Die Negerpuppe

Ich habe vor kurzem eine Mail bekommen. Der Absender entschuldigte sich im Vorfeld dafür, negative Kritik an meinem Roman äußern zu müssen, aber es gäbe da etwas, das ihm keine Ruhe lasse. In meinem Buch würde das „N-Wort“ vorkommen, und dann gleich zweimal. Ob das denn sein müsse? Dass er in Sachen N-Wort zwei und nicht fünfmal fündig wurde, verdankt er einem meiner Lektoren. Der fand das nämlich auch unschön und gemahnte zu politisch korrekter Wortwahl. Es kribbelte mich, das Tabu-Thema im Blog auszufransen.


In den Achtzigern hatte jedes polnische Kind eine “Negerpuppe”. Ihre Beliebtheit rührte wohl daher, dass sie recht billig zu produzieren war und man sie in jedem Kiosk kaufen konnte. Bewegungslos steckte sie in einem Folienbeutel, zwei schwarze Plastikschalen, so schlecht zusammengeschweißt, dass oft die Naht vom Kopf bis an den Unterleib sichtbar blieb. Der Produzent hatte der Puppe zwei blaue Äuglein reingedrückt, wie den anderen billigen Puppen auch, wen interessierte die authentische Augenfarbe, die Kinder pulten sie sowieso wieder heraus. Irgendwann lagen die Puppen löchrig im Sandkasten und wurden von Spinnen bewohnt. Farbe egal. 


Ich sehe keinen Anlass, mich zu rechtfertigen oder gar selbst zu kasteien. Meine literarische Figur ist acht Jahre alt und tauscht ihr “Negerpüppchen” gegen eine leere Haribo-Tüte. Auf Polnisch hieß so eine Puppe „Lalka Murzynek“ (Puppe Negerlein), und wie man an diesem Wort schon sieht, stammt es etymologisch nicht aus derselben Quelle wie “nigger”.


„Murzynek“ entspricht unserem „Mohr“ (von Mauren), aber wer kann sich schon was unter einer „Möhrchenpuppe“ vorstellen? Aus heutiger Sicht ist „Mohr“ natürlich auch eine rassistische Bezeichnung, aber was weiß ein Kind im Polen der 1980er Jahre über Rassismus und political correctness? Was wusste denn zur selben Zeit der durchschnittliche Deutsche darüber? Ich habe kein Sachbuch geschrieben, mein Ding ist vielleicht die Groteske, aber keineswegs die Utopie. Alles was gesagt und gedacht wird, spiegelt damalige Realitäten wider. Dem Autor die Ideologie seiner Figuren zu unterstellen ist ähnlich absurd, wie einen Schauspieler für seine Fehltritte in einer Soap zu schelten. Mehr gibt es über meine Wortwahl nicht zu sagen.



Interessanter ist da schon die Frage nach dem Rassismus der Polen in Vergangenheit und Gegenwart. Mit zurückhaltender Begeisterung stellen populäre Sachbuchautoren hierzulande fest, dass die Polen nichts von political correctness halten. Eine Randgruppe, über die man keine Witze machen dürfte, gibt es nicht, und wer postkolonialistische Kritik am beliebten Kindergedicht „Murzynek Bambo“ übt, wird bestenfalls belächelt. Linke, die so etwas lesen, quellen über vor Empörung. „Rassismus!“ lautet der vor moralischer Verachtung und Selbstgerechtigkeit triefende Vorwurf. Bei allem selbstzugeschriebenem Reflexionsvermögen wundert es bloß, dass die Geschichte des gescholtenen Polens nicht berücksichtigt wird und westliche Phänomene meinende Begriffe, die im westlichen Diskurs gebildet wurden, “Rassismus” zum Beispiel, fraglos auf eine (post-)kommunistische Gesellschaft übertragen werden.



Was man allzuschnell als Rassismus abstempeln könnte, war in Wirklichkeit Exotismus. In den grauen Betonlandschaften Polens konnte man von den „warmen Ländern“ nur träumen. Die, denen Staat und Geldnot das Reisen verwehrten, erfanden Orte wie die „Inseln Hula-Gula“, Paradiese jenseits der Landesgrenzen, wo Kokospalmen sich in den Ozean bogen und ulkig verkleidete Äffchen Südfrüchte in goldenen Schalen servierten. Soweit ich informiert war, hatten nur Märchenfiguren die Möglichkeit, nach Afrika zu reisen. Däumelinchen, auf dem Rücken einer Schwalbe, und „Koziolek Matolek“, der Ziegenbock mit dem roten Höschen.


Während wir Kinder aus Bilderbüchern von der Existenz einer rabenschwarzen Menschenrasse mit wulstigen Lippen erfuhren, deren Angehörige mit Speer in der Hand aus exotischem Gebüsch herausstierten, beklebten die Erwachsenen die Wohnzimmerwände mit Fototapeten, die ferne Ufer zeigten; ein körniger Traum, der in winzige Farbpunkte zerfiel, je näher man ihm kam. Bei all der Idealisierung war es kein Wunder, dass der „Mohrenkopf“ jedes Produkt aufwertete: Rosinen, Kakao-Kekse, Vanille-Eis.


Was hätten wir nicht alles dafür gegeben, einmal einen echten „murzyn“ zu sehen! Gut hatte es dieser Malinowski. Als Ethnologe war es ihm vergönnt, Bananenröckchen unter wild-nackten Brüsten wackeln zu sehen. Menschen, denen es gelang, einmal nach Westdeutschland zu reisen, erinnern sich heute nicht nur an die vollen Supermärkte und glatten Autobahnen, sondern auch an ihren „ersten Neger“, die Gebildeten unter ihnen daran, zum ersten Mal einen Menschen von dunkler Hautfarbe gesehen zu haben. Letztere haben vermutlich im westlichen Ausland studiert, hatten sich irgendwann an den Anblick des Dunkelhäutigen in der Bahn gewöhnt, kritische Filme und Bücher geschaut, andere Perspektiven kennengelernt. Die Polen hatten zu solchem Wissen bis 1989 keinen Zugang, weder praktisch noch theoretisch. Akademische Diskurse aus dem Westen wurden an polnischen Universitäten nicht rezipiert. Texte von sozialer Sprengkraft blieben unübersetzt, im Original konnte sie niemand lesen, man hatte in der Schule ja Russisch gelernt, nicht Englisch, nicht Französisch und schon gar nicht Deutsch. Das Wissen, das hier zu Veränderungen im Denken führen konnte, war in Polen lange Zeit blockiert. So erklärt sich der Exotismus während der sozialistischen Ära von selbst. Durch Unwissen. Mit Rassismus, der Überzeugung von der Minderwertigkeit einer Rasse und daraus resultierenden diskriminierenden Praktiken hatte dieses Phänomen wenig zu tun, nicht zuletzt, weil in Polen einfach keine Schwarzen lebten. Wer hätte sich da für wen einsetzen, wer vor wem fürchten sollen? Das Fremde und Unbekannte war so weit weg, so anders, dass man es nur als Fiktion behandeln konnte, die frei von politischem Bewusstsein war. So sehen wir in der 1984 entstandenen Kult-Serie „Alternatywy 4“ ein blackface, einen schwarz geschminkten Weißen also, der einen amerikanischen Austauschstudenten darstellen sollte. Niemand störte sich daran. Hinter dem dunkel geschminkten Gesicht steckte nicht die Absicht, sich als Weißer über Farbige lustig zu machen (wie im 19. Jahrhundert bis in die 1960er Jahre in den USA), sondern schlicht die Unmöglichkeit, einen „echten Schwarzen“ für die Rolle aufzutreiben.


 Heute sieht die Sache anders aus. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurden in Polen die ersten Schwarzen gesichtet, und der Rassismus, den wir meinen, trat unleugbar in Erscheinung. Ein Beispiel ist die Beliebtheit eines TV-Witzes, bei dem ein Farbiger, meist Mitglied der Big Band auf der Bühne, auf „negerisch“ angesprochen wird und in perfektem Polnisch antwortet. Schock! Hund am Steuer! Ein Primitiver, der sich einer komplexen Sprache bedient! Ein weiteres, viel schlimmeres Beispiel ist, dass man in Polen seinem ärgsten Feind wünscht, seine Tochter möge einen Schwarzen heiraten. Das gilt als die größtmögliche Schande. Aus unserer Perspektive sind solche Phänomene schockierend, aber man darf nicht vergessen, dass sie auch mal in Deutschland „issue“ waren. So thematisiert Fassbinder 1974 in „Angst essen Seele auf“ die soziale Unerwünschtheit romantischer Verbindungen zwischen Weißen und Schwarzen, in den USA wurde die Problematik bereits 1967 in „Guess who’s coming to Dinner“ verarbeitet.


Fazit: Political Correctness ist kein Indikator für kulturelle und moralische Überlegenheit. Sie ist geschichtlich gewachsen, hier auf günstigem Boden, dort unter hemmenden Bedingungen. Alles braucht seine Zeit. Pauschale Verurteilung ist doof. Und ich kann meine Negerpuppe von damals nicht “afro-amerikanisch” oder “dunkelhäutig” nennen, zumal sie aus pechschwarzem Plastik war. Man kann die Vergangenheit nicht rückwirkend zensieren, ohne sie zu verfälschen.



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Published on June 24, 2012 08:42
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