das Für und Wider, und hat dabei eine so eloquente und hochgestochene Wortwahl, dass man sich fast jeden hier fallenden Satz als schönes Zitat markieren könnte. Punktgenau kann sie die Ansichten ihrer verschiedenen Figuren zusammenfassen, lässt ihre Geschichte hauptsächlich durch Dialoge lebendig erscheinen und stellt dabei die Menschlichkeit der Menschen, die Vernunft des Systems und wie beides sich ergänzt und beißt nebeneinander.

Die Gespräche werden ab und an allerdings etwas repetitiv, und würde Zeh nicht so viele davon schreiben, wäre das Buch noch dünner geworden. Der Prozess rund um Mia und wie sie darauf beharrt, Moritz hätte die Straftat nicht verübt, obwohl eindeutige Beweise gefunden waren, ist interessant und hat auch einen logischen und guten Twist, der einen sehen lässt, dass auch in einem vernunft-basierten System Fehler auftreten. Oder vielleicht der Mensch schlichtweg nicht bereit für ein auf Vernunft basierendes System ist. Trotzdem zieht sich die Geschichte durch diese langen Gespräche sehr und sorgt durch die fast theater-artige Form, dass man emotional nicht wirklich ins Innenleben der Charaktere involviert wird. Es wirkt fast schon klinisch erzählt, so rational wie eben ,,die Methode'' ist. Aber für Aufregung oder viele Emotionen sorgt das beim Leser nicht.
Zwar schüttelt man im Laufe der Geschichte immer wieder den Kopf und lernt, dass selbst vernunftbasierte Regimes sich in Propaganda verlieren und mit aller Mühe ihr Gesicht wahren wollen, allerdings ist das Ganze so unaufgeregt, dass man ohne großes Interesse weiterliest. Das Ende ist ziemlich gemein und hat eine tolle Botschaft, reißt einen aber ebenfalls nicht vom Hocker.

Das Buch hat eine grandiose und kontroverse Idee, die den Leser ordentlich zum Nachdenken anregen. Es fallen einem nicht wirklich Gegenargumente zu dem hier präsentierten, auf Rationalität bauendem System ein, außer eben das Selbstbestimmungsrecht des Menschen, auch wenn es bis ins Unvernünftige und Destruktive geht. Daher ist das eines der gesellschaftskritischen Bücher, die einem aufgrund ihrer Grundidee im Gedächtnis bleiben werden. Die Geschichte selbst jedoch ist durch die distanzierte Erzählweise an manchen Stellen recht uninteressant, und vermag einen zwar durch die Dialoge zum Denken über seine eigene Sicht anzuregen, wird irgendwann jedoch repetitiv. Vielleicht hätte es der Autorin nicht geschadet, selbst ein wenig mit der Emotionalität zu schreiben, mit der die Menschen in ihrem Buch ,,unvernünftig'' handeln, zumindest hätte man so eine intensivere Bindung zu den Charakteren aufbauen können. Da sich deren Interaktionen jedoch so pompös und gestellt lesen wie in einem Theaterstück, ist das leider nicht gegeben. So bleibt die Philosophie von Corpus Delicti zwar nach dem Lesen lange im Kopf, die Story selbst jedoch nicht. Wäre sicherlich aber interessant für jeden Deutsch-LK!

Gesamtwertung: 3,5/5 Punkte ...more

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