Nana in Legendäre Länder

Jan 09, 2019 Hendrik rated it really liked it · review of another edition

Nana – oder Bankrott mit Zuschauer. Hans Blumenbergs Metapher vom Schiffbruch kann in leichter Abwandlung ebenso gut auf die Tragödie angewendet werden, die uns Émile Zola in prächtig schillernden Bildern präsentiert. Denn wie ein unbeteiligter Augenzeuge von der sicheren Küste aus den Überlebenskampf der Besatzung eines havarierten Schiffes beiwohnt, verfolgt man als Leser das Schicksal der kleinen Varietésängerin Nana, deren selbstzerstörerischer Lebensweg scheinbar unaufhaltsam in Richtung Ab Nana – oder Bankrott mit Zuschauer. Hans Blumenbergs Metapher vom Schiffbruch kann in leichter Abwandlung ebenso gut auf die Tragödie angewendet werden, die uns Émile Zola in prächtig schillernden Bildern präsentiert. Denn wie ein unbeteiligter Augenzeuge von der sicheren Küste aus den Überlebenskampf der Besatzung eines havarierten Schiffes beiwohnt, verfolgt man als Leser das Schicksal der kleinen Varietésängerin Nana, deren selbstzerstörerischer Lebensweg scheinbar unaufhaltsam in Richtung Abgrund weist. In diesem Sinne wird der Roman auch weniger von einer Haltung der Sympathie gegenüber eine seiner Figuren getragen, auch wenn in seltenen Momenten die emotionale Berührung gelingen mag. Doch zu oft bleibt die Motivation der Handelnden im Ungefähren, was ich am Ende etwas unbefriedigend finde. Stattdessen fasziniert die Geschichte nach meiner Einschätzung vor allem durch ihren unverhohlenen Voyeurismus. Es geht um nichts anderes als die pure Lust am Betrachten einer Katastrophe, in die eine ganze Gesellschaft aus Leichtsinn und Maßlosigkeit hineintaumelt und die man als außenstehende Betrachter ungeniert bestaunt. Eine degenerierte aristokratisch-großbürgerliche Oberschicht trifft auf Halbweltdamen aus der Unterschicht, die ein großes Stück vom luxuriösen Kuchen abhaben möchten. Die Kokotte Nana steht als Dreh- und Angelpunkt inmitten dieses verrückten Treibens, wo sich jeder so gut ruiniert wie er nur kann. Finden sich bei ihr auch zaghafte Neigungen einer Sehnsucht nach geordneten Lebensverhältnissen, unterliegen diese zarten Triebe zunehmend ihrer maßlosen Gier nach Reichtum. Unweigerlich drängt sich das biblische Bild von der großen Hure Babylon auf, wenn Nana die trotteligen Männer in ihrer Unersättlichkeit einen nach dem anderen verschlingt. Das ist dann schon mehr Karikatur, als das man noch von einem realistischen Sittengemälde sprechen könnte. Bleibt die Frage, welche Haltung man als Zuschauer dazu einnehmen sollte. Gibt man sich nur dem Genuss hin, denn amüsant ist es unbedingt dem vom sicheren Standpunkt beizuwohnen, oder soll man es als Lehrstück lesen. Ich glaube ich bevorzuge die voyeuristische Genussvariante.
...more

22 likes · Like · see review

Jan 17, 2019 Peter rated it really liked it · review of another edition

Shelves: france, classic

Die Lektüre dieses Buches fühlte sich an, wie der Besuch in einer Oper, so plakativ sind die Geschichte und ihre Hauptdarsteller. Kein Wunder, dass Nana auch szenisch umgesetzt wurde. Wie in dem sprichwörtlichen Tanz auf dem Vulkan steigern sich Nana und ihre geilen (man muss es wirklich so drastisch nennen) Verehrer immer mehr in einen Rausch, der alle in den Abgrund – den physischen oder gesellschaftlichen Tod – führen muss. Zwischen nichtssagendem Geplänkel und sexueller und finanzieller Gier ...more

19 likes · Like · see review

Mar 06, 2021 Max rated it liked it

Achtung, ein gemäßigter Spoiler ist enthalten.

Dieses Buch fair zu bewerten, ist schwierig.

Erstens haben sich die literarischen Konventionen seit der Veröffentlichung 1880 so stark verändert, dass viele erzählerische Gestaltungsmittel veraltet wirken: Etwa der personale Erzähler, der sich zwar nicht mit einer eigenen Stimme einschaltet, allerdings mehr weiß als die Figuren und deren "eigentliche" Gedanken aussprechen kann.
Da dieser belehrende Erzähler es nur mit geldgierigen, sexbesessenen, obe Achtung, ein gemäßigter Spoiler ist enthalten.

Dieses Buch fair zu bewerten, ist schwierig.

Erstens haben sich die literarischen Konventionen seit der Veröffentlichung 1880 so stark verändert, dass viele erzählerische Gestaltungsmittel veraltet wirken: Etwa der personale Erzähler, der sich zwar nicht mit einer eigenen Stimme einschaltet, allerdings mehr weiß als die Figuren und deren "eigentliche" Gedanken aussprechen kann.
Da dieser belehrende Erzähler es nur mit geldgierigen, sexbesessenen, oberflächlichen...auf jeden Fall unsympathischen Figuren zu tun hat, gibt es keine Instanz, die man als Leser zur Identifikationsfigur wählen könnte. Über Nana heißt es etwa, sie habe ein "Spatzenhirn", die meisten Personen werden als "dumm" bezeichnet.
Für eine exakte Beschreibung des gesellschaftlichen Zerfalls andererseits fehlt dem Roman die psychologische Dimension. Die Handlungen von Nana, Muffat oder Fochard wirken so - losgelöst von Motiven und dichter Psychologie - willkürlich, mitunter albern und konstruiert, um Plot-Twists zu ermöglichen.
Ob man nun Freude dabei hat, mit Nana und Konsorten von einem gesellschaftlichen Anlass zum nächsten zu ziehen (Gelage, Theater, Hochzeit, Stelldichein, Pferderennen, Essen...) muss jeder Leser selbst klären. Aktuell oder anhaltend bedeutsam erschienen mir die Themen des Buchs nicht.

Außerdem ist die Übersetzung meiner Ausgabe (von 1960) so hölzern im Stil, dass gerade zu Beginn nicht nur schiefe Sprachbilder entstehen, sondern die Kohäsion, also der Textzusammenhang flöten geht. Vielleicht gibt es eine moderne Übersetzung, ich weiß es nicht. Erforderlich scheint sie jedenfalls.

Für den Inhalt der Geschichte könnte man wohl Celine bemühen, um den Plot etwas abzukürzen. Denn den 530 Seiten Zolas kann man getrost eine Zeile Celines entgegenstellen:
"Die Möse ist die Goldgrube der Armen."
Wobei das für den Leser Nanas nur die halbe Wahrheit ist. Nicht nur Gold springt aus der Vagina dieser Edelprostituierten, sondern sämtliche Übel der Welt, letztlich der Zerfall der Gesellschaft. Besonders die letzten Kapitel drehen wüste und immer verrücktere Pirouetten der Sexmanie und symbolischen Männerschlachtung. Die oberen Zehntausend von Paris werden - man muss das so sagen - von Nana ohne Pardon in Grund und Boden und Bankrott hineingebumst, so dass ich mir gewünscht habe, das Original lesen zu können. Denn was im Original vielleicht rhythmisch und mystisch klingt, wirkt hier eher komisch.

Schön waren aber einige dichte und atmosphärische Szene, etwa beim Pferderennen oder im Theater.
Genial, wirklich großartig fand ich eine Theater-Szene, in der Muffat, der reiche und stets unsichere Adlige, sich aus eigennützigen Motiven für Nana einsetzt. Da er eine kostenpflichtige Affäre mit Nana beginnen will, muss er gegenüber dem Theaterchef Nanas Talent als ehrbare Dame vorzeigen und wirklich spielen, damit Nana diese Rolle bekommt und er mit der "ehrbaren Dame" endlich schnackseln kann. Eine Szene für die Götter, die das Buch aber nicht herausreißt. ...more

7 likes · Like · see review