Osteuropa-Literatur discussion
Eugen Ruge: Metropol
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Totentanz Kapitel 3-5
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Ulrich in seiner Mittelmäßigkeit ist eine ebenso glaubwürdige Figur. Dass er Hildes Urteil in einem Anflug von Angst, seine wahre Herkunft und Ausbildung könnte bekannt werden, unterschreibt, scheint logisch. Wahrscheinlich ist es auch seine Mittelmäßigkeit und Unauffälligkeit, die ihn die Zeit des Terrors überleben ließ. Viele, die mit Stalin feierten, die sich durch Eifer hervortaten, überlebten nicht. Pervers klingt der Wettbewerb um die meisten unterschriebenen Todesurteile am Tag bzw je Stunde, aber was in diesem Buch klingt "normal"? Wenn man mit so viel Tod konfrontiert wird und in keiner Weise versteht, was eigentlich vor sich geht, wie Ulrich selbst zugibt, kann man wohl nicht mehr emotional beteiligt sein, wenn irgendwer (hier ein Taxifahrer) um Hilfe für einen Angehörigen bittet. Aber immerhin muss er sein Nichtstun noch vor sich selbst entschuldigen. Diese ganze Rechtfertigungsszene, in der Ulrich seine Schwäche, die sich gerade auch bei der Frau am Nachmittag gezeigt hatte, in Moral umdeutet, um dann flott weitere Urteile zu unterschreiben, finde ich genial. So ist Ulrich kein Monster, sondern eine Person, die uns näher kommt, die fragen lässt: "wie hätte ich mich verhalten?" Dazu muss man sich vorstellen, welche Chance er erhielt, als er, der kleine Kaufmann aus Riga, zum obersten Richter der Sowjetunion geworden ist. An welcher Stelle hätte man selbst Gewissensbisse bekommen und was wäre dann geworden?
Stalins Toast vom 7. November sagt noch etwas aus, das in der Sowjetunion üblich war und heute in einigen muslimischen Ländern noch immer üblich ist: Sippenhaft ("Auf die Vernichtung aller Feinde, bis zum Letzten, auf die Vernichtung der Feinde und ihrer Sippschaft.") Das kam in Haratischwilis Buch ebenso zum Ausdruck. In Georgien (Russland sicher auch) hatte die Familie und die Familienehre einen hohen Stellenwert, so war es logisch, dass die gesamte Familie untergehen musste, wenn einer sie entehrt hatte. Das konnte im Westen zu der Zeit schon keiner mehr begreifen.
Der Schluss des Romans, mit den Verhaftungen ringsum Charlotte und Wilhelm, die Angst, die ständig kreisenden Gedanken um die eigene Schuld und das Rattensymbol waren noch einmal absolut gelungen. Ich bin sehr begeistert von dem Buch.

3 Tag der Verfassung
4 Moral
5 Totentanz (S. 396)