HHhH in Legendäre Länder

Dec 27, 2019 Peter rated it it was amazing · review of another edition

Shelves: history

Darf man so über die Zeit des Nationalsozialismus schreiben, ja geradezu schwadronieren? Diese Frage wurde in meiner Lesegrupp sehr gegensätzlich beantwortet. Meine Meinung ist: Ja, insbesondere, wenn man ein nicht ganz 40er jähriger Franzose ist, der eher zufällig mit einem geschichtliches Ereignis in der besetzten Tschechoslowakei konfrontiert wurde, dem Attentat auf Reinhard Heydrich, Chef des Reichssicherheithauptamtes, Spiritus Rex des Massenmordes an den Juden, stellvertretender Reichsprot Darf man so über die Zeit des Nationalsozialismus schreiben, ja geradezu schwadronieren? Diese Frage wurde in meiner Lesegrupp sehr gegensätzlich beantwortet. Meine Meinung ist: Ja, insbesondere, wenn man ein nicht ganz 40er jähriger Franzose ist, der eher zufällig mit einem geschichtliches Ereignis in der besetzten Tschechoslowakei konfrontiert wurde, dem Attentat auf Reinhard Heydrich, Chef des Reichssicherheithauptamtes, Spiritus Rex des Massenmordes an den Juden, stellvertretender Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, die „Bestie von Prag“.

Die Art wie Binet über diese Begebenheit, deren geschichtliches Umfeld und handelnde Personen schreibt, ist völlig andersartig als jeder historische Roman, den ich bislang gelesen habe. Ist dies überhaupt ein Roman oder nicht vielmehr ein Sachbuch? Das Buch schwankt zwischen diesen Polen. Zum einen ist Binet um größtmögliche Faktentreue bemüht, zum anderen aber möchte er den Leser eintauchen lassen in die Geschichte, quasi mit einer webcam auf Zeitreise. Diesen Anspruch haben viele Autoren. Das Besondere an Binet ist, dass er seine Leserinnen und Leser den Zwiespalt zwischen verbürgter geschichtlicher Wahrheit, wahrscheinlichem Ablauf und erdachten Szenen und Dialogen miterleben lässt. Wir erfahren vom inneren Kampf des Autoren, von seiner Freude über neue Quellen und den Frust seiner Umwelt, der er mit seiner Besessenheit von dem Attentat auf die Nerven geht.

In der Folge ist Binet ein Buch gelungen, dass die grausame Effizienz der einen, und den heroischen Mut und die Opferbereitschaft der anderen Seite in unserer Zeit erfahrbar macht; für Leser, die keinen Zeitzeugen mehr zuhören können, die geprägt sind vom schnellen Szenenwechsel der digitalen Welt und für die die Zeit des Nationalsozialismus, des Krieges und Völkermordes häufig nur ein Lernthema ist, das keinen emotionalen Anknüpfungspunkt bietet. Leider drängt uns Binet manchmal seine eigene Person allzu sehr auf und übertreibt es mit seiner Schnodderigkeit. Trotzdem, dies ist ein Buch, dem ich viele (junge) Leser wünsche, die es mit dem gleichen Gefühl beenden wie der Autor: Meine Geschichte ist zu Ende und mein Buch sollte es auch sein, aber ich entdecke, dass es unmöglich ist, mit einer solchen Geschichte fertig zu werden.

Februar 2020, Nachtrag: Kurz nach der Lektüre stieß ich per Zufall auf den Film "Die Macht des Bösen" (engl. The Man with the Iron Fist), der auf HHhH basiert. Auch, wenn man Teile des Buches wiedererkennt ist er keine gute visuelle Wiedergabe. Der Versuch den halbdokumentarischen Stil des Buches in einen Spielfilm umzusetzen ist meiner Meinung nach gescheitert. Lediglich die Darstellung Heydrichs konnte mich einigermaßen überzeugen. ...more

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Apr 20, 2024 Babette Ernst rated it it was amazing · review of another edition

Das Buch hat mich zerstört…

Wie kann man einen Roman über ein historisches Ereignis auch noch möglichst genau und wahr schreiben und trotzdem so viel der persönlichen Betroffenheit hineinlegen?

Reinhard Heydrich, der Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, einer der Hauptinitiatoren des Holocaust, der Schlächter von Prag, stirbt ein paar Tage nach einem Attentat, in der Folge wird das Dorf Lidice als Vergeltung dem Erdboden gleichgemacht - so weit ist die Geschichte bekannt. Wenig bekannt sind die Das Buch hat mich zerstört…

Wie kann man einen Roman über ein historisches Ereignis auch noch möglichst genau und wahr schreiben und trotzdem so viel der persönlichen Betroffenheit hineinlegen?

Reinhard Heydrich, der Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, einer der Hauptinitiatoren des Holocaust, der Schlächter von Prag, stirbt ein paar Tage nach einem Attentat, in der Folge wird das Dorf Lidice als Vergeltung dem Erdboden gleichgemacht - so weit ist die Geschichte bekannt. Wenig bekannt sind die Attentäter, deren Hintergründe und der Verrat. Doch in Sachbüchern oder in Wikipedia ließe sich vieles dazu herausfinden, wenn es nur darum ginge.

Binet verbindet seine Recherchen zu dem Fall mit ganz persönlichen Betrachtungen zum Schreiben, speziell zum Schreiben über historische Personen und Ereignisse, zum Umgang mit Wahrheit und Fiktion, mit seinen persönlichen Erlebnissen bei der Recherche und mit anderen Ereignissen und Gedanken, die an den jeweiligen Teil der Handlung passen. Das erzeugte in mir ein ganz starkes Gefühl der Nähe, aber nicht nur zum Autor, sondern auch zur Situation in Prag. Ich musste manchmal das Lesen unterbrechen aus Angst vor dem, was zwangsläufig kommen musste, und hatte doch genauso die absurde Hoffnung, diesmal könnte das Unausweichliche ausbleiben. Aber immer gelingt es Binet, zu berühren, ohne pathetisch oder gefühlsduselig zu sein, Erkenntnisse und Einsichten zu liefern, statt Tränen.

Der Stil, mal sehr persönlich, mal flapsig, mal historisch genau und dann wieder voll spöttischer Bemerkungen, unterscheidet sich deutlich und wohltuend von anderen Büchern über den Zweiten Weltkrieg und die Nazizeit. Als junger Franzose hat er einen Blick, den die deutschen Autoren mit ihrem Respekt und ihrer Scham vor der deutschen Vergangenheit nicht haben können, der aber in jeder Hinsicht wohltuend war.

Nicht nur eine wunderbare Verbindung zwischen meinen beiden Lesevorhaben für 2024, französische Autoren und Osteuropa-Literatur, sondern auch allgemein eine große Leseempfehlung.
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Dec 05, 2019 Hendrik rated it really liked it · review of another edition

Shelves: war

HHhH oder vom verzweifelten Versuch keinen Roman zu schreiben – so hätte das Buch auch heißen können. Eigentlich steht das 1942 verübte Attentat auf Reinhard Heydrich im Mittelpunkt der Handlung. Heydrich war ein führender SS-Mann und in seiner Funktion als Leiter des Reichssicherheitshauptamt (RSHA), sowie als stellvertretender Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, einer der Hauptverantwortlichen für die industriell organisierten Massenmorde im Dritten Reich. Seinen Spitznamen "Die blonde Best HHhH oder vom verzweifelten Versuch keinen Roman zu schreiben – so hätte das Buch auch heißen können. Eigentlich steht das 1942 verübte Attentat auf Reinhard Heydrich im Mittelpunkt der Handlung. Heydrich war ein führender SS-Mann und in seiner Funktion als Leiter des Reichssicherheitshauptamt (RSHA), sowie als stellvertretender Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, einer der Hauptverantwortlichen für die industriell organisierten Massenmorde im Dritten Reich. Seinen Spitznamen "Die blonde Bestie" trug er wahrlich nicht umsonst.

Im Juni 1942 verübte eine Gruppe tschechoslowakischer Widerstandskämpfer ein Attentat, bei dem Heydrich tödlich verletzt wurde. In Folge kam es zu grausamen Racheaktionen der deutschen Besatzer, bei denen ca. 1300 Menschen umgebracht und mehrere tausend Menschen verhaftet wurden. Die beiden tschechischen Dörfer Lidice und Ležáky wurden dem Erdboden gleichgemacht, nachdem die Einwohner entweder erschossen oder deportiert wurden. Eine grausame Episode aus dieser an Grausamkeiten nicht armen Zeit.

Aus diesem Stoff hätte ein x-beliebiger Schriftsteller einen interessanten historischen Tatsachenroman machen können. Nicht so Laurent Binet, dem das anscheinend zu einfach war. Sein Clou ist die Einbeziehung einer zweiten Erzählebene, auf welcher der Autor selbstkritisch seinen eigenen Schreibprozess begleitet. Er berichtet freimütig vom Ringen mit dem Material, von seinen Zweifeln und überprüft seine Herangehensweise an vergleichbaren Werken anderer Autoren.

Im Kern stellt er sich die Frage in welcher Form historische Ereignisse fiktionalisiert werden können bzw. sollten. Wieviel Freiheit darf sich ein Autor nehmen, ohne die historische Wahrheit zu verfälschen? Im Buch stellt er einmal die Frage, wieso man sich im Fall der Nazis überhaupt etwas ausdenken sollte? Die Wirklichkeit war schließlich schlimmer als jede Phantasie. So ist daraus am Ende nicht der beabsichtigte Roman entstanden, sondern eine Art Materialsammlung mit kommentierendem Werkstattbericht.

Stellt sich noch die Frage, weshalb nicht gleich einen gewöhnlichen Roman schreiben. Eine Erklärung wäre, Binet hat es versucht und ist am Stoff gescheitert. Einmal spricht er von Skrupeln, die ihn davon abhalten aus realen Menschen schlichte Romanfiguren zu machen. Doch liegt es in der Sache begründet, dass historisches Quellenmaterial immer Leerstellen aufweist. Um die psychologische Innenseite von Menschen wie Heydrich offenzulegen, böte der Roman als Genre grundsätzlich eine geeignete Form. Also warum die Ziererei von Binet?

Persönlich denke ich, Binet hat hier mit Absicht sein Scheitern am historischen Stoff inszeniert. Mit dem Ziel ein Bewusstsein für die Grenzen der geschichtlichen Wahrheit zu schaffen. Das was wir Geschichte nennen, ist letztlich immer konstruierte Wirklichkeit. Theodor Lessing schreibt dazu in seinem Buch Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen:

"Die Welt der Geschichte, sofern sie uns als Bewußtseinswirklichkeit gegeben ist, ist nie das Lebendige selbst. Der Geschichteschreiber mag, so fein und zart, so geduldig und gewissenhaft wie er will, dem Leben nachspüren; nie wird er es erreichen."

Genau das möchte Laurent Binet dem Leser vermitteln, indem er immer wieder neu im Erzählen ansetzt und resigniert abbricht. Über der intensiven Beschäftigung mit den formalen Aspekten, darf das Wesentliche aber nicht vergessen werden. Ob nun Roman oder nicht, es ist am Ende ein spannendes Buch über einen heroischen Akt des Widerstands geworden. ...more

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