Die Weltensegler
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Ivo
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Oct 15, 2016 02:46AM

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Im Stil erinnert es mich eher an einen leicht angetrunkenen Karl May als an Jules Verne...

Das Buch zieht seinen Reiz natürlich durch unsere historisch-distanzierte Betrachtung. Die herrlich antiquierte Sprache, lokalpatriotischer Überschwang, technische Naivität. Wo hört zeitgenössischer Humor auf und fängt aus heutiger Sicht unfreiwillige Komik an? Was ist Kaiserreich-Technobabble, was der wissenschaftliche Stand der damaligen Zeit? Die Grenzen verschwimmen.
An einer Stelle beeindruckt Daiber (seiner Herkunft aus der Automobil-Region Stuttgart alle Ehre machend) sogar mit einem wahrhaft visionären Blick auf moderne Automobil-Antriebstechnik des Mars: "Von Benzinmotoren mit all ihren Übelständen wissen wir nichts. Wir haben uns die elektrische Kraft in jeder Form zu nutze gemacht."
Mit Ende von Band 1 wäre ja eigentlich schon alles gesagt. Aber wie es halt so ist, muss natürlich eine Fortsetzung her (dass das Buch nicht aus unserer Zeit kommt, erkannt man daran, dass Daiber keine Trilogie vorgelegt hat).
Der auf dem Mars zurück gebliebene Professor erlebt eine paar belanglose Abenteuer inklusive einer ziemlich uninspirierten Mini-Romanze (ja, es gibt tatsächlich eine (!) weibliche Protagonistin in diesem Buch). Diese endet ziemlich abrupt, bevor sie richtig angefangen hat, da sich die Marsianer, ... nein, Marsiten heißen sie, als edelmütig in Übelkeit erregendem Ausmaße herausstellen: Es gibt keine Heirat und konsequenterweise auch kein sonstiges Techtelmechtel, solange der Opa der Angebeteten noch lebt, denn diese „will durch die Pflichten der der Ehe nicht von der Pflege ihres Großvaters abgehalten werden“.
Irgendwann spürt auch der letzte der Schwaben den missionarische Drang, die Vorzüge der marsitischen Gesellschaft auf den Erdenbürgen in Württemberg nahe zu bringen. So lässt er sich zum Cannstatter Wasen zurückbringen, die sieben Helden feiern bei einem süffigen Schluck Wein ein fröhliches Wiedersehen….
Ein schöner schwäbischer „Schei-Fei-Schpass“, den auch Nicht-Schwaben geniessen können. Am Ende bin ich aber doch froh, dass das Büchlein eine überschaubare Länge hat.

"Ihr scheint auf Erden in allen Dingen merkwürdig weit zurück zu sein. Von Benzinmotoren mit ihren vielen Übelständen wissen wir nichts. Wir haben uns die elktrische Kraft in jeder Form zu nutze gemacht. Wie viele Schätze laßt ihr brach liegen oder vergeudet sie auf die törichtste Weise! Wir sind sparsam geworden, und nichts darf in unserem großen Haushalte verloren gehen. Vergeuder seid ihr, weil eure Natur reicher ist als die unsrige. Aber auch ihre Fülle nimmt merklich ab. Wir beobachten das schon seit Jahrhunderten durch unsere Fernrohre. Hätten wir solche kolossale Schätze an aufgespeicherter Energie, wie ihr sie in euern Meeren, in Ebbe und Flut besitzt, wahrlich, unsere technischen Leistungen, die du so sehr bewunderst, wären noch weit bedeutender. Da gäbe es wohl wenig Dinge, die uns unmöglich wären."



Reinholds Kommentar zu Ivos Review:
"Eine schöne Reszension. Ich kämpfe mich immer noch durch das Buch und ich weiß noch nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Es hat mit SF wenig zu tun, eher etwas mit Lokalpatriotismus und Weinseligkeit. Aber immerhin interessant. wie man am Vorabend des Weltenbrandes gedacht hat..."
Stephans Review:
"Technologische Reise (mit dem elektrischen Superluftschiff) zum Mars und zurück. Auf dem Mars ist alles viel besser als im Schwabenland, und da schon alles besser als im Rest der Welt. Historisch sicher interessant. Im Schreibstil erinnert es mich eher an Karl May (aber mit einer "modernen", humanistischen Religion/Philosophie) als an Jules Verne. Für mich als Neu-Cannstatter lohnt es sich schon wegen des Lokalkolorit."


Albert Daibers Marsromane "Drei Jahre auf Dem Mars" und "Vom Mars zur Erde", die in diesem Sammelband aufgenommen wurden, wurden 1910 und 1914, am Vorabend des 1. Weltkrieges, dem Weltenbrand veröffentlicht. 7 Schwaben, allesamt Professoren an der Universität Tübingen, brechen mit einem Luftschiff, der Weltensegler, vom Cannstatter Wasen in Stuttgart "nach dem" Mars auf. Dort treffen sie nach schrecklicher Müh auf die "Marsiten" einem "sittlich und geistig hochstehenden Volk, das die wackeren Schwaben im Laufe von Drei Jahren dermmaßen beeindruckt, dass sie die menschlichen Errungenschaften auf der Erde im Gegensatz dazu als minderwertig, barbarisch und rückständig betrachten. Nach drei Jahren brechen sie wieder auf gen Erde, jedoch einer bleibt zurück, weil er dem "Märchen voller Schönheit" und dem "Zauber und strahlenden Licht" nicht Abscchied nehmen will. Doch nach weiteren 11 Jahren bittet er seine marsitischen Freunde um eine Rückkehr nach Stuttgart.
Der Roman, eher ein Bericht spart sehr mit patriotischen Anspielungen auf das deutsche Kaiserreich, im Gegenteil: sowohl Autor, als auch der auf dem Mars zurückgebliebene Protagonist entsagen ihrem bisherigen Leben. Die bisherige kaiserliche Gesellschaft mit ihrer Zucht und Ordnung, ihrem Drang nach möglichst militärischen Ehren, ist Allen fremd geworden. Auch die sechs Heimkehrer fühlen sich auf der Erde nicht mehr wohl. Ihre Begegnung mit der intellektuell hochstehenden Kultur der Marsianer - vergleichbar einem ganzen Volk griechischer Dichter - hat sie für den Rest ihres Lebens verändert. Daiber könnte ein vergleichbares Schlüsselerlebnis auf seiner Südseereise gehabt haben, die zu seiner Auswanderung in diesen Jahren geführt hat.
Der Roman unterscheidet sich sehr von den optimistischen Abenteuerstoffen eines Jules Verne, obwohl er als Lobpreisung des deutschen Forschergeistes beginnt . Unbarmherzig treibt der Expeditionsleiter Stiller seine Techniker und Planer an, um das Luftschiff - den Weltensegler - pünktlich und mit seinen Plänen übereinstimmend fertigzustellen. Hier schwingt der Geist einer Ära mit, die erst knappe zwei Jahre später mit dem Untergang der Titanic als Symbol des Sieges der Natur über den Menschen und als Warnung vor dem bodenlosen Leichtsinn zu Ende ging. Spätestens in den Materialschlachten des folgenden Ersten Weltkriegs endete die Epoche letztendlich in den oft beschworenen Blut und Tränen. Der die Professoren verändernde Keil in ihrem bislang geordneten Leben ist die Zivilisation der Marsianer, der Mittel- und Wendepunkt dieses Romans.
Die Marsiten selbst sind nicht besonders beeindruckt von den intellektuellen Errungenschaften der Menschcheit. Voller Enthusiasmus berichten die Gelehrten vom Stand der friedlichen wissenschaftlichen Forschungen. Auch wenn die Fremden gerne zuhören, sind ihnen zukünftige Besucher zuwider und wenn man es auf den Punkt bringen kann, schmeißen sie die tapferen Schwaben hinaus. Für das kaiserliche Deutschland ein undenkbarer Vorgang.
Alles in allem macht der Roman/Bericht Spaß, er ist wie eine Zeitreise in eine andere Zeit, die einem ob ihrer lokalen Nähe auch wieder bekannt vorkommt. Die patriotische Ode an die schwäbischen Weine und das schwäbische Essen, die Beschreibungen des zeitgenössischen Stuttgarts, treiben einem einheimischen SF-Fan Tränen der Rührung in die Augen: So wird kaum nach der Rückkehr des verlorenen Sohnes vom Mars in den Cannstatter Kursal eingezogen, exakt die Stätte, in der 1980 der legendäre STUCON stattgefunden hat, einem der besten SF-Conventions in Deutschland.
Die Vorträge der Mars-Fahrer finden selbstverständlich in der Liederhalle statt, der Hauptbahnof ist das jetzige Metropol-Kino, doch der erwähnte Hasenberg-Tunnel ist im Laufe des letzten Jahrhunderts verschwunden.
Ein Roman, der wenig bis keine technischen Innovationen aufzeigt, aber auf der anderen Seite hat er viele Dinge vorweggenommen, die heute Tagesgespräch sind: Die Marsiten leben die "Nachhaltigkeit", obwohl das Wort noch nicht erfunden wurde, die Elektro-Mobilität ist Alltag, Wissen und Ethik ist wichtiger als Macht.
Man muss aber trotzdem sagen dass er (Daiber) nur an der Oberfläche, der auf den griechischen Idealen basierenden, aber in dieser Konstellation offensichtlich nicht lebensfähigen fremdartigen Gesellschaft, kratzt. Zu sehr mischt er die Vorzüge der marxistischen Lehren mit der beständigen Leitung der einfachen Arbeiterschichten durch eine Oligarchie sehr intelligenter Männer. Wie im realen Leben dieser Zeit spielen Frauen keine Rolle. Auch wenn sich die 7 Schwaben in diesem Paradies drei Jahre aufhalten, wird für den Leser die innere Struktur der fremden Kultur nicht erkennbar. Der Autor schwelgt im Positivem... und an den marsianischen Weinen und Speisen.
Ein Buch, zu dem man noch viel schreiben könnte...
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